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Tschernobyl - Assistenzeinsatz 1986

Am 26. April 1986 ereignete sich in Tschernobyl nahe der Stadt Pripjat in der Ukraine im Block 4 des Kernkraftwerkes der bislang größte Unfall in einem Kernkraftwerk. Er gilt als die zweitschwerste nukleare Havarie nach der Katastrophe im Chemiekombinat Majak in Russland 1957, bei der ein Tank mit hochradioaktiven Stoffen explodierte. Die Freisetzung des spaltbaren Materials aus dem Kernkraftwerk Tschernobyl führte zu einer Verstrahlung von weiten Teilen Europas, darunter auch von Österreich.

Der Reaktor von Tschernobyl war ein Reaktor des Typs RBMK-1000. Ein RBMK (Reaktor Bolshoi Moshnosty Kanalny - Hochleistungs-Reaktor mit Kanälen) ist ein Kernreaktor sowjetischer Bauart, wobei die Zahl 1000 für die maximal mögliche elektrische Leistung in Megawatt (MW) steht. Die dabei anfallende Heizleistung ist etwa dreimal so hoch. Der Reaktortyp RBMK wurde Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion entwickelt. Dabei griff man auf Erfahrungen mit den ersten sowjetischen Kernkraftwerken Obninsk und Bjelojarsk zurück. Ziel war es, in relativ kurzer Zeit und ohne größere Investitionen in die Entwicklung neuer Technologien eine größere Anzahl von Leistungsreaktoren zu errichten. Ein weiterer Vorteil der RBMKs war, dass man binnen kurzer Zeit größere Mengen Plutonium erzeugen konnte.

Beim RBMK handelt es sich um einen graphitmoderierten Siedewasser-Druckröhrenreaktor. Anstelle eines Druckbehälters besitzt er eine große Anzahl von Druckröhren, in denen sich der Kernbrennstoff befindet. Durch die Kernspaltung entsteht Wärme, welche von Wasser aufgenommen wird. In weiterer Folge wird dieses Wasser durch Regelstäbe kontrolliert verdampft. Dieser Wasserdampf wird durch Dampfabscheider geleitet, um mitgerissenes Wasser in den Reaktor zurückzuführen. Der Sattdampf wird durch Turbinen geleitet und somit elektrischer Strom erzeugt.

Als Vorzüge dieses Reaktortyps wurden gesehen: - die Möglichkeit der stetigen Kontrolle jedes einzelnen Druckrohres; - die einfache Möglichkeit, die Gesamtleistung durch Hinzufügen weiterer Druckrohre zu erhöhen; - die Möglichkeit, den Brennelementwechsel während des Betriebes durchzuführen, dadurch konnte man längere Wartungsperioden vermeiden; - im Ernstfall konnten schnell große Mengen an waffenfähigem Plutonium hergestellt werden.

Als Nachteile sind bekannt, dass: - die Kettenreaktion der Kernspaltung schwer zu kontrollieren ist; - ein Schnellabschaltsystem fehlt, das heißt, dass die Regelstäbe im Ernstfall viel zu langsam einfahren; - wichtige Sicherheitsbarrieren wie ein Druckbehälter oder ein Betonsicherheitsmantel (Containment) fehlen; - eine Redundanz der Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen fehlt, da der sowjetischen Reaktorbauphilosophie entsprechend, dem menschlichen Operator mehr Kompetenzen zugewiesen wurden als der automatischen Steuerung.

Dadurch konnte die Verkettung von Fehlentscheidungen, die zur Katastrophe von Tschernobyl führten, ihren Lauf nehmen.

Kernkraftwerke des Typs RBMK wurden nur auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion errichtet. Ihre Standorte liegen heute in Litauen (Ignalina), Russland (Kursk, Smolensk, Sosnowi Bor) und in der Ukraine (Tschernobyl). Noch 1983 wurde in Kostroma im heutigen Russland mit dem Bau eines RBMK-Reaktors begonnen. Das Projekt wurde jedoch nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl zugunsten von Planungen für einen Reaktor eines anderen Typs aufgegeben.

Das Hauptproblem der RBMK ist jedoch die Tatsache, dass als Moderator Grafit (Moderatoren sind neutronenverlangsamende Stoffe, Anm.), als Kühlmittel jedoch Wasser zum Einsatz kommt, im Gegensatz zu Leicht- bzw. Schwerwasserreaktoren, in denen das Wasser beide Aufgaben erfüllt. Kommt es zu einer Überhitzung, verdampft das Wasser, und die Kühlwirkung sinkt. Bei den Leicht- bzw. Schwerwasserreaktoren sinkt gleichzeitig die Moderatorwirkung in einem Maß, dass diese sich ab gewissen Grenzen selbst abregeln. Da Grafit aber hitzebeständig ist, nimmt in einem RBMK die Moderatorwirkung bei Überhitzung nicht ab. Konstruktionsbedingt kann es sogar zu einer Steigerung kommen, was zu schwer kontrollierbaren Situationen führen kann. Dies war einer der Gründe für den Unfall von Tschernobyl.

Nach dem Unfall von Tschernobyl wurden bei zahlreichen Reaktoren Verbesserungen durchgeführt, um einen derartigen Unfall möglichst zu vermeiden. Die Einfahrzeit der Kontrollstäbe wurde von ca. 20 Sekunden auf 2 Sekunden reduziert, große Teile der Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen wurden redundant angelegt, Notkühlsysteme eingerichtet und die Reaktortanks verstärkt.

Der Unfall

Am 25. April 1986 soll ein Turbinen-Experiment durchgeführt werden. Man will testen, wie viel Energie die Turbinen beim Auslaufen noch erzeugen können, wenn das elektrische Netz außerhalb der Anlage ausfällt. Der "Auslaufstrom" sollte ausreichen, um die Kühlung des Reaktors aufrecht zu erhalten, bis die Notdieselaggregate anspringen. Sicherheitseinrichtungen, wie die automatische Notabschaltung und das Notkühlsystem, werden außer Kraft gesetzt. Der Test sieht vor, den Reaktor nicht abzuschalten, sondern auf eine Leistungsabgabe zwischen 700 und 1000 MW (thermisch) herunterzufahren, um eine Wiederholung des Experiments nach einem eventuellen Fehlschlag zu ermöglichen. (Bei der Freisetzung aus Atomkernen haben Neutronen stets höhere Energien. Ein Moderator bremst sie bis auf thermische Energie ab. In der Atom-, Kern- und Teilchenphysik bedeutet thermisch etwa so viel wie langsam; Anm.). Unterhalb des 700 MW-Niveaus ist der Reaktor instabil und schwer zu kontrollieren. Das geforderte Niveau kann von der Bedienungsmannschaft nicht gehalten werden, die Leistung fällt bis auf 30 MW(th) ab. Dem Operator gelingt es, den Reaktor auf eine Leistung von 200 MW(th) hochzufahren und scheinbar zu stabilisieren. Zur zusätzlichen Kühlung des Reaktors werden alle Umwälzpumpen eingeschaltet. Die dadurch verminderte Dampfbildung bewirkt ein Absinken der Reaktorleistung. Die automatische Steuerung versucht, die verstärkte Kühlung zu kompensieren. Um ein weiteres Absinken der Leistung zu verhindern, wird ein Teil der Steuer- bzw. Absorberstäbe entfernt. Eine gewisse Menge an Absorberstäben muss eingefahren sein, um die Stabilität der Energieabgabe zu gewährleisten. Wenn die "operationale Reaktivitätsreserve" beim RBMK-Typ auf einen weniger als 15 Stäbe entsprechenden Wert absinkt, muss der Reaktor - laut damaliger Vorschrift - sofort abgeschaltet werden. Zum Zeitpunkt des Unfalls beträgt die Abschaltreserve sechs bis acht Stäbe. Die Kettenreaktion gerät außer Kontrolle. Das Notsystem wird manuell aktiviert. Die Leistung steigt innerhalb von Sekunden von 200 auf 520 MW(th). Der Versuch, die unkontrollierte Kettenreaktion durch Einschieben weiterer Absorberstäbe zu unterbinden, scheitert. Die Führungskanäle sind durch die große Hitze bereits verformt. Die Leistungssteigerung führt aufgrund des für den RBMK-Typ charakteristischen positiven Voidkoeffizienten zu einem erhöhten Gehalt an Dampfblasen im Kühlmittel, der wiederum die Reaktivität erhöht. Durch den plötzlichen Leistungsanstieg kommt es zur prompt-kritischen Reaktion. Die Leistung schnellt auf 300 000 MW(th), also auf das 300-fache der Nennleistung hoch. Der Reaktor "geht durch". Druckröhren bersten - es kommt zum Kühlwasserverlust.

26. April, 1:23:44 Uhr: Wegen der großen Hitze gerät der Grafitblock in Flammen, die Brennstäbe schmelzen. Der Reaktor explodiert. Durch die Explosion und den nachfolgenden - fast zwei Wochen dauernden - Brand gelangt ein großer Teil des radioaktiven Reaktorinhalts in die Atmosphäre.

Die "radioaktive Wolke"

Durch die Explosion als Folge des Unfalls kam es zur Bildung und Freisetzung von "heißen Teilchen" (mikroskopisch kleine Partikel bestehend aus einem Gemisch radioaktiver Nuklide, Anm.). Die Art der Freisetzung führte zu einer ungleichmäßigen Belastung sowohl bei der Einatmung als auch bei der Ablagerung am Boden. Wegen der Größe der Partikel wurden die meisten in unmittelbarer Nähe des havarierten Reaktors bis zu einer Entfernung von einigen Kilometern abgelagert. In größerer Entfernung, insbesondere in Mitteleuropa, wurden nur noch vereinzelt "heiße Teilchen" gefunden. Die freigesetzten Radionuklide (vor allem Jod-131 und Cäsium-137) blieben als Aerosol lange in der Atmosphäre und zogen als "Wolke" zunächst nach Nordwesten mit Kurs auf Skandinavien. In Schweden wurden die ersten erhöhten Messwerte festgestellt. Über der Ostsee wechselte die Wolke ihre Richtung und zog nach Südwesten über Polen, Tschechien nach Süddeutschland und Österreich und dann wieder nach Nordwesten über die Niederlande auf die Nordsee zu.

Die radioaktive Wolke erreichte Österreich am Nachmittag des 29. April 1986, weitere stark belastete Luftmassen überquerten das Bundesgebiet am 30. April und am 1. Mai. Am 3., 6. und 7. Mai 1986 wurden weitere Anstiege der Luftradioaktivität verzeichnet. Von den insgesamt etwa 70 PBq Cäsium-137 (1 Peta-Becquerel entspricht 1015 Becquerel), die schätzungsweise in Tschernobyl freigesetzt wurden, sind etwa 1,76 PBq, also etwas mehr als zwei Prozent, in Österreich abgelagert worden. Die mittlere Flächenbelastung Österreichs mit Cäsium-137 betrug etwa 21 kBq/m². Von Jod-131, das sich in der Schilddrüse anlagert, ging in den ersten Wochen die größte Gefahr aus. Diese dauerte aufgrund der kurzen Halbwertszeit des Radionuklids nur wenige Wochen an. In Regengebieten wurden die radioaktiven Substanzen aus der Luft gewaschen und gelangten auf und in den Boden, wo sie so genannte "hot spots" bildeten.

Der Assistenzeinsatz des Bundesheeres

Österreich war nach dem Kernkraftwerksunfall von Tschernobyl in einer eher guten Ausgangssituation: Das Strahlenfrühwarnsystem des Bundes mit insgesamt 336 Messstationen über das gesamte Bundesgebiet war installiert und zeigte die aktuelle Verstrahlungssituation an. Dazu gab es eine ausreichende Zahl von Niedrigstaktivitätsmessgeräten. Insgesamt haben in Österreich die staatlichen oder staatlich autorisierten Messstellen etwa 100 000 Lebensmittelproben gemessen. Für den Probentransport stand eine ausreichende Kapazität an Transportmitteln zur Verfügung. Hinzu kam eine große Zahl an ausgebildeten Spürtrupps: Etwa 700 ausgebildete, mobile Spürtrupps des Bundesheeres, der Exekutive und anderer Einsatzorganisationen standen zur Messung von großräumigen Kontaminationen zur Verfügung. Diese Spürtrupps waren vor allem zur Messdatenverdichtung bei jenen "hot spots" wichtig, wo keine Strahlenfrühwarnsystemstation vorhanden war. Außerdem wurden einige dieser Spürtrupps an Grenzübertrittsstellen zum Einsatz gebracht, wo durch das Abspüren von Personen, Fahrzeugen und Zügen eine Kontaminationsverschleppung auf österreichisches Staatsgebiet minimiert wurde. Die zivilen Einsatzorganisationen, die für den Strahlenschutz der Bevölkerung einen Auftrag hatten, leisteten hervorragende Arbeit. Die Kapazitäten reichten jedoch für einen großräumigen Kontaminationsfall nicht aus. Das Österreichische Bundesheer (ÖBH) wurde zur Assistenzleistung und damit zur Unterstützung der zivilen Einsatzorganisationen herangezogen.

Das Strahlenfrühwarnsystem maß nach der insgesamt neunteiligen Skala (0 bis 8) Werte in den Bereichen der Warnpegel 2 bis 3 (30 µR/h bis 100 µR/h und 100µR/h bis 1 mR/h, d.s. 0,3 µSv/h bis 1 µSv/h und 1 µSv/h bis 0,01 mSv/h) das ergab somit die Gefährdungsstufen I und II von IV.

Bei Gefährdungsstufe I erreicht die zusätzliche Strahlenbelastung einmal die Größe der jährlich wirksamen natürlichen Strahlendosis. Es wird keine gesundheitliche Gefährdung von Einzelpersonen erwartet. Eine Minimierung der Strahlenbelastung für die Gesamtbevölkerung ist im Hinblick auf bestimmte Risikogruppen, vor allem Kleinkinder, angezeigt. Maßnahmen in dieser Gefährdungsstufe wären beispielsweise die Aufforderung zum Konsumverzicht auf bestimmte Nahrungsmittel, ein vorläufiges Ernteverbot für Gemüse und Obst (saisonabhängig) oder ein Weideverbot für Kühe.

Auch bei Gefährdungsstufe II werden noch keine gesundheitlichen Auswirkungen auf Einzelpersonen erwartet. Eine Minimierung der Strahlenbelastung für die Gesamtbevölkerung ist erforderlich, eine Reduzierung der Strahlenbelastung für Risikogruppen notwendig. Maßnahmen, die dieser Stufe entsprechen, wären beispielsweise eine Aufenthaltsbeschränkung im Freien oder die Verbringung von Nutztieren in Stallungen.

Das staatliche Krisenmanagement der Republik Österreich, welches damals im Bundeskanzleramt gebildet wurde (heute wäre dies im Bundesministerium für Inneres), wurde aktiv und begann mit der Erfassung der exakten Verstrahlung, der vorausschauenden Beurteilung der möglichen Entwicklung des Verstrahlungsbildes sowie mit der Einschätzung der zu erwartenden Folge- und Gesamtdosis als Strahlenbelastung infolge des Kernkraftwerksunfalls. Daraus leiteten sich die Maßnahmen zur Reduzierung der Strahlenbelastung ab.

Oberstes Ziel konnte nur sein, die radioaktive Belastung der Bevölkerung nach dem "ALARA-Prinzip" (As Low As Reasonable Achievable) so gering wie möglich zu halten. Einerseits konnte eine radioaktive Belastung über das Einatmen durch Empfehlungen zur Beschränkung des Aufenthaltes im Freien vermindert werden, andererseits eine Inkorporation vermindert werden, indem Lebensmittel, die besonders belastet waren, nicht oder nur beschränkt zum Verzehr zugelassen wurden. Vier Maßnahmen leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Dosiseinsparung: - das Verkaufsverbot für Frischgemüse in den ersten drei Wochen; - das Verbot der Grünfütterung von Milchkühen im gleichen Zeitraum; - die Auswahl von niedrig aktiver Frischmilch in den Molkereien im ersten Jahr sowie - die Erstellung von Fütterungsplänen in der Milchwirtschaft.

Die gesamte Einsparung durch alle Maßnahmen zusammen betrug etwa 0,33 mSv. Die Maßnahmen zur Reduzierung der Strahlenbelastung für die Bevölkerung erforderten unter anderem die Schaffung eines klaren Lagebildes durch eine Verdichtung der Messwerte des Strahlenfrühwarnsystems mit mobilen Spürtrupps, die Probenziehung aus Boden, Luft und Lebensmitteln samt Auswertung, sowie auch Spür- und Dekontaminationsmaßnahmen an Grenzübertrittsstellen, um eine Einschleppung der Kontamination zu vermeiden.

Das Österreichische Bundesheer verfügte zu jener Zeit über ABC-Abwehrzüge in den territorial verantwortlichen Militärkommanden, in den drei Panzergrenadierbrigaden und an der ABC-Abwehrschule. Hinzu kamen in jeder Einheit verfügbare Spürtrupps der Truppen-ABC-Abwehr. An ABC-Geräten standen für die Strahlenmessung das damals eingeführte EMB-3 (für Messungen im Niedrigstaktivitätsbereich nur bedingt verwendbar) und das SV-500 zur Verfügung. Für das SV-500, dessen Anzeigewerte in Impulsen/Zeiteinheit gemessen wurden, mussten eigene Umrechnungstabellen erstellt werden. Absolut neu hingegen waren die Dekontaminationsfahrzeuge der ABC-Abwehrtruppe, die aus Anlass des damaligen Einsatzes raschest an die Truppe ausgeliefert wurden.

Am 30. April 1986 fand im Lauf des Vormittags die erste Koordinierungssitzung im Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz (BMGU) statt. Um 15 00 Uhr erhielt das Bundesministerium für Landesverteidigung (BMLV) das Aviso, dass Maßnahmen gemäß dem Strahlenschutzgesetz im Bereich des Möglichen liegen. Mit der Durchführung der Maßnahmen wurde der ABC-Abwehroffizier im Armeekommando betraut. Um 19 00 Uhr erfolgte dann der Armeebefehl Nr. 1 zur Sicherstellung von ABC-Abwehrmaßnahmen nach dem Kernkraftwerksunfall bzw. für Maßnahmen gemäß dem geltenden Strahlenschutzgesetz. Damit wurde angeordnet, dass sich folgende Kräfte bereithalten: Je Militärkommando drei ABC-Spürtrupps mit SV-500, an der ABC-Abwehrschule eine Melde- und Auswertezentrale, neun ABC-Spürtrupps und zwei Luftspürtrupps, je Korpskommando ein Luftspürtrupp und für die Durchführung der Luftspüreinsätze auf Armeeebene drei Hubschrauber und eine PC-6.

Am 1. Mai 1986 fand die zweite Koordinationssitzung im BMGU, in deren Rahmen ein mündliches Assistenzersuchen durch Bundesminister Kreuzer bzw. Sektionschef Dr. Bobek an das BMLV erging (die schriftliche Bestätigung des Assistenzansuchens folgte am 5. Mai nachmittags). Bereits in den Abendstunden wurden Zolldienststellen durch die Kräfte des Österreichischen Bundesheeres bei Spür- und Dekontaminationsmaßnahmen unterstützt. Das Heeresmaterialamt wurde um die Freigabe und Auslieferung der Dekontaminationsfahrzeuge ersucht. Um 22 00 Uhr erging der Armeebefehl Nr. 2 zur Sicherstellung von ABC-Abwehrmaßnahmen, der die eingesetzten ABC-Abwehrzüge des Burgenlandes, Niederösterreichs und Oberösterreichs mit je einem mobilen Dekontaminationstrupp verstärkte. Für den Transport von Lebensmittelproben wurde ein täglicher Transportflug aus Hohenems, Innsbruck und Linz sowie aus Klagenfurt und Graz eingerichtet. Die Proben wurden nach Seibersdorf zur Auswertung gebracht. Ab 3. Mai wurde die Transportlinie von Klagenfurt und Graz auf Lienz ausgeweitet. Mit dem Lufttransport wurde am 2. Mai begonnen. Währenddessen erfolgte die Übernahme der Dekontaminationsfahrzeuge durch die ABC-Abwehrtruppe und die nötige Einweisung. Das BMGU gab jene Grenzübertrittsstellen in Niederösterreich, Oberösterreich und im Burgenland bekannt, an denen ABC-Abwehrkräfte zum Assistenzeinsatz gebracht werden sollten. Mit dem Armeebefehl Nr. 3 vom 3. Mai 1986 wurden nach erfolgter Veranlassung der Strahlenüberwachung Spür- und Dekontaminationselemente der ABC-Abwehrtruppe zur Verkürzung der Reaktionszeit in Verfügungsräume verlegt, um Spür- und Dekontaminationseinsätze über Anforderung der jeweiligen Landeswarnzentralen durchzuführen. Somit standen zur Verfügung: - in Freistadt: ein verstärkter mobiler Dekontaminationstrupp und ein Spürtrupp/OÖ; - in Hörsching: zwei Spürtrupps/OÖ; - in Weitra: ein verstärkter mobiler Dekontaminationstrupp und zwei Spürtrupps/NÖ; - in St. Pölten: ein Spürtrupp/NÖ; - in Mistelbach: ein verstärkter mobiler Dekontaminationstrupp und ein Spürtrupp/ABC-Abwehrschule; - in Hainburg: ein Spürtrupp/ABC-Abwehrschule; - in Wien: ein verstärkter mobiler Dekontaminationstrupp und sechs Spürtrupps/ABC-Abwehrschule, und - in Eisenstadt: ein verstärkter mobiler Dekontaminationstrupp, drei Spürtrupps/B und ein Spürtrupp/ABC-Abwehrschule.

Aufgrund der Steigerung des Verkehrsaufkommens an der Grenze mussten ab 4. Mai 1986 die Dekontaminationskapazitäten erhöht werden und je ein verstärkter mobiler Dekontaminationstrupp mit Spürelementen nach Oberwart, Eisenstadt und Mistelbach vorverlegt werden. Sie bereiteten sich auf Spür- und Dekontaminationsmaßnahmen auf den grenzüberschreitenden Eisenbahnlinien vor. Gemäß Weisung des BMGU wurden der Grenzwert für Dekontaminationsmaßnahmen am 6. Mai 1986 mit 0,5 mR/h (am Tag darauf auf 1 mR/h) und die Einsatzdauer der Kräfte des Österreichischen Bundesheeres bis voraussichtlich 15. Mai festgelegt. Gleichzeitig wurden die Spürtätigkeit in Tirol aufgenommen. Schließlich wurde mit einem Gesamtbefehl der Assistenzeinsatz von Teilen der Armee sowie Maßnahmen im Bereich der Ausbildung und des allgemeinen Dienstbetriebes geregelt. "Die Armee beabsichtigt, allen Assistenzanforderungen nach Möglichkeit Genüge zu leisten, … auch auf militärischen Liegenschaften ABC-Kräfte zum Einsatz zu bringen … um eine eingeschränkte Ausbildung unter Anwendung von ABC-Schutzmaßnahmen zur Vermeidung möglicher Spätfolgen durchführen zu können." Bisher ergangene Befehle wurden zusammengefasst, die Lage und die Auswirkungen auf die Republik Österreich dargestellt, die Maßnahmen im zivilen Bereich beschrieben und für die Ausbildung die Weisung gegeben, dass die massive Inkorporation radioaktiver Teilchen zu vermeiden ist, und dass nach Ausbildungsgängen im Freien Dekontaminationsmaßnahmen durchzuführen sind. Für gepanzerte Kampf- und Bergefahrzeuge, Großgerät und Waffen wurde ein Kontaminationsgrenzwert von 1 mR/h angeordnet und Schanztätigkeiten, Leben im Felde und Körperausbildung im Freien wurden vorerst verboten. Mit demselbem Befehl ergingen auch wirtschaftliche Weisungen hinsichtlich Verpflegung, Bekleidung und Ausrüstung, sowie allfällige Schutzmaßnahmen im Veterinärwesen.

In weiterer Folge wurden ABC-Abwehrexperten zur Beratung an verschiedene Einrichtungen abgestellt (z. B. an das Umweltbundesamt, die Stadtinformation Wien, die Technische Universität (TU) Graz und an die Lebensmitteluntersuchungsanstalt Wien). Im Rahmen einer Lagebesprechung im BMGU am 14. Mai 1986 wurde bekannt gegeben, dass man beabsichtige, die Spürtätigkeiten aufgrund der abklingenden Werte zu reduzieren, sodass am 15. Mai der Befehl zur Aufhebung der Ausbildungsbeschränkungen ab 20. Mai 1986 und zur Rücknahme von Spürkräften bei Ersatz durch zivile Kräfte und die Fortsetzung der Probentransporte und der Personalabstellungen erfolgen konnte. Am 22. Mai 1986 wurde der Einsatz der ABC-Abwehrkräfte beendet, und am 11. Juni erfolgte die Einstellung der Lufttransporte. Am 28. Juli 1986 endeten die Transportunterstützung des Bundesheeres und sämtliche Personalabstellungen.

Leistungsbilanz der ABC-Abwehrtruppe im Assistenzeinsatzes "Tschernobyl"

Personal: 234 Soldaten (Höchstzahl/Tag: 500) Arbeitsstunden: 84 558 (Schnitt 1. bis 22. Mai1986: 380 Stunden/Soldat, das entspricht täglich 16 Mannstunden) Spür- und Dekontaminationsmaßnahmen, Messungen: 842 Boden 121 Luft 17 010 Kraftfahrzeuge (Kfz) 15 670 Waggons (474 Züge) 153 Personen 134 Wasser 95 militärische Kraftfahrzeuge 157 Dekontaminationseinsätze (Schnitt: täglich 1 553 Einsätze an 31 Grenzübertrittsstellen und Messpunkten) Gesamt: 34 182 Einsätze an 22 Tagen Weitere Einsätze: 54 Flugstunden für Spüreinsätze 308 Flugstunden für Lebensmittelproben (Schnitt: 14,5 Flugstunden/Tag) Gesamt: 362 Flugstunden Gesamtmenge transportierter Güter: 8 404 kg (Schnitt: 336 kg/Tag) Bodentransport (Kfz): Salzburg - Linz - Wien, Summe: 7 760 km Spür- und Dekontaminationseinsätze (Kfz): Pkw 65 832 km Lkw 17 734 km SonderKfz 5 528 km Summe: 89 094 km

… und 20 Jahre danach?

In den Jahren nach dem Kernkraftwerksunfall von Tschernobyl wurde eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz vor ähnlichen Fällen gesetzt bzw. optimiert. Darunter fallen beispielsweise Rahmenempfehlungen durch die Strahlenschutzkommission, die Vorbereitung von Schubladenverordnungen für den Einsatzfall nach § 38 des Strahlenschutzgesetzes, die Einlagerung von Kaliumjodidtabletten, die Etablierung des Computersimulationsmodells zur Prognose der Bevölkerungsdosis im Falle einer großräumigen Verstrahlung - OECOSYS oder die Erstellung von Richtwerten.

Auch im Österreichischen Bundesheer erfolgten Neuerungen: Mit der Einführung des Strahlenmessgerätes ASMG-90 verfügen die ABC-Abwehrkräfte über ein leistungsfähiges und modernes Detektionsgerät für ionisierende Strahlung, ein ABC-Informationssystem kann Prognose- und Ausbreitungsmodelle eines radioaktiven Fall-outs in kürzester Zeit erstellen, das ABC-Abwehrfachpersonal wird im Rahmen spezieller Kurse in der Bewältigung "ziviler ABC-Gefahrenlagen" trainiert usw.

Das Unglück von Tschernobyl hat (wie etliche andere Natur- und sonstige Katastrophenereignisse mehr) bewiesen, dass die ABC-Abwehr des Österreichischen Bundesheeres ein unverzichtbarer Bestandteil einer qualifizierten Assistenz- und Katastrophenhilfsleistung im Inland ist.

___________________________________ ___________________________________ Autor: Amtsdirektor Erwin Richter, Jahrgang 1962. 1981/82 Einjährig Freiwilliger beim Landwehrstammregiment 33 in Mautern. 1985 bis 1989 Ausbildung zum ABC-Abwehroffizier; Major des Milizstandes seit 1999 und seit 1991 an der ABC-Abwehrschule in Wien bzw. Korneuburg. 1996 bis 1997 Zusatzfachausbildung für ABC-Abwehroffiziere am Österreichischen Forschungszentrum Seibersdorf. Derzeit Referent für ABC-Bedrohung; 1994 und 2002/03 als Biologiewaffeninspektor (UNSCOM und UNMOVIC) im Irak.

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