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Vorwort der Herausgeber

erschienen in der Publikation "Bosnien und Herzegowina" (ISBN: 3-8329-1218-5) - August 2005

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Abstract:

Vorwort der Herausgeber

Als vor zehn Jahren, am 21. November 1995, im US-amerikanischen Dayton die bosnisch-herzegowinischen Konfliktparteien sowie die damaligen Präsidenten Kroatiens und Serbiens, Franjo Tudjman und Slobodan Milosevic, einem Friedensabkommen für Bosnien und Herzegowina (BuH) zugestimmt haben, wurde ein mehr als dreijähriger blutiger Krieg beendet, der etwa 250 000 Tote gefordert und zwei Millionen Flüchtlinge verursacht hatte. Zur Freude über das Ende dieses furchtbaren Krieges mitten in Europa, der zu einem Synonym für die so genannten "ethnischen Säuberungen" geworden war, kam aber bald auch größere Skepsis hinzu. Kritiker des in Dayton neu geschaffenen Staates BuH meldeten ihre Zweifel an, ob ein Staat, dessen zwei Teilstaaten/Entitäten (die bosniakisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska) mehr Rechte haben als der Gesamtstaat, wirklich funktionsfähig werden kann. Die Dayton-Skeptiker sprachen und sprechen noch immer von einer "Zwangsvereinigung" von Völkern, die sich im Krieg dafür entschieden hätten, getrennt zu leben - zumindest was die Mehrheit der serbischen und kroatischen Bevölkerung in BuH betreffe. Die Politik der auch nach dem Krieg dominierenden nationalen Parteien, die oftmals zur Blockierung der gesamtstaatlichen Organe geführt hatte, schien zumindest in den ersten Jahren der Post-Dayton-Periode die Skeptiker zu bestätigen. Erst mit der Ausweitung der Kompetenzen des Hohen Repräsentanten der Staatengemeinschaft im Jahr 1997, durch die in BuH Entscheidungsmechanismen geschaffen wurden, die einem Protektorat ähnlich sind, konnten Fortschritte bei der Implementierung der zivilen Teile des Dayton-Abkommens erreicht werden, wie zum Beispiel bei der Flüchtlingsrückkehr. Der Preis für diese "gelenkte Demokratie" ist freilich ein geringes Maß an Eigenverantwortung auf der Seite der bosnisch-herzegowinischen Entscheidungsträger und eine zunehmend kritische Einstellung der Bevölkerung gegenüber der westlichen Verwaltung als einer Kolonialverwaltung.

Viele Hoffnungen auf ein Zusammenwachsen der beiden Staatsteile von BuH`s sind auf das Engagement der Europäischen Union in der Balkan-Region gerichtet. Die EU stellt heute den höchsten zivilen Vertreter der Staatengemeinschaft in BuH in der Person des Hohen Repräsentanten, und sie hat seit Ende 2004 auch die Verantwortung für die internationale Friedenstruppe Stabilisation Force (SFOR) übernommen, die bisher unter NATO-Kommando stand. Nirgendwo auf dem westlichen Balkan hat die EU soviel Verantwortung für den Stabilisierungsprozess, wie es in BuH der Fall ist. Europas Balkanpolitik steht somit vor allem in BuH auf dem Prüfstand. Die EU hat durch den so genannten "Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess", mit dem sowohl die Kooperation zwischen den Westbalkanstaaten gefördert als auch die einzelnen Länder der Region in ein assoziiertes Ver-hältnis zur Union gebracht werden sollen, mit dem Endziel, sie in die EU zu integrieren, ein sehr ambitioniertes Stabilisierungskonzept entwickelt. Die Republik Kroatien, die zur Erreichung des EU-Kandidatenstatus‘ ihr Reformtempo nachvollziehbar erhöht hat, ist ein Beispiel dafür, dass dieses integrative Konzept der EU positive Effekte in den ehemaligen Krisengebieten Südosteuropas haben kann. Aus einer kritischen Betrachtung der Entwicklung der Lage in BuH stellt sich allerdings die Frage, ob der integrative Ansatz der EU oder auch die Aussicht für BuH, an der NATO-Initiative "Partnerschaft für den Frieden" teilzunehmen, ausreicht, um die große Kluft, die sich zwischen den bosnischen Volksgruppen während des Krieges auftat, zu überwinden.

Im vorliegenden Band über BuH wird aus verschiedensten Blickwinkeln der Versuch unternommen, sowohl Bilanz über den bisherigen Verlauf des Stabilisierungsprozesses zu ziehen als auch mögliche Perspektiven für die Zukunft des Staates BuH aufzuzeigen. Er besteht aus zwei Teilen, deren erster sich mit der Situation BuHs und seinen Entwicklungsmöglichkeiten befasst. Der zweite Teil analysiert Szenarien und bewertet diese.

Den Anfang des ersten Teiles bilden vier Beiträge, die den Verlauf des Friedensprozesses in BuH aus einer regionalen Sicht beurteilen. Der bosnisch-herzegowinische Politikwissenschafter Vedran Dzihic (Universität Wien) analysiert sehr kritisch den von außen geleiteten Staats- und Nationsbildungsprozess in BuH, der nach wie vor vom ethno-nationalen Denken der lokalen Akteu-re dominiert sei. Mladen Stanicic (Institute for International Relations, Zagreb) und Predrag Simic (Universität Belgrad) setzen sich in ihren Beiträgen mit der Bedeutung Kroatiens und Serbien-Montenegros für den Friedensprozess in BuH auseinander. Während beide Länder noch in den späten neunziger Jahren über ihren Einfluss auf die kroatische und serbische Volksgruppe gegenüber BuH eine Politik betrieben haben, die die Funktionsfähigkeit des Gesamtstaates beeinträchtigt hat, scheinen sich ihre Beziehungen zur gesamtbosnischen Regierung vor allem wegen ihrer EU-Beitrittsaspirationen zuletzt verbessert zu haben. Milan Jazbec (Staatssekretär im slowenischen Verteidigungsministerium) rundet mit seinem Beitrag die regionalen Analysen zum Verlauf des Stabilisierungsprozesses in BuH ab. Der slowenische Beitrag ist in doppelter Hinsicht interessant: Slowenien war bekanntlich bis 1991 eine der sechs Teilrepubliken in der "Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien", der auch die damalige "Sozialistische Republik BuH" angehört hat. Die slowenische Einschätzung der Entwicklung in BuH ist deshalb eine "Insider"-Beurteilung aus der Region. Zusätzlich beteiligt sich Slowenien als junges EU-Mitglied auch an den westlichen Maßnahmen zur Stabilisierung des Westbalkans und kann wegen dieser zweifachen Identität einen wichtigen Beitrag zum Friedensprozess leisten.

Ein weiteres Schwerpunktthema im ersten Teil dieser Studie ist die Analyse der Rolle der internationalen Gemeinschaft im Dayton-Friedensprozess. Botschafter Werner Wnendt ist Stellvertretender Hoher Repräsentant in BuH. Er geht in seinem Beitrag vor allem auf die bisherige und zukünftige Rolle des "Office of the High Representative" (OHR) ein, dessen weit reichende Vollmachten gemäß Wnendts Einschätzung weiterhin von großer Bedeutung für den Stabilisierungsprozess sind. Eine besondere Herausforderung für den Hohen Repräsentanten und das OHR sieht Wnendt für die Zukunft nicht nur darin, weitere Anstrengungen zur Stärkung des Gesamtstaates zu unternehmen, sondern BuH auch auf seinem Weg der Annäherung an die EU zu unterstützen. In einem gewissen Kontrast dazu stehen zwei Beiträge, die die aktuelle Rolle der internationalen Repräsentanten und das "Dayton-System" als solches sehr kritisch beurteilen, allerdings aus sehr unterschiedlichen Gründen: Gerald Knaus (European Stability Initiative for South East Europe, Berlin) vertritt in seiner Analyse die These, dass die "gelenkte Demokratie" in BuH als Konsequenz der weit reichenden Vollmachten des Hohen Repräsentanten mittlerweile eines der Haupthindernisse für die Lösung der sozialen und ökonomischen Probleme sowie für die Steigerung der Effizienz des Gesamtstaates darstellt. Erich Reiter (Beauftragter für Strategische Studien im österreichischen Verteidigungsministerium) formuliert in seinem Beitrag eine grundsätzliche Kritik am westlichen Konfliktlösungsmodell für den Westbalkan im Allgemeinen und für BuH im Speziellen. Dieses orientiere sich fast ausschließlich an idealistischen Zielvorstellungen. Insbesondere die Haltung der EU, jede neue Grenzänderung am Balkan verhindern zu wollen, konserviere die bestehenden Konflikte und verhindere eine dauerhafte Konfliktlösung.

In drei weiteren Beiträgen, die den ersten Teil dieser Studie über BuH abschließen, werden verschiedene für den Stabilisierungsprozess relevante Spezialaspekte behandelt. Im Mittelpunkt des Beitrags von Heinz Vetschera (Institut für Strategie und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie, Wien) steht die aktuelle Reform der beiden Streitkräfte in BuH, die zu den bisher größten Erfolgen des internationalen Engagements in BuH gehört. Immerhin haben die ehemaligen Konfliktparteien, deren Armeen einander noch 1995 als Kriegsgegner gegenübergestanden sind, sich darin unter anderem auf ein gemeinsames Oberkommando über ihre Truppen und auf ein gemeinsames Verteidigungsministerium geeinigt. Die Verteidigungsreform kam unter Vermittlung des OHR, der OSZE und der NATO beziehungsweise der SFOR zustande. Der Autor war selbst in die Verhandlungen als hochrangiges Mitglied der OSZE-Mission eingebunden.

Obwohl die verbesserte Sicherheitslage die Rückkehr von Flüchtlingen grundsätzlich ermöglicht, verhindert die nach wie vor sehr schlechte soziale und ökonomische Situation, dass die Rückkehrer ein normales Leben führen können. Die Konsequenz davon ist, dass sehr viele junge, gut ausgebildete Leute BuH in Richtung Westen (teilweise zum zweiten Mal) verlassen. Das Problem der Menschenrechte in BuH im Allgemeinen und der zurückkehrenden Flüchtlinge im Speziellen wird im Beitrag der Südosteuropa-Spezialistin und Menschenrechtsexpertin Christine von Kohl (Kulturni Centar - Österreichisch-bosnisch-herzegowinischer Kulturverein) thematisiert.

Trotz der großen strukturellen Schwächen, die der Staat BuH derzeit noch aufweist, zeigt sich Josef Pöschl (Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche) in seinem Beitrag über die wirtschaftliche Entwicklung in BuH vorsichtig optimistisch, dass in einem absehbaren Zeitraum der Aufschwung möglich sein könnte. Pöschl setzt dabei vor allem auf die Zusammenarbeit zwischen BuH und der EU im Rahmen des "Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses". Diese Kooperation mit der EU könnte - analog zu Kroatien - zu einem Reformschub führen und bewirken, dass sich die politischen Repräsentanten der Bosniaken, Kroaten und Serben in BuH in wichtigen Fragen auf gemeinsame Ziele einigen.

Im zweiten Teil dieses Bandes werden die Ergebnisse einer Untersuchung dargelegt, welche Auswirkungen das Verhalten der aktuell im bosnisch-herzegowinischen Friedensprozess relevanten Akteure in speziellen Situationen beziehungsweise bei bestimmten Ereignissen hätte. Die dabei angewandte Szenariobündelmethode wurde vom deutschen Nobelpreisträger und Direktor des Laboratoriums für experimentelle Wirtschaftsforschung der Universität Bonn, Prof. Reinhard Selten, entwickelt. Sie ist ein systematisches Verfahren zur Sammlung von Expertenurteilen, aus denen einfache spieltheoretische Modelle konstruiert werden. Das Hauptgewicht der Szenariobündelmethode liegt auf der Modellierung von potenziellen Konfliktsituationen. Diese wurden im Rahmen von zwei Experten-Workshops zum Thema "Internationales Konfliktmanagement in Bosnien und Herzegowina" diskutiert (Reichenau an der Rax in Österreich, 14.-16.5 und 15.-17.9.2003), die vom Büro für Sicherheitspolitik des österreichischen Verteidigungsministeriums organisiert und von Prof. Selten geleitet wurden.

Die Szenarienanalyse ist so aufgebaut, dass zunächst in einem gemeinsamen Beitrag von Reinhard Selten und seinen Assistenten, Thorsten Chmura und Thomas Pitz (alle Universität Bonn), die Szenariobündelmethode erklärt wird. Anschließend beschreiben Christian Haupt (OSZE-Mission Sarajewo) und Predrag Jurekovic (Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie, Wien) die Ziele, Befürchtungen und Optionen der relevanten Akteure in BuH. Es folgt die Beschreibung von drei Szenarien durch Franz Lothar Altmann (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin), Christian Haupt und Predrag Jurekovic, die folgende mögliche Ausgangspunkte haben: Die Verurteilung Serbien und Montenegros durch den Internationalen Gerichtshof der UNO wegen seiner Rolle in den Kriegen in Kroatien und BuH; die Bildung einer nationalistischen Regierung in Kroatien sowie die formale Selbständigkeit Montenegros und gleichzeitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Alle potenziellen Anfangsereignisse werden natürlich vor allem im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf den Friedensprozess in BuH untersucht. Den Abschluss dieses Analyseteils (und auch dieser Studie) bilden Schlussfolgerungen aus den Szenarien für den Stabilisierungsprozess in BuH.

Im Anhang befindet sich eine Karte von BuH mit den beiden Entitäten und dem Brcko-Distrikt, der keiner der beiden Entitäten zugeschlagen wurde und in gewisser Weise ein "corpus separatum" in BuH darstellt.

Der Dank der Herausgeber gilt vor allem den Autoren für ihre sehr in die Tiefe der Probleme vordringenden Analysen. Des Weiteren sei auch dem Publikationsreferat des Büros für Sicherheitspolitik (Walter Matyas, Walter Waldvogel und Doris Washiedl) sowie den Lektoren Christine Young und Peter Klar für ihre vorzügliche redaktionelle Betreuung des Projektes gedankt.

Erich Reiter
Predrag Jurekovic

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