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Der Streit um Gleichgewicht und Hegemonie in der EuropÀischen Union

von Heinz Brill

Kurzfassung

◄ Neu am jahrhundertelangen Ringen zwischen Hegemonie und Gleichgewicht, das nach der Standardtheorie des Neorealismus eine unipolare Machtverteilung im internationalen System auf die Dauer nicht zulässt, ist die euro-atlantische Dimension, die sich am Irakkonflikt kristallisiert hat und zu Macht- und Gegenmachtbildung als Wesensmerkmal der Beziehungen zwischen der EU und den USA führte. Europa selbst stellt sich dabei nicht als ein homogener Akteur dar, weil die Interessenunterschiede der Mitgliedstaaten zu groß sind.

Nirgendwo zeigt sich Europas variable Geometrie deutlicher als in den diversen "Achsen", in denen Frankreich, Deutschland, Großbritannien, mit Abstrichen Italien, Spanien und auch Russland in immer neue Kräftekalküle gelistet werden. Der Streit um die doppelte Mehrheit zur Beschlussfassung in den europäischen Institutionen ist nur der letzte Ausfluss dieser zeitlich begrenzten Koalitionen. Eine angedachte deutsch-französische "Union in der Union" stößt nicht nur bei den kleineren EU-Staaten auf Skepsis, sondern birgt auch Konfliktpotenzial mit den USA.

Das von Paris und Berlin ventilierte "Kerneuropa"-Modell würde zwar einerseits ein Europa der zwei Geschwindigkeiten bedeuten, es andererseits aber allen EU-Staaten freistellen, den Fahrplan der Integration selbst zu bestimmen. Das Konzept ist aber nicht unumstritten, weil es die EU in Allianzen und Bündnisse zerfallen lassen könnte, deren Überwindung das eigentliche Ziel der europäischen Integration war und ist.

Weitere Ansätze zielen darauf ab, durch die Schaffung eines alternativen Machtzentrums die deutsch-französische Dominanz einzuschränken; Spaniens Angebot an Polen, eine strategische Partnerschaft einzugehen, kann in diese Kategorie eingereiht werden, gemeinsame Opposition gegen den Verfassungsentwurf inklusive. Nicht unglücklich darüber war London, das wegen der verbreiteten Euroskepsis auf Zeitgewinn spielt.

Die Anti-Irakkriegsachse Paris - Berlin - Moskau ist längst durch einen deutsch-französisch-britischen Trilateralismus ersetzt worden, dessen Koordinierungen in der Industrie- und Sicherheitspolitik den Argwohn kleinerer Staaten erweckt hat. Allerdings ist dieser Motor für die europäische Integration unverzichtbar, auch wenn Londons Engagement von den USA immer skeptischer beurteilt wird.

Andere wichtige regionale Sonderbeziehungen im europäischen Einigungsprozess betreffen die maßgeblich von Österreich geförderte Zentraleuropäische Initiative, der seit 1999 nach einigen Erweiterungen mittlerweile 16 Staaten angehören und die als wichtige Klammer zwischen EU-Mitgliedern, Beitrittskandidaten und solchen Staaten der Region dient, die in absehbarer Zeit keine Chance auf Beitritt haben. Österreichs Vorschlag zu Partnerschaften mit Nachbarstaaten fiel vor allem dort auf fruchtbaren Grund, wo die Angst vor einer deutsch-französischen Dominanz am größten ist. In Nordeuropa versuchen, Schweden, Dänemark und Finnland mit den Ostsee-Anrainern Estland, Lettland und Litauen in einer neuen Kooperationsvariante ihren Einfluss in der EU zu stärken.

Das Spannungsverhältnis von Hegemonie und Gleichgewicht ist nicht nur in der internationalen Politik, sondern auch in der EU einem ständigen Wandel unterworfen, wobei sowohl Führungsmächte als auch mittlere und kleinere Staaten einer ständig wechselnden Koalitionsbildung ausgesetzt sind. Unilaterale Strategien von EU-Mitgliedern haben dabei keine großen Erfolgschancen. Das Zusammengehen einzelner Mitgliedstaaten ergibt sich aus dem regionalen Kontext, wobei die Zusammenarbeit nicht ohne die Institutionen der EU denkbar ist. Europa braucht eine Stärkung seiner Identität und politischen Handlungsfähigkeit, um so schwierige Fragen wie die nach den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei oder dem Verhältnis zu Russland zufrieden stellend beantworten zu können. ►


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Der Streit um Gleichgewicht und Hegemonie in der Europäischen Union

Der Verfasser hat in der ÖMZ 05/02 im Rahmen der "Strategischen Allianzen in der internationalen Politik" das Problem "Unipolarität versus Multipolarität" in seinen Grundzügen dargestellt. Im Anschluss daran wies er in seinem Beitrag "Strategische Allianzen in der europäischen Politik" (ÖMZ 05/03) in einem historischen Abriss darauf hin, dass das Problem "Hegemonie und Gleichgewicht" auch in der europäischen Politik eine große Tradition hat.

Ludwig Delhio hat das jahrhundertelange Ringen zwischen Hegemonie und Gleichgewicht gültig beschrieben.(Fußnote 1/FN1) Immer dann, wenn das europäische Gleichgewicht, die Balance zwischen den großen Mächten, durch imperiale Bestrebungen gestört oder gar gewaltsam, durch Krieg, zerstört wurde, arbeiteten die anderen Mächte zusammen - gegen das Imperium und für ein neues Gleichgewicht. Die Standardversion des Neorealismus, die Balance of power-Theorie,(FN2) geht davon aus, dass eine unipolare Machtverteilung im internationalen System - sei es regional oder global - nicht von Dauer sein kann.

Das Neue an diesem Thema ist - ausgehend vom Irakkrieg - die euro-atlantische Dimension. Dieser Konflikt ist zugleich der Kristallisationspunkt einer neu strukturierten Welt mit einer Supermacht und mehreren Regionalmächten. Die Regionalmächte versuchen einerseits, über Allianzbildungen zu Gegenmachtbildungen zu gelangen, oder sich andererseits in Anlehnung an die Supermacht in einer "Special Relationship"- bzw. "Partnership in Leadership"-Rolle zu behaupten. Hierbei ist das Verhältnis der einzelnen europäischen Staaten wie der EU insgesamt zu den USA Dreh- und Angelpunkt der politischen Auseinandersetzung. Macht- und Gegenmachtbildung wurden zu einem Wesensmerkmal der Beziehungen.

Bei dem hier vorgelegten dritten Beitrag zum Thema "Allianzen" steht "Europas variable Geometrie" im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Bewertung der Positionen der einzelnen Akteure macht deutlich, dass der europäische Einigungsprozess im Hinblick auf die Finalisierung erhebliche Interessenunterschiede aufweist, dies sowohl im Binnen- als auch im Außenverhältnis der EU: im Binnenverhältnis, was die "innereuropäische Machtbalance" anbelangt, und im Außenverhältnis stellt sich die Frage, wie die Beziehungen zu anderen Großräumen und Staaten im Rahmen einer multipolaren Weltordnung gestaltet werden sollen. Geopolitische Interessen der EU wurden bisher nicht definiert.(FN3) Bestimmt wurde nur die Form, in der diese wahrgenommen werden können. Die EU stellt auch in dieser Hinsicht eine große Herausforderung an die politischen Eliten Europas dar, den "Pol" und die "Interessen" der EU als weltpolitischen Akteur zu orten.

Die Frage einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), kurz nach Europas Rolle in der Welt, stellte sich erstmals anlässlich des Maastrichter Vertrages von 1992. Die Mitgliedstaaten, heißt es darin, "enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte". Der Satz klingt inzwischen wie ein Hohn. Nicht nur die machtpolitische Rolle Europas in der Welt, sondern auch seine inneren Machtstrukturen sind heute Streitpunkt im Verfassungskonvent. In seiner berühmten Europa-Rede vom 12.5.2000 in der Berliner Humboldt-Universität sagte der deutsche Außenminister Joschka Fischer: "Der Kern des Europagedankens nach 1945 war und ist (...) die Absage an das "Prinzip der Balance of Power", des europäischen Gleichgewichtssystems und des Hegemonialstrebens einzelner Staaten, wie es nach dem Westfälischen Frieden von 1648 entstanden war." Doch genau darum geht es, wenn auch die Mittel bei der Interessenwahrnehmung sich geändert haben.

Europas variable Geometrie

Anfang des Jahres 2003 rief die französische Presse eine Achse "Paris-Berlin-Moskau" gegen den Irakkrieg aus.(FN4) Pünktlich zur EU-Osterweiterung spricht die Presse von einem "Achsenbruch" zwischen Brüssel und Moskau. Seit Anfang des Jahres 2004 hebt "Le Monde" in ihrer Berichterstattung die Achse "Berlin-London-Paris" hervor. Der neue spanische Premier José Luis Rodríguez Zapatero sucht eine engere Bindung an die großen EU-Mitgliedstaaten mit dem Ziel, ein Gegengewicht zur EU-Osterweiterung zu schaffen. Die internationale Presse sieht darin bereits eine neue Achse "Berlin-Paris mit Madrid". Welche Achse wird es nächstes Jahr sein?

Anfang des Jahres 2003 reagierten Politiker europäischer Nicht-Achsenländer auf den Zusammenschluss Paris-Berlin-Moskau mit einem Brief der Acht, in dem sie ihr Bekenntnis zum Atlantischen Bündnis bekräftigten.(FN5) Im Februar 2004 schickten Politiker aus Nicht-Achsenstaaten einen Brief der Sechs an den Präsidenten der EU. Damit wollten sie Europas "Großen Drei" den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie ihre eigenen Vorstellungen einer europäischen Wirtschaftsreform skizzierten, des Hauptthemas des trilateralen Gipfels in Berlin zwischen Kanzler Schröder, Präsident Chirac und Premierminister Blair. Welcher Protestbrief wird es im nächsten Jahr sein?

Das große Spiel namens EU-Erweiterung ist in vollem Gange. Wie es ausgehen wird, weiß niemand. Eine Vorhersage sei jedoch gewagt: Im neuen Europa wird sich die Balance zwischen großen und kleinen Staaten erkennbar verändern. Die Spannweite reicht künftig von Deutschland - in dem dann allein 18,22% der gesamten EU-Bevölkerung leben - bis Malta, das 0,08% Anteil aufbringt. An seinem Ende wird nach heutiger Beurteilung eine Art Direktorium aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien stehen, das mit Regionalkooperationen und wechselnden Allianzen verbunden sein wird.

Diese drei Führungsmächte wären v.a. Vordenker einer Neueinschätzung der Beziehungen zu Russland. Eine "Quadriga", die die drei mit Italien verbände, könnte sich besonders bei Fragen des Balkans und des östlichen Mittelmeers als geeignetes Forum erweisen. Die schon seit Jahren bestehende Barcelona-Runde, die die Staaten in Nahost und Nordafrika unter der Ägide von Spanien mit einbezieht, ist ebenfalls von großer Bedeutung.(FN6) Zur Wahrung ihres Einflusses schließen sich auch die Kleinstaaten innerhalb der EU in bestimmten Fällen zu Koalitionen zusammen. Denn will das Europa der 25 nicht erodieren, muss es auf allen Ebenen Zusammenhalt finden. Den könnten kleine Sachkoalitionen ebenso festigen wie überregionale Achsenbildungen, Dreiecke oder Vierecke. Dennoch beunruhigen insbesondere die Konstellationen von Kleinstaaten die großen Staaten Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien. Sie drängen darauf, wenigstens im Rat proportional mehr Einfluss zu bekommen - durch ein neues Abstimmungssystem. Das wiederum wird aber von den mittleren Staaten wie Polen und Spanien heftig bekämpft. Dennoch trägt in der politischen Praxis das Konzept einer "variablen Geometrie" von Staaten, die sich in verschiedenen Sphären gemeinsamer Interessen regelmäßig treffen und beraten, der neuen Realität einer sich von 15 auf 25 oder noch mehr Mitgliedstaaten erweiternden EU Rechnung.

Im Grundsatz kann im Verhältnis der europäischen Führungsmächte Frankreich/Deutschland zu den "Kleinstaaten" die Feststellung getroffen werden: Paris zeigt, der Attitüde einer Weltmacht verhaftet, traditionell wenig Respekt gegenüber kleinen Partnerländern, sondern beharrt auf dem Privileg der "Großen", über die Zukunft Europas zu entscheiden. Das ist eine französische Tradition seit Jahrhunderten. Deutschland war in den vergangenen Jahrzehnten so weise, sich dieser Strategie zu versagen und ein partnerschaftliches Verhältnis zu den kleineren Mitgliedern der Union zu pflegen. Diese Epoche scheint vorüber.(FN7)

Von Nizza nach Brüssel

Der Streit um die doppelte Mehrheit

Die Regierungskonferenz in Nizza war vom Streit um die Neugewichtung der Stimmen und Mandate in den europäischen Institutionen bestimmt. Berliner Zugeständnisse bei der Stimmengewichtung im Ministerrat wurden durch das relative Gewicht Deutschlands im EU-Parlament kompensiert. Hinter den Neuregelungen der Abstimmungen steckte ein handfester Streit um Macht, Einfluss und Geld. Allen Akteuren war klar: Politisch funktioniert die EU nur bei balanciertem Gleichgewicht. Dies zeigt auch der aktuelle Streit um den vom Konvent vorgelegten Verfassungsentwurf. Hierbei wird deutlich: Deutschland setzt weiterhin auf die in Nizza verworfene und nun vom Konvent wieder vorgeschlagene "doppelte Mehrheit". Bundesaußenminister Fischer appellierte wiederholt in seinen Grundsatzerklärungen zur Europapolitik, "im Geiste des europäischen Kompromisses zu agieren". Der Verfassungsentwurf sei die richtige Antwort auf die Herausforderungen durch die Erweiterung der Union. Die doppelte Mehrheit sei unabdingbar, weil sie die zweifache Natur der EU als Union der Staaten und Bürger deutlich mache.(FN8) Die erweiterte Union dürfe nicht von "Blockademinderheiten", sondern sie müsse von "Gestaltungsmehrheiten" regiert werden können.(FN9) In einem "Spiegel"-Interview stellte sich der derzeitige irische Ratspräsident Bertie Ahern klar hinter die Forderung nach Einführung der doppelten Mehrheit. Denn Schröders Position sei vernünftig. Tatsache sei doch: "Deutschland hat eine große Bevölkerung, Deutschland leistet den größten Beitrag in der EU - und das müsse sich im Abstimmungssystem widerspiegeln." (FN10) Kurzum - so Ahern: "Der Schlüssel für den weiteren Erfolg der EU liegt in der Annahme des Prinzips der doppelten Mehrheit." Die doppelte Mehrheit müsse einfach kommen - "und zwar im Verhältnis 50:60", wie Chirac zuletzt in Genshagen sekundierte. Gemeint ist damit, dass Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat künftig getroffen sind, wenn hinter der Zustimmung 50% der Staaten und 60% der von den Regierungen repräsentierten Bevölkerungen stehen.(FN11) Widersacher von Deutschland und Frankreich sind v.a. Spanien und Polen. Sie lehnen die doppelte Mehrheit ab, weil ihr Einfluss dann gegenüber der jetzt geltenden und auf dem EU-Gipfel in Nizza beschlossenen Regel sinken würde. Beide Länder, die jeweils etwa 40 Mio. Einwohner zählen, bestanden auf der Vereinbarung von Nizza aus dem Jahr 2000, die für sie im EU-Rat je 27, für Deutschland mit seinen 82,5 Mio. Einwohnern aber nur 29 Stimmen vorsah. "Ein krasses Missverhältnis", klagte der deutsche Bundeskanzler, das kein Deutscher verstehen werde.(FN12) Doch erinnern wir uns, wie das Problem auf dem EU-Gipfel in Nizza 2000 entstand. Das Thema des Streits war seinerzeit das gleiche wie heute: das Gewicht der einzelnen Mitgliedstaaten bei Abstimmungen im Ministerrat der EU. Die Kontrahenten waren allerdings andere: Frankreich und Deutschland. Chirac war nicht bereit, Deutschland mit seinen ca. 82,5 Mio. Einwohnern mehr Stimmen zu geben als Frankreich mit knapp 57 Mio. erhielt. Berliner Europaplaner erinnern darüber hinaus mit anklagendem Unterton, damals in Nizza habe Deutschland schließlich Polen die ominösen 27 Stimmen verschafft.(FN13) Eine andere Wahrheit bot der deutsche Bundeskanzler im Europaausschuss an: Er habe die ziemlich willkürlichen Stimmengewichte hingenommen, "um den Vertrag von Nizza und die Beziehungen zu Frankreich nicht zu gefährden." (FN14) Kein Wort von einem deutschen Geschenk für Polen, aber ein Seitenhieb auf Chirac. Der hatte die "Stimmengewichtung" von Nizza gewollt, um den deutschen "Bevölkerungsriesen" zu fesseln. Mit anderen Worten: Der Vertrag von Nizza war seinerzeit zustande gekommen, weil es damals eine deutsch-französische Übereinstimmung nicht gegeben hat. Umso merkwürdiger findet es Warschau, dass Berlin - nun mit Pariser Duldung bzw. Unterstützung - das Rädchen im Verfassungsvertrag zurückdrehen will. Keine Frage: Heute hat die Kompromissbereitschaft Berlins eine Grenze. Bei der Frage der künftigen Machtverteilung im Ministerrat wollen die Deutschen hart bleiben. Sie möchten jene neuen Regeln für Mehrheitsentscheidungen und damit auch Sperrminoritäten in Kraft treten lassen, die der Verfassungskonvent vorgelegt hat.(FN15) Die Beschlüsse des Gipfels von Nizza, die der EU Grundlage und Perspektive für die Erweiterung bieten sollten, bezeichneten schon damals fast alle Regierungsdelegationen als ungenügend. Darum wurde noch in Nizza der Auftrag erteilt, möglichst bald eine Reform des Vertrages zu erarbeiten. Auch Chirac hat seine in Nizza vertretene Meinung einer Revision unterzogen: Erstmals seit Gründung der EU ist er von der Position abgerückt, dass Frankreich im Rat stets gleich stark wie Deutschland sein müsse.

Andererseits schien Chirac über das Scheitern der Regierungskonferenz nicht unglücklich zu sein, dass es vorerst bei Nizza bleibt, belässt dies doch Frankreich die alte Überprivilegierung gegenüber Deutschland. Und wenn nun u.a. Polen für das "Scheitern" verantwortlich gemacht wird, zeugt dies von den Geschicken französischer Diplomatie. Dennoch: Eine Bilanz der vergangenen zehn Jahre zeigt, dass das deutsch-französische Verhältnis einer grundlegenden Revision unterzogen wurde. Die deutsche Wiedervereinigung und die Aufwertung Deutschlands zur "Zentralmacht Europas" (Hans-Peter Schwarz) haben zumindest in der Wahrnehmung die Gewichte in der europäischen Politik neu bestimmt, auch wenn Berlin diesen Effekt nur sehr behutsam anstrebt.

Planen Paris und Berlin eine Union in der Union?

Als Vordenker für Frankreichs Rolle in Europa und der Welt hatte Dominique de Villepin beizeiten ein Notprogramm für das Scheitern der Regierungskonferenz vom 13.12.2003 parat. "Wenn das Europa der 25 scheitert", fragte der besorgte Außenminister bereits Anfang November 2003 im kleinen Kreis eines Pariser Debattierclubs, "was bleibt den Franzosen dann anderes übrig als die Annäherung an Deutschland?" (FN16) Diese Union in der Union soll nach Meinung des französischen Außenministers so stark sein, dass sie weiterhin auch die Politik der EU dominiert. Zuletzt erklärte er, die deutsch-französische Achse sei der "einzige historische Spieler, der nicht verlieren darf."(FN17) Die Frage, ob nicht eine andere als die deutsch-französische Achse Europa voranbringen könne, wird in der Regel verneint.(FN18) Mit Großbritannien könne Frankreich kein Sonderverhältnis haben, da London zu stark auf die USA ausgerichtet sei. Eine Achse Deutschland/Großbritannien sei undenkbar, weil das eine nördliche Blockbildung in Europa bedeutete; umgekehrt wäre ein französisch-italienisches Duo zu sehr nach dem Süden ausgerichtet. Paris und Berlin seien die ideale Achse. Frankreich repräsentiere das Südliche, Romanische, Katholische und Etatistische in Europa, Deutschland das Nördliche, Protestantische, Föderalistische. Wenn sich beide Staaten in Europa zu einer gemeinsamen Haltung durchrängen, so sei diese in der Regel für die anderen EU-Staaten tragbar.

Die Idee einer "Union in der Union" ist so neu nicht. Schon anlässlich des 40. Jahrestages des Elysée-Vertrags setzten sich die beiden EU-Kommissare Günter Verheugen und Pascal Lamy für die Bildung eines deutsch-französischen Staatenbundes ein. Als Motiv für ihren Vorschlag nannten Verheugen und Lamy ebenfalls die bevorstehende Erweiterung der EU, die zu einer Verwässerung des europäischen Einigungsprozesses zu führen drohe.(FN19) Doch mit seinem Reizwort von der "union france-allemande" stieß de Villepin in Paris wie in Berlin auf beharrliches Schweigen. Pascal Lamy nannte gegenüber "Le Monde" den Gedanken einer "Union" beschwichtigend eine "mobilisierende Utopie". Dennoch, allein die Diskussion über die Vision "deutsch-französischer Staatenbund" erregte in den USA die Befürchtung einer "Gegenmachtbildung".

Exkurs: USA besorgt über Achse Paris - Berlin

So warnte der Pentagon-Berater Richard Perle die deutsche Bundesregierung im Juni 2003 während einer Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin, sich zu sehr an der französischen Politik zu orientieren. Die Absicht von Präsident Jacques Chirac und dessen Außenminister Dominique de Villepin sei es, die EU gegen die USA in Stellung zu bringen. "Deutschland steht hier vor einer ganz entscheidenden Wahl", sagte der streitbare Amerikaner.(FN20) Wenige Monate später, im September 2003, bemühte sich der deutsche Bundeskanzler in Washington um Einhegung der Konfliktfelder. Von deutscher Seite wurde betont: Von gegensätzlichen Interessen soll keine Rede mehr sein. Es sei ja auch nie geplant gewesen, in der Irak-Frage einen europäischen Gegenpol zu den Amerikanern zu bilden. "Allein die Vorstellung, gegen die USA Politik machen zu können, wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen." (FN21) Insbesondere in Abgrenzung zu jüngsten neogaullistischen Visionen einer europäischen Gegenmachtbildung hatte sich Bundesaußenminister Fischer bereits bei seinem Besuch in Washington im Juli 2003 gegen eine multipolare Weltordnung ausgesprochen. Das künftige Europa, so Fischer, könne nur stark sein "together with the United States, and not as its rival".(FN22) Ganz will Deutschland freilich die neue Linie, die es während der Irakkrise eingeschlagen hat, nicht aufgeben. Im Kräfteparallelogramm der Weltpolitik sucht es einen ausbalancierten Platz in der Mitte und will nicht mehr nur treu ergeben den Vorgaben der Amerikaner Folge leisten.(FN23) Es ist kein Zufall, dass Schröder unmittelbar nach der Unterredung mit Bush einen Dreiergipfel mit den Präsidenten Frankreichs und Russlands, Jacques Chirac und Wladimir Putin, abhielt. Damit wurde eine neue Unabhängigkeit in Deutschlands Außenpolitik unterstrichen. Schröders Botschaft: Deutschland will nach wie vor Partner der Amerikaner sein, aber ein selbstbewusster Partner, der einen eigenständigen außenpolitischen Weg beschreitet. Sichtbaren Ausdruck soll das neue Selbstverständnis künftig auch im Sicherheitsrat finden. Deutschland will in dem Gremium künftig eine stärkere Rolle spielen und strebt hierzu einen ständigen Sitz im reformierten Sicherheitsrat an.

Das Kerneuropa-Modell

Eine weitere Variante, um auf den ständigen Erweiterungsprozess der EU reagieren zu können und um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhalten, ist das "Kerneuropa-Modell". Dieses Modell wird insbesondere von Paris und Berlin seit dem Jahre 1994 ständig in die Diskussion eingebracht, ob es sich nun um das Schäuble-Lamers-Papier, Chiracs Vorstellung einer "Groupe pionnier" oder die Idee eines Gravitationszentrums von J. Fischer handelt. Das Kerneuropa-Modell hat viele Namen: Pioniergruppe, Avantgarde, verstärkte Zusammenarbeit, Flexibilität, unterschiedliche Geschwindigkeiten - nach dürftiger Zeit ist das Angebot an europäischen Konstruktionsplänen wieder reichhaltig.

Weiter blickende Politiker - in Deutschland etwa Wolfgang Schäuble und Joschka Fischer - haben schon vor Jahren die "Orientierungsformel" gefunden, nach der Erweiterung und Vertiefung gelingen kann: Eine Gruppe von Staaten geht voran, die anderen können nachkommen, wenn sie denn wollen. Die Staaten mit Euro-Währung sind ein Beispiel dafür, eine Verteidigungsunion könnte ein weiteres werden. Mit anderen Worten: Die Staaten, die auf allen Politikfeldern die höchste Integrationsstufe erreichen, bilden den Kern.

Nach dem Scheitern des EU-Gipfeltreffens am 13.12.2003 erwogen insbesondere die Gründerstaaten der europäischen Gemeinschaften die Bildung eines "Kerneuropas". Der Verfassungsentwurf war ein Gegenmodell zu Kerneuropa. Die Vertagung dieser Verfassung auf unbestimmte Zeit verleiht zumindest temporär der Idee vom Kerneuropa verstärktes Interesse. Eine von Frankreich entworfene Erklärung für ein solches "Europa der zwei Geschwindigkeiten" wurde am Ende des erfolglosen Treffens in Brüssel aus Sorge vor einer Spaltung Europas jedoch nicht veröffentlicht. Nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung"(FN24) zählen zu den möglichen Teilnehmern einer künftigen Pioniergruppe neben den Gründerstaaten Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg auch Portugal, Finnland, Griechenland und Österreich sowie die beiden künftigen EU-Mitglieder Ungarn und Tschechien. Die politischen Eliten dieser Staaten sind sich bewusst, dass "ein Europa der variablen Geometrie" droht, falls man sich im Unionsrahmen nicht auf eine tiefere politische Integration einigen könne.

Was den Reiz von "Kerneuropa" ausmacht - eine kleine, in sich einige Gruppe scheinbar im politischen Interessengleichklang -, weckt den Argwohn der ausgeschlossenen und erst recht den der künftigen Mitglieder.(FN25) Denn bei den kleineren EU-Staaten wächst die Furcht vor einem exklusiven Klub, der künftig unter der Leitung von Frankreich und Deutschland eine sicherheitspolitische Eigendynamik entwickeln könnte. Die Spanier litten lange darunter, nicht zu den vier großen Ländern aufschließen zu können. In Nizza haben sie es dann fast geschafft. Seither denken sie, sie würden als große Macht wahrgenommen. Die polnische Regierung hat dieses Argument sogar zum zentralen Argument in ihrem Referendum über den Beitritt gemacht.(FN26) Die italienische Diplomatie plagt seit eh und je das Dilemma, ob Italien der kleinste der großen Staaten (hinter Deutschland, Frankreich und Großbritannien) oder der größte der kleinen ist.(FN27) Lediglich Gründungsstaaten wie Belgien scheinen Vertrauen zu den so genannten "Großen" zu haben. Kurz nach dem Scheitern der Brüsseler Regierungskonferenz sagte Belgiens Premier Guy Verhofstadt in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung": "Wir haben einfach begriffen, was der frühere belgische Außenminister Paul Henri Spaak einmal so ausgedrückt hat: In Europa gibt es nur kleine Länder. Einige wissen es nur noch nicht. Schauen Sie doch auf Europas Rolle in der Welt, wirtschaftlich wie politisch - da zählt nur, was wir zusammen auf die Beine stellen. Diejenigen, die davor Angst haben, scheinen nicht zu begreifen, was zur Zeit geschieht: Wir schaffen eine politische Union, die diesen Kontinent wirtschaftlich und politisch führen soll. Darum trägt der Konventsentwurf ja ganz bewusst den Titel Verfassung, das ist mehr als ein Vertrag!" (FN28) Vorbei sind die Zeiten, als die christdemokratische Idee eines Kerneuropas, Chiracs Vorstellung einer "groupe pionnier" oder Fischers Theorem vom "Gravitationszentrum" in einer rasch wachsenden Gemeinschaft den Gegensatz verdecken konnten. Die "verstärkte Zusammenarbeit", wie sie der Vertrag von Nizza seit zwei Jahren ermöglicht, erzeugt vermehrte Konflikte und Dissonanzen. Gefahr lauert auch von anderer Seite: Eine EU-Avantgarde, die im Kern Großbritannien ausschließt und eine "Pioniergruppe" aufstellt, würde auf Dauer zu erheblichen Konflikten führen. Das könnte, nach über 50 Jahren Integration, die EU in Allianzen und Bündnisse zerfallen lassen, deren Überwindung doch das eigentliche Ziel aller europäischen Politik ist.(FN29)

Alternatives Machtzentrum in der EU?

Die deutsche Regierung hat den Beitritt Polens und der anderen ostmitteleuropäischen Länder energisch unterstützt. Aber die alten Mitglieder haben nicht zuletzt auf Grund eigener Rivalitäten in Nizza vor zwei Aufgaben versagt. Sie haben sich über das Ziel des europäischen Einigungsprozesses im Ganzen nicht einigen können. Soll das vereinigte Europa eine bessere Freihandelszone bleiben oder auch nach außen ein politisch handlungsfähiger Akteur werden?(FN30) Ebenso wenig ist es gelungen, die Institutionen der Gemeinschaft so rechtzeitig zu vertiefen, dass eine komplexe Institution wie die erweiterte Union überhaupt noch regiert werden kann. Dies führte u.a. zu Konflikten mit den neuen Beitrittsländern. Ihnen geht es v.a. um drei Dinge: Erstens, dass ihre Partnerschaft in EU und NATO eng und dauerhaft ist, zweitens, dass die EU den "Großraum Europa" im Auge behält und weitere Beitritte nicht ausschließt, und drittens setzen sie auf die USA als Sicherheitsgaranten, solange Europa dieser Aufgabe noch nicht gewachsen ist.

Persönlichkeiten wie Jacek Rostowski, Professor für Wirtschaft an der Zentraleuropäischen Universität in Budapest und Kurator der Case-Stiftung in Warschau, gehen noch einen Schritt weiter und fordern, mit Hilfe eines alternativen Machtzentrums die deutsch-französische Dominanz in der EU einzuhegen. Er schreibt: "Was die EU benötigt, ist ein alternatives Machtzentrum. Großbritannien, Italien, Polen und Spanien - heute die vier größten Alliierten der USA - müssen zu einer gemeinsamen Politik finden, Vertrauen in ihre gegenseitige Solidarität aufbauen und sich daran gewöhnen, sich gegenseitig zu unterstützen. Ihre jetzige Ad-hoc-Koalition muss verstetigt werden, zumal sie zusammen eine Sperrminorität innehaben. Sie sollten es daher Frankreich und Deutschland gleichtun und ihren eigenen Elysée-Vertrag abschließen. Die Struktur des deutsch-französischen Vertrages und eine regelmäßige Abstimmung der Außenpolitiken haben die Macht des Duos gefestigt. Natürlich ist das unter vier Partnern schwieriger als nur unter zweien. Die Alternative wäre aber, dass Frankreich und Deutschland in der EU immer das Sagen hätten." (FN31) Auch der polnische Außenminister Wlodimierz Cimoszewicz erklärte in einer Grundsatzerklärung im Sejm Spanien, Italien und Großbritannien zu Schlüsselpartnern in der EU.(FN32) Mit diesen Ländern sehe Polen Übereinkünfte bei Fragen der Europa- und Sicherheitspolitik sowie bei der Entwicklung der transatlantischen Beziehungen, so der Minister. Besonders hob Cimoszewicz die enge Zusammenarbeit mit Madrid hervor, die er als "strategische Partnerschaft" bei der EU-Erweiterung und beim Wiederaufbau im Irak bezeichnete.

Spanien bietet Polen "strategische Partnerschaft" an

Keine Frage: Das neue Europa sortiert sich. Bereits jetzt wird deutlich: Jede Regierung sucht nach Allianzen, will "Achsen schmieden" mit Partnern, deren Interessen den eigenen Zielen ähneln. So fühlte sich José Maria Aznar, Spaniens ehemaliger Premier, einem geografisch fernen Partner besonders nah. Der Kastilier hat Polen im Januar 2004 eine strategische Partnerschaft an der Seite der USA und v.a. in der erweiterten EU angeboten.(FN33) Aznar hatte, als er in Warschau von der "gemeinsamen Bestimmung Spaniens und Polens" sprach, die ganze Weltkugel vor Augen. Im Irak etwa zählten beide Länder zu Beginn des Jahres 2004 zu Washingtons engsten Verbündeten. V.a. aber dachte Aznar kontinental, in den Kategorien europäischer Ränkespiele. Bestes Beispiel ist ihm dabei der Streit um die künftige EU-Verfassung: Gemeinsam blockierten Madrid und Warschau beim EU-Gipfel im Dezember 2003 eine Neuordnung der Stimmverhältnisse im Brüsseler Ministerrat, die den beiden EU-Mittelmächten weniger Einfluss als bisher zumuten wollte.(FN34) Der nun anbrechende Kampf um die Finanzierung der EU zwischen den Jahren 2007 bis 2013 wird der große Test für Aznars Allianz. Denn nur auf den ersten Blick stehen dabei Spanien - mit etwa 8,8 Mrd. Euro jährlich bisher der größte Nettoempfänger der EU - und Polen als künftig größter Nutznießer Brüsseler Transfer auf derselben Seite. Deutschland und fünf andere Nettozahler haben bereits klar gemacht, dass sie die EU-Ausgaben auf maximal 1% des Bruttonationaleinkommens begrenzen wollen.(FN35) Damit konnte bereits bei Abschluss die "strategische Partnerschaft" Warschau - Madrid als brüchig angesehen werden. Der Rückzug der spanischen Truppen aus dem Irak ist eine weitere Bestätigung dieser Interessendivergenz.

Die britische Position nach dem Scheitern des EU-Gipfels

Es wäre politisch unkorrekt, es offen zuzugeben, aber im Foreign Office war man alles andere als überrascht vom Scheitern des EU-Gipfels.(FN36) Die wesentlichen Gründe dafür waren: - Schon im Vorfeld des Gipfels hatte man wissen lassen, man könne sowohl mit der französisch-deutschen als auch mit der polnisch-spanischen Position leben. Die aufs Praktische bedachten Briten sehen jetzt gelassen der Bewährungsprobe der Nizza-Formel entgegen.

- Zum Zweiten kann Blair den Briten versichern: Unsere Vorbehalte, unsere "red lines" zur Markierung des britischen nationalen Interesses, sind in Brüssel alle akzeptiert worden.

- Der dritte Grund: Mit dem vorläufigen Scheitern des EU-Verfassungsentwurfs ist gegenüber den EU-Skeptikern Zeit gewonnen.

Von der Achse Paris-Berlin zum Dreieck Paris-Berlin-London

Die Achse Moskau-Berlin-Paris, die sich in der Irak-Kontroverse ständig abgestimmt hatte, ist mittlerweile Geschichte; heute achten im Wesentlichen nur Frankreich und Deutschland darauf, ihre Interessenidentität zu wahren. Neu hinzugekommen ist Präsident Bushs treuester Verbündeter in Europa, der britische Premierminister Tony Blair. Ohne die Hilfe Londons, so die Analyse der Deutschen und Franzosen, läuft auf dem Kontinent so gut wie nichts.(FN37) Deshalb trifft man sich zu gemeinsamen Gipfeln wie zuletzt am 18.2.2004 in Berlin. Es war nach Gent (19.10.2001), London (4.11.2001), Berlin (20.9.2003), Brüssel (12.12.2003) das fünfte Treffen dieser Art. Alle Sondergipfel-Treffen von Tony Blair, Gerhard Schröder und Jacques Chirac standen unter dem Motto: "Europa führen - ohne den Kontinent zu spalten." Anders als die deutsch-französischen Konsultationen in der EU haben diese Dreier-Gipfel in der EU kaum Tradition. Aus diesem Grund weckt die fast schon institutionalisierte Zusammenarbeit der "Großen Drei" auch Befürchtungen in der Union. Die anderen EU-Mitglieder meinen, der Dreier-Club sei in Wirklichkeit doch ein "Direktorium", das die Gemeinschaft dominieren wolle.(FN38) Zur Kritik an den Treffen sagte Schröder, die drei Staaten wollten niemanden in Europa "dominieren". Das Format sei nützlich, um gemeinsame Interessen zu finden, und hilfreich als Beitrag zur Koordination. Deutlicher äußerte sich Chirac. Es sei "ganz normal, dass die drei Länder, die mehr als 50% des Bruttoinlandproduktes in der EU erbringen, gemeinsame Überlegungen anstellen", sagte der Präsident.(FN39) Bereits vor und mit seinem Amtsantritt als deutscher Bundeskanzler plädierte Schröder offen dafür, die Achse Bonn/Berlin - Paris durch London zu ergänzen. Ein Novum war auch: Die erste Auslandsreise führte Schröder in seinem Amt nach London und nicht - wie bis dahin für einen deutschen Bundeskanzler üblich - nach Paris. Schröders Initiative stieß seinerzeit bei der britischen politischen Führung auf große Zustimmung, wurde aber bei der sich relativ früh abzeichnenden Irak-Kontroverse nicht weiter verfolgt.

Londons neuer Versuch eines Trilateralismus mit Berlin und Paris steht im Zusammenhang mit innenpolitischen Reformen.(FN40) Ein weiteres Motiv, aus Achsen Dreiecke zu machen, hängt für London unmittelbar mit der EU-Osterweiterung zusammen. Nachdem seit 1.5.2004 der EU 25 Staaten angehören, wird eine abgestimmte Politik von Großbritannien, Frankreich und Deutschland umso wichtiger, als jeder dieser Staaten wiederum verschiedene innereuropäische Allianzen vertritt, die auf diese Weise zusammengeführt werden können.

Bereits im Februar 2003 hatten sich Frankreich und Großbritannien demonstrativ hinter den Kurs der deutschen Bundesregierung gestellt, in Brüssel eine stärkere Berücksichtigung industriepolitischer Belange einzufordern. Seit Juli 2003 berichteten die Medien halb offiziell, dass Deutschland, Frankreich und Großbritannien in der Industriepolitik eine "Allianz"(FN41) schmieden. Ziel: Gemeinsame Reformvorschläge zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sollen die so genannte Lissabon-Initiative der EU voranbringen.(FN42) Im Jahre 2000 hatte sich die EU für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts das ehrgeizige Ziel gesetzt, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden.

Die engere Koordinierung wollen die drei Regierungen nicht auf die Industriepolitik beschränkt wissen: Weil sie das Gros der Streitkräfte in der EU stellen, sehen sie auch eine besondere Verantwortung in der Formulierung der GASP. Grundlage der Bemühungen ist eine Übereinkunft der Regierungschefs vom 20.9.2003 in Berlin, in der auch Blair anerkennt, es sei "notwendig, Operationen der EU zu planen und effektiv zu führen, die ohne Rückgriff auf die Mittel und Kapazitäten der NATO stattfinden." (FN43) Die Koordinierungen der drei Staaten in der Industrie- und Sicherheitspolitik blieben allerdings nicht ohne Folge. Zumal auch während der Beratungen des Europäischen Verfassungskonvents die intensiver werdende Abstimmung zwischen Berlin, Paris und London das Misstrauen kleinerer Staaten gegen eine Vorherrschaft der "Großen" ausgelöst hatte.

Aus diesem Grund hatten zum EU-Frühjahrsgipfel 2004 die Regierungen aus Italien, Spanien, Polen, den Niederlanden, Portugal und Estland einen gemeinsamen Brief(FN44) an die irische Ratspräsidentschaft geschrieben, in dem sie für verstärkte Reformanstrengungen warben. Wie Deutsche, Briten und Franzosen fordern auch die sechs Länder von der EU-Kommission, dass diese eine Balance finden müsse zwischen weiterer Regulierung und der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Die Mitgliedstaaten werden zudem aufgefordert, EU-Richtlinien schneller umzusetzen. Darüber hinaus wird dem weiteren Ausbau transeuropäischer Netze große Bedeutung für die EU-Wettbewerbsfähigkeit zugemessen - wenig verwunderlich, weil es sich bei den Unterzeichnern bis auf die Niederlande nur um Netto-Empfänger der EU handelt. Was allerdings in dem Sechser-Brief fehlt, ist die Forderung nach einer strafferen Organisation der EU-Kommission und die Betonung der Handlungsfähigkeit der EU.

Denn bei allem Respekt vor der prinzipiellen Gleichheit der Mitgliedstaaten: In der europäischen Wirklichkeit verfügen nur wenige über das Potenzial und die erforderliche Führungsfähigkeit. In der frühen und mittleren Phase der EU waren es Frankreich und Deutschland, die die Dinge richten und Impulse geben mussten. In der nun größeren Gemeinschaft muss aus der Zweier-Kooperation in der Führung mindestens ein Dreier-Team werden. Der deutsche Außenminister Fischer, der historische Vergleiche liebt, erkennt in der neuen Lage des deutsch-französischen Duos die Situation des 1871 gegründeten Bismarck-Reichs wieder: zu klein für die europäische Hegemonie, zu groß für das europäische Gleichgewicht.(FN45) Auch der französische Präsident ist der Meinung, dass er die erweiterte EU nicht allein im Bund mit Schröder führen kann. Er will Blair, den wohl europäischsten Premier, seit Edward Heath Großbritannien 1973 in die EU führte, dafür gewinnen, mit ihm und dem deutschen Kanzler ein Dreieck der Vernunft zu bilden - von der Entente cordiale zur Triple Entente.(FN46) Es spricht dabei in Berlin und Paris viel dafür, dass man London trotz der Kontroverse über den Irakkrieg in den Entscheidungsprozess der EU in allen Grundfragen einbeziehen will. Deutschland, Frankreich und Großbritannien sind nicht nur die größten Länder und Industrienationen in der EU, sondern auch die wichtigsten Geldgeber. Ohne sie liefe kaum etwas in den armen Regionen der Gemeinschaft, ob in Spanien, Griechenland oder Polen.

Keine Frage: Nur mit einer starken Achse London-Paris-Berlin kann die EU ihre Aufgaben des 21. Jahrhunderts bewältigen. Wie diese These im Einzelnen begründet werden kann, soll durch die Einschätzung zweier namhafter Publizisten verdeutlicht werden. So schreibt George Weidenfeld über die Stabilität einer "Dreiecksbildung" in der EU: "Das politische Dreieck Frankreich, Deutschland, Großbritannien hat gute Chancen, stabiler als je zuvor zu werden. Frankreich muss weiterhin zugesichert bekommen, dieses Dreieck werde noch lange gleichschenkelig statt gleichseitig sein - auf jeden Fall so lange, wie London außerhalb der Eurozone steht. Die französisch-deutsche Partnerschaft hat nach wie vor Priorität. Sicherheitspolitisch arbeitet Paris mit London stärker denn je zusammen, doch halten es London und Bonn/Berlin für ein Axiom, dass Amerika ein unverzichtbarer Partner bleibe." (FN47) Und Alfred Grosser bemerkt ergänzend: "Ich sehe das Dreieck Bonn/Berlin-Paris-London so: Wenn Bonn/Berlin und Paris in Europa die Initiative ergreifen, folgt London in der Regel nach. Ein Dreieck ohne Initiative haben wir, wenn Bonn/Berlin und Paris nichts tun. Ohne meine Quellen zu nennen, kann ich Ihnen sagen, dass es bereits amerikanische Befürchtungen gibt, Blair würde sich immer näher Europa zuwenden." (FN48)

Die Bedeutung regionaler Sonderbeziehungen im europäischen Einigungsprozess

Im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses haben sich die Präsidenten der EU-Kommission wiederholt "gegen eine verstärkte zwischenstaatliche Zusammenarbeit" ausgesprochen. Dennoch nimmt in der politischen Praxis das Konzept der variablen Geometrie von Staaten, die sich auf Grund einer gemeinsamen Interessenlage regelmäßig treffen und beraten, ständig zu. Dazu zählen außer den bereits behandelten "Kooperationsbildungen" u.a.: - die Zentraleuropäische Initiative (ZI), - das Central European Free Trade Agreement (CEFTA), - die Donauraum-Kooperation, - das "Weimarer Dreieck," - die Barcelona-Gruppe von Mittelmeerstaaten und - die "Nordische Allianz".

Hierbei kann es sich sowohl um transkontinentale wie regionale Zusammenschlüsse handeln. Zwei Fallbeispiele mögen dies verdeutlichen:

Die österreichische Position im Rahmen der "Zentraleuropäischen Initiative" (ZI)

Die Gründungsmitglieder der "Zentraleuropäischen Initiative" (ZI) im November 1989 waren Italien, Österreich, Jugoslawien und Ungarn. Mit dem Beitritt der Tschechoslowakei im Mai 1990 entstand die "Pentagonale"; mit dem Beitritt Polens 1991 wurde sie zur "Hexagonale".(FN49) Nach dem Zerfall Jugoslawiens 1992 und der Tschechoslowakei 1993 sowie verschiedenen Erweiterungsrunden gehörten der ZI Anfang 1999 16 Staaten an: Albanien, Belarus, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Italien, Kroatien, Mazedonien, Moldawien, Österreich, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, die Ukraine und Ungarn.

Die ZI war als Versuch gegründet worden, die politischen und ideologischen Barrieren der Donau/Adria-Region zu überwinden, und sie dient heute als annähernd einzige Institution dem Ziel, eine Klammer zwischen EU-Mitgliedern, Beitrittskandidaten und denjenigen Staaten in dieser Region herzustellen, die keine unmittelbare Aussicht auf einen Beitritt haben, aber dem gesamteuropäischen Einigungsprozess zugeführt werden sollen.(FN50) Die ZI versteht sich als Rahmen für die Zusammenarbeit jener Staaten in Zentraleuropa, die durch historische und geografische Bande miteinander verbunden sind. Die regionale Zusammenarbeit soll nicht eine Alternative, sondern eine Ergänzung zu den multilateralen Bemühungen nach europäischer Integration in solch breiteren Formen wie OSZE, Europarat und EU sein.(FN51) Damit wurden die ursprünglichen Ziele Italiens und Österreichs einer Revision unterzogen. Während sich Italien mit Hilfe der ZI eine Stärkung seines Einflusses auf die mitteleuropäische Region zu Lasten Deutschlands versprach,(FN52) bot sich Österreich die Chance, mit der ZI seine aus geopolitischer Sicht logische Rolle in Mitteleuropa wiederzuerlangen. Grundlagenwissen zu Österreichs potenziellen Positionen zu dieser Frage bietet das Buch "Mitteleuropa - im geopolitischen Interesse Österreichs". Die Verfasser beabsichtigen mit dieser Studie - im Einverständnis mit der offiziellen Politik - die Mitteleuropa-Diskussion in Österreich neu zu beleben. Inspirierend für dieses Werk war die Vorstudie von Wolfgang Baumann mit dem Titel "Die österreichische Mitteleuropaidee als Raumidee im Rahmen der EU."(FN53) Die exponierte geopolitische Lage Österreichs in Mitteleuropa und das damit verbundene sicherheitspolitische Interesse nach Stabilität legt für Wien eine Ausweitung der Stabilitätszone nach Ost- und Südosteuropa nahe. Aus diesem Grund ist Österreich außer in der ZI an mehreren regionalen Kooperationsabkommen beteiligt. Zu nennen sind: ARGE Alp, ARGE Mittlere Donau und der Donaukooperationsrat.

Seit 2001 versucht die österreichische Außenministerin Benita Ferrero-Waldner im Rahmen einer "Mitteleuropa-Gruppe" strategische Partnerschaften mit den Nachbarstaaten abzuschließen.(FN54) Genannt werden die Staaten Slowenien, Ungarn, die Slowakei, Tschechien und Polen. Eine mit diesen zentraleuropäischen Staaten zu gründende "Interessengemeinschaft" sieht Ferrero-Waldner "in Analogie zu den Benelux-Ländern oder den nordischen Staaten". "Strategische Partnerschaft" bedeute "nicht Österreich als Zentrum oder Führungsmacht", sondern heiße "regionale Interessengruppierung", damit die miteinander verbundenen "und später auch um Kroatien und andere Balkan-Staaten erweiterten Länder in Europa eine gewichtige Rolle spielen".(FN55) Am 6. Juni 2001 hat in Wien die erste Regionalkonferenz unter Beteiligung aller ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten Österreichs stattgefunden.(FN56) Um Befürchtungen vor einem "Hegemonialanspruch" Österreichs entgegenzutreten, stellte Ferrero-Waldner die Abhaltung weiterer Regionalkonferenzen in den jeweils anderen Staaten der Gruppe in Aussicht.

Die positivsten Signale zur Unterstützung des österreichischen Vorschlags über "strategische Partnerschaften" mit Nachbarstaaten kamen bisher von Ungarn. So hat im April 2004 Ungarns Botschafter in Wien, István Horváth, seine Vision über eine verstärkte regionale Zusammenarbeit in der EU präsentiert.(FN57) Ein zentraleuropäischer Block zwischen Riesengebirge und oberer Adria, zwischen Bodensee und Hoher Tatra ist die räumliche Vision einer engen regionalen Zusammenarbeit innerhalb der EU, wie sie sich Horváth vorstellen kann. In einer solchen engen regionalen Kooperation im Rahmen der EU sieht der Diplomat "enorme Chancen". Konkret hat Horváth Tschechien, die Slowakei, Österreich, Ungarn und Slowenien in seinen Plan einbezogen - also drei Mitglieder der bestehenden Visegrád-Gruppe. Polen lässt er bei seinen Überlegungen außen vor. Grund: Polen habe zuletzt wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass es auf Grund seiner Größe, Geografie und Bevölkerungsstärke spezielle Interessen verfolgt, die nicht immer mit seinen mitteleuropäischen Partnern korrespondieren. Ungarns ursprüngliche Idee sei es gewesen - so Horváth -, die vier Visegrád-Staaten einfach um Österreich und Slowenien zu erweitern; damit wäre diese Gruppe deckungsgleich mit jenen Staaten, die auch Wien mit seiner Initiative einer regionalen Partnerschaft angesprochen hat. Warschau und Prag hätten sich gegen "Visegrád + 2" ausgesprochen. Horváth ist aber überzeugt, dass allein schon gemeinsame Anliegen in Infrastruktur- und Umweltfragen "alle objektiven Voraussetzungen" für eine enge Abstimmung von zumindest fünf mitteleuropäischen Staaten schaffen würden.(FN58) Mit diesen Darlegungen werden zwei Punkte deutlich: - Österreich hat in der Region mit Ungarn einen starken und loyalen Verbündeten; - österreichische Vorbehalte besonders gegen die "Achse Paris - Berlin", der unterstellt wurde, ein "Kerneuropa" mit einem "Direktorium" der Großen zu bilden und die Mehrheit der "ohnmächtigen" Kleinen auszuschließen, verfingen just in den Staaten, in denen erst mit dem Untergang der Sowjetunion und Jugoslawiens dem nationalen Bewusstsein wieder (mehr) Raum gegeben wurde.(FN59)

Die "nordische Allianz" und die "nördliche Dimension" der EU

Als nordische Staaten werden in der Regel Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen und Island bezeichnet. Politisch umfasst die "nordische Allianz" die Mitgliedstaaten der Nordischen Kooperation. Davon sind lediglich Dänemark (seit 1972), Schweden und Finnland (seit 1995) Mitglieder der EU. Deshalb können auch nur sie in der EU eine mitgliedstaatliche Allianz bilden.(FN60) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die nordischen Staaten als einzige Staatengruppe die Verlegung des deutschen Regierungssitzes von Bonn nach Berlin genutzt haben, um eine Gemeinschaftsbotschaft zu errichten.

Mit dem Beitritt der drei baltischen Staaten zur EU gibt es eine weitere Möglichkeit der Allianzbildung. So versuchen zur Zeit Dänemark, Schweden und Finnland mit den Ostsee-Anrainern Estland, Lettland und Litauen in einer neuen Kooperationsvariante ihren erweiterten Einfluss in der EU zu stärken.(FN61) In regelmäßigen Treffen werden die Regierungschefs der Kontaktgruppe "Drei plus Drei", wie sie in Helsinki genannt wird, künftig ihre politische Position abstimmen, um "gemeinsame Interessen", so Lettlands Außenminister Rihards Piks, besser durchzusetzen. Die informellen Treffen begannen bereits im Jahre 2003, das letzte fand im März 2004 in Vilnius statt. Künftig sollen die Konsultationen noch enger werden. Die gemeinsamen Konsultationen sollen auf die Außenminister der sechs und auch andere Ressortchefs erweitert werden. Eine intensivere Abstimmung in Sachfragen "kann nützlich sein", heißt es dazu in der finnischen Regierung, "schließlich sind wir als einzelne Mitgliedsländer mit der Erweiterung kleiner und kleiner geworden".(FN62) Offiziell wird die neue Zusammenarbeit heruntergespielt, um den Eindruck einer Blockbildung zu vermeiden. Tatsächlich hat Schwedens Premier Göran Persson aber beispielsweise nach dem Scheitern der europäischen Verfassung einen "nordisch-baltischen Kompromiss" zur Frage der Abstimmungsregeln im EU-Rat angekündigt.

In Anbetracht zunehmender regionaler Zusammenschlüsse und des steigenden Einflusses der "Großen" stellte Finnlands Ministerpräsident Lipponen im Oktober 1999 die Frage: "Und wo sind wir?".(FN63) Damit wollte er endlich die Geburt des "Nördlichen" durchsetzen, dessen fester Bezugspunkt die EU sein müsse. Bereits Mitte der 90er-Jahre hatte Finnland der EU-Kommission ein Konzept über die "nördliche Dimension" der Union vorgelegt, das insbesondere die politischen und wirtschaftlichen Perspektiven des Ostseerates abdecken sollte. Die finnische Initiative basierte auf einer sorgfältigen Analyse der veränderten geo-ökonomischen Lage im Ostseeraum und dem Nordwesten Russlands.

In Stockholm stießen die finnischen Aktivitäten auf Widerwillen, weil sie nicht nur im Ostseerat und mit Schweden nicht abgesprochen waren, sondern weil sie Schweden auch die Führungsrolle in der Ostsee-Politik streitig machten.(FN64) Keine Frage: Skandinavien und das Baltikum würden in der EU eine viel größere Rolle spielen, wenn sie mit der "nördlichen Dimension" der EU Ernst machen könnten, die Finnland vor Jahren entworfen hat - es war der Versuch zu einem Paradigmenwechsel, der die "nordische" in eine nordeuropäische Identität verwandeln sollte.

Bewertung

- Als wesentliches Ergebnis dieser Analyse kann festgestellt werden, dass das Spannungsverhältnis von Hegemonie und Gleichgewicht nicht nur in der internationalen Politik, sondern auch in der EU einem ständigen Wandel unterworfen ist.

- Sowohl die Führungsmächte wie die mittleren und kleineren Staaten der EU sind zur Wahrung bzw. Durchsetzung ihrer Interessen ständig an wechselnden Achsen und Kooperationen interessiert. Die Gegenmachtbildung erfolgt in der Regel durch flexible Koalitionsbildungen innerhalb der EU.

- Eine Allianzbildung innerhalb der EU - sei es in Form einer Nord- und Südallianz, sei es in Gestalt einer Fünfer-Allianz oder einer anderen Konstellation - wird die Grundlagen der Union nicht zerstören. Im Gegenteil: Sie wird zur Vernetzung der Gesamtstruktur beitragen.

- Unilaterale Strategien von Mitgliedstaaten der EU haben derzeit keine großen Erfolgschancen.

- Große Staaten bevorzugen in der Regel große Staaten als Koalitionspartner. Nach dem Vorbild der besonders erfolgreichen deutsch-französischen Zusammenarbeit haben Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien fast alle untereinander bilaterale Übereinkünfte zu regelmäßigen Gesprächstreffen vereinbart. Kritiker meinen, sie sehen darin eine Art Statussymbol, das ihre Zugehörigkeit zum Kreis der größeren Staaten der Union unterstreicht.(FN65) - Eine wesentliche Grundlage für ein dauerhaftes Zusammengehen einzelner Mitgliedstaaten der EU ergibt sich aus einem gemeinsamen regionalen Bezugsrahmen.

- Wechselnde Achsen und Kooperationen werden für alle EU-Staaten - je nach Thema - in der Zukunft die Regel sein.

- Trotz der Zusammenarbeit zahlreicher EU-Staaten geht es nicht ohne die Institutionen der EU, aber auch nicht ohne die Initiative und das Engagement der führenden Mitgliedstaaten. Die außenpolitische Handlungsunfähigkeit der EU folgt aus dem Handlungsunwillen der "nationalen Ebene". Die EU hat außen- und sicherheitspolitisch nur eine vom Engagement der Staaten abgeleitete Autorität. Solange sich die EU in der "Staatswerdung" befindet bzw. sich als "Baustelle" definiert, steht die Binnenstruktur mit dem Ziel der Identitätsfindung im Mittelpunkt aller Überlegungen. Will das Europa der 25 nicht erodieren, muss es Zusammenhalt finden. Den können am ehesten kontinentale und regionale Interessen- und Sachkoalitionen bilden. Die Bedeutung bilateraler und regionaler Sonderbeziehungen im europäischen Einigungsprozess nimmt aus diesem Grund ständig zu.

Zwangsautomatismus der EU-Erweiterung - mit welchem Ziel?

Europa bedarf einer Stärkung seiner Identität und seiner politischen Handlungsfähigkeit, wenn es auf längere Sicht gegenüber anderen Machtblöcken wie Nordamerika und China bestehen will. Das ist die wichtigste Schlussfolgerung einer von EU-Kommissionspräsident Romano Prodi eingesetzten Expertengruppe, die Vorschläge für die langfristige Entwicklung Europas erarbeiten sollte. Die Gruppe stand unter Vorsitz des früheren französischen Wirtschafts- und Finanzministers Strauss-Kahn.(FN66) Keine Frage: Um zu stärkerer "Identität" und "Handlungsfähigkeit" zu gelangen, muss die EU institutionelle oder finanzielle Überdehnung vermeiden. Die Erweiterungsagenda kann daher nicht ausschließlich durch Erwartungshaltungen von außen bestimmt werden.(FN67) Der für die Erweiterung der Union zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen urteilte kurz vor der letzten Erweiterungsrunde (1.5.2004): "Ich glaube, dass wir jetzt allmählich an unsere Grenzen stoßen und dass, in den nächsten Jahren jedenfalls, geografische Erweiterung nicht wieder die Hauptaufgabe sein darf." (FN68) Die EU verhandele nun noch mit Rumänien und Bulgarien, deren Beitritt für 2007 vorgesehen sei. Weitere Zeitpläne gebe es nicht, sagte Verheugen. Die "allerschwierigste Frage" stehe jedoch am Jahresende bevor, wenn es um die Entscheidung gehe, ob mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen.(FN69) Sollte dies der Fall sein, dann stellt sich eine weitere, aber viel zu lange verdrängte Debatte über die geografischen, kulturellen, geostrategischen und politischen Grenzen Europas. Denn wer heute über die Grenzen Europas räsoniert, meint die Grenzen eines Bundes demokratischer Staaten mit dem Namen "Europäische Union"; zwar weiß man, dass die Begriffe Europa und EU nicht identisch sind, aber man hält doch für möglich, dass sie durch künftige Erweiterungen des Staatenbundes deckungsgleich werden könnten.(FN70) An den Fällen der beiden eurasischen Staaten Türkei und Russland lässt sich indessen zeigen, dass die Frage der europäischen Südost- und Ostgrenze nur politisch, nicht aber geografisch oder historisch-kulturell gelöst werden kann.(FN71) Nähme die EU in ferner Zukunft beide Staaten auf, dann verlöre sie selbst das Anrecht auf ihren Namen und ihre Identität.

ANMERKUNGEN:

(Fußnote 1/FN1) Vgl. Delhio, Ludwig: Gleichgewicht oder Hegemonie. Krefeld 1948. Wiederaufgelegt Zürich 1996.

(FN2) Waltz, Kenneth: Structural Realism after the Cold War. In: International Security 25 (2000) 1, S.5-41.

(FN3) Einen ersten Versuch wagten Guérot, Ulrike /Witt, Andrea: "Europas neue Geostrategie". In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/2004, S.6-12.

(FN4) Vgl. Ash, Timothy Arton: Europa ist nicht Jalta. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 43, 21./22.2.2004, S.2.

(FN5) "Europa und Amerika müssen zusammenstehen". Brief der Acht. In: Handelsblatt, 30.1.2003, S.3.

(FN6) Vgl. Lord Weidenfeld, in: Die Welt, 27.2.2004, S.8.

(FN7) Vgl. Braunberger, Gerald: Duo infernale. In: FAZ, Nr. 277, 28.11.2003, S.1.

(FN8) In: Handelsblatt, Nr. 240, 12./13.12.2003, S. 6.

(FN9) Fischer: EU braucht Gestaltungsmehrheiten. In: FAZ, 20.12.2003, S.1.

(FN10) In: Der Spiegel, Nr. 7, 9.2.2004, S.118-123.

(FN11) In: Handelsblatt, Nr. 28, 10.2.2004, S.3.

(FN12) In: Der Spiegel, 8.12.2003, S.135.

(FN13) In: Der Spiegel, 8.12.2003, S.135ff.

(FN14) Ebd.

(FN15) In: Der Spiegel, 8.12.2003, S.135.

(FN16) Vgl. Mönninger, Michael: Frankreichs Außenminister liebt Ideen. In: Die Zeit, Nr. 52, 17.12.2003, S.4.

(FN17) Vgl. Die Presse, 14.11.2003, S.10.

(FN18) Vgl. Brill, Heinz: Strategische Allianzen in der Europapolitik. In: ÖMZ 5/2003, S.549ff.

(FN19) Vgl. Paris diskutiert über eine deutsch-französische Union. In: Die Welt, 14.11.2003, S.6.

(FN20) Vgl. Pentagon-Berater Perle warnt Deutschland vor zu großer Nähe zu Frankreich. In: Handelsblatt, Nr. 114, 17.6.2003, S.7.

(FN21) Vgl. die Einschätzung der neuen deutschen Außenpolitik von Ultsch, Christian: Berlin will nicht länger Gegenpol zu Washington spielen. In: Die Presse, 23.9.2003, S.3.

(FN22) In: International Herald Tribune, 18.7.2003, S.6.

(FN23) Treffend hierzu die Studie von Schöllgen, Gregor: Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne. München 2003.

(FN24) Vgl. EU-Gipfel gescheitert. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 288, 15.12.2003, S.1.

(FN25) Vgl. Frankenberger, Klaus-Dieter: Einiges Europa? In: FAZ, 31.12.2003, S.1.

(FN26) Vgl. Juncker, Jean-Claude: Interview. In: Die Zeit, Nr. 51, 11.12.2003, S.9.

(FN27) Vgl. Fischer, Heinz-Joachim: Italien kann in Europa viel bewegen - oder viel verhindern. In: FAZ, Nr. 80, 3.4.2004, S.10.

(FN28) Interview Verhofstadt. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 288, 15.12.2003, S.6.

(FN29) Vgl. Süddeutsche Zeitung, Nr. 289, 16.12.2003, S.4.

(FN30) Vgl. Jürgen Habermas-Interview. In: Die Welt, 21.1.2004, S.2.

(FN31) Rostowski, Jacek: "Knackt die deutsch-französische Allianz". In: Handelsblatt, Nr. 190, 2.10.2003, S.9.

(FN32) Vgl. Warschauer Priorität in der EU. In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 17, 22.1.2004, S.5.

(FN33) Vgl. Wernicke, Christian: Europäisches Ränkespiel. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 14, 19.1.2004, S.7.

(FN34) Ebd.

(FN35) Ebd.

(FN36) Vgl. Tony Blair beschert der gescheiterte Gipfel Erleichterung. In: Die Welt, 15.12.2003, S.7.

(FN37) In: Der Spiegel, 23.2.2004, S. 47.

(FN38) In: Der Spiegel, 09.02.04, S.72.

(FN39) In: Süddeutsche Zeitung, 19.2.2004, S.1.

(FN40) Vgl. Kornelius, Stefan: Trio statt Tandem. In: Süddeutsche Zeitung, 14./15.2.2004, S.4.

(FN41) Vgl. Reuter, Wolfgang: "Heimliche Allianzen in der Industriepolitik". In: Der Spiegel, Nr. 31, 28.7.2003, S.7.

(FN42) Vgl. Veränderte Kraftfelder. In: Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. 42, 19.2.2004, S.2.

(FN43) Vgl. Kampfbereit auch ohne NATO. In: Der Spiegel, 13.10.2003, S.17.

(FN44) Vgl. Europäisches Trio steht nicht alleine da. In: Handelsblatt, Nr. 35, 19.2.2004, S.3.

(FN45) Vgl. Winter, Martin: Europäisches Dreigestirn. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 42, 19.2.2004, S.3.

(FN46) Vgl. Ross, Jan: Kerneuropa. In: Die Zeit, Nr. 8, 12.2.2004, S.7.

(FN47) Lord Weidenfeld, George: Der neue Gaullismus und der Westen. In: Die Welt, 25.2.1999, S.11.

(FN48) Alfred Grosser-Interview. In: Die Welt, 13.5.1999, S.8.

(FN49) Neuhold, Hanspeter: The Pentagonal/Hexagonal Experiment. New Forms of Cooperation in an changing Europe, Verlag Wilhelm Braumüller, Wien 1992.

(FN50) Vgl. Jacobsen, Hans-D.: Regionale Kooperation in Ost- und Mitteleuropa. In: WeltTrends, Nr. 22, Frühjahr 1999, S.178.

(FN51) Vgl. Rüb, Matthias: Was die NATO trennt, sollen SECI, CEFTA, CEI und OSZE zusammenhalten. In: FAZ, Nr. 24, 29.1.1997, S.8.

(FN52) Vgl. Radbruch, Hans Eberhard: Italien, Mitteleuropa und der EURO. Baden-Baden 1998, S.51ff.

(FN53) Baumann, Wolfgang/Hauser, Gunther: Mitteleuropa im geopolitischen Interesse Österreichs. Graz 2002, S.17.

(FN54) Vgl. Olt, Reinhard: Eine Neupositionierung der österreichischen Außenpolitik? In: FAZ, Nr. 58, 9.3.2001, S.7.

(FN55) Vgl. Olt, a.a.O.

(FN56) Vgl. Österreich und fünf Beitrittskandidaten wollen zusammenarbeiten. In: FAZ, Nr. 130, 7.6.2001, S.9.

(FN57) Siehe "Magyarische Vision: Mitteleuropa - Fünf minus Polen". In: Die Presse, 21.4.2004, S.7.

(FN58) Vgl. "Magyarische Vision ...", a.a.O., S.7.

(FN59) Vgl. Olt, a.a.O., S.7.

(FN60) Grundlegend hierzu Schumacher, Tom: Die nordische Allianz in der europäischen Union. Opladen 2000.

(FN61) Vgl. "Nordischer Block". In: Der Spiegel, Nr. 20, 10.5.2004, S.101.

(FN62) Ebd.

(FN63) Atenbockum, Jasper von: Nordisch ist Nordeuropa schon lange nicht mehr. In: FAZ, Nr. 245, 21.10.1999, S.4.

(FN64) Vgl. Rivalitäten um die "nördliche Dimension" der Europäischen Union. In: FAZ, Nr. 141, 22.6.1998, S.7.

(FN65) Schumacher, a.a.O., S.44.

(FN66) Vgl. "Europa braucht stärkere Identität". In: FAZ, Nr. 116, 19.5.2004, S.6.

(FN67) Vgl. Guérot, a.a.O., S.11.

(FN68) Vgl. Verheugen: EU stößt an ihre Grenzen. In: FAZ, Nr. 99, 28.4.2004, S.6.

(FN69) Ebd.

(FN70) Vgl. Borgolte, Michael: Türkei ante portas. In: FAZ, Nr. 44, 21.2.2004, S.39.

(FN71) Vgl. Borgolte, ebd.

Dr. disc. pol. Heinz Brill

Geb. 1940; 1958 Eintritt in die Bundeswehr (Luftwaffe); 1984 Oberstleutnant der Reserve; 1993 Wissenschaftlicher Direktor; 1977 Promotion zum Doktor der Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen; 1975/76 und 1980/81 Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg; Lehrbeauftragter für deutsche u. internationale Sicherheitspolitik an den Universitäten Göttingen (1977-96), Köln (1991-2002), seit 2003 Würzburg. 1978-1997 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt für Studien und Übungen der Bundeswehr, zuletzt stv. Fachbereichsleiter für Sicherheitspolitik im Zentralen Forschungs- und Studienbereich, zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen und internationalen Sicherheitspolitik; Auszeichnungen: 1990 Wissenschaftspreis des Deutschen Bundeswehr-Verbandes, 1996 Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold.



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Die EU und ihre neuen Mitgliedstaaten.
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Der Weg zur EU der 25.
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EuropÀische Bruchlinien.
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Macht und Gewicht.
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SchÀuble-Lamers-Vorschlag zu "Kerneuropa" 1994.
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Das Gewicht der Großen in der EU.
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Einsatz im Ausland.
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Von der Ostsee bis zur Adria.
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EuropĂ€ische Kooperationen außerhalb der EU.
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BeitrittslÀnder der "Donauraum-Kooperation".
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