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ISS Aktuell 2/2023

Zur Strategischen Lage Jahresmitte 2023

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Vorwort

Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023, „schockiert“ darüber zu sein, „wie viel Glaubwürdigkeit wir im Globalen Süden verloren" haben. Macron bezog sich dabei konkret auf die mangelnde Glaubwürdigkeit des Westens1 in seinen Forderungen an den Globalen Süden zumindest den Wirtschaftskrieg gegen Russland zu unterstützen. Macrons emotionale Aussage belegt damit nur allzu deutlich, wie sehr die Auswirkungen des Ukrainekriegs die internationale Politik und Diplomatie derzeit polarisieren. Der konkrete Anlassfall des Ukrainekriegs ist aber nur der letzte Höhepunkt einer anhaltenden Entwicklung, die schon seit Längerem immer wieder zu internationalen „Irritationen“ nicht nur zwischen dem Westen und seinen Widersachern, sondern auch zwischen dem Westen und dem Globalen Süden führt.

Aus Sicht der Herausforderer ist die Dominanz euro-transatlantischer Perspektiven, Interessen und Werte im globalen Kontext längst nicht mehr unumstritten, im Gegenteil: Das wirtschaftliche und auch politische Erstarken weiterer Akteure und ihre Aspirationen, ihr neues nationales Selbstbewusstsein und ihre Emanzipationsbestrebungen führen zunehmend zu Brüchen und Gegensätzen in der internationalen Politik. Der aus Sicht des Globalen Südens als selektiv moralisierend und vielfach auch als illegitim wahrgenommenen Sicherheitspolitik des Westens werden andere Deutungsmuster entgegengestellt. Ein zentrales Narrativ, das im Zusammenhang mit dem gescheiterten Versuch des Westens, die Welt gegen den russischen Angriffskrieg zu vereinen, immer wieder genannt wird, ist die selektive Relevanz von Völkerrecht und Moral durch den Westen. Vor allem die mangelnde kritische Auseinandersetzung mit den militärischen Interventionen des Westens der jüngeren Vergangenheit werden dabei als Beleg dieses Erzählstrangs herangezogen. Dadurch scheint bewiesen, dass Völkerrecht und Moral für den Westen keine universellen Werte sind, sondern dass (auch) der Westen Völkerrecht und Moral selektiv den eigenen strategischen und geopolitischen Interessen anpasst. Ebenso wie völkerrechtswidrig empfundene Angriffskriege westlicher Staaten im Globalen Süden in den letzten Jahrzehnten von anderen westlichen Staaten wirtschaftlich oder durch sonstige Sanktionen nicht „bestraft“ wurden, wird nunmehr auch seitens der Masse der nichtwestlichen Staaten Russland wegen des Angriffskrieges in der Ukraine nicht „bestraft“. Vielmehr stellen diese Staaten scheinbar ihre eigenen wirtschaftlichen und zunehmend auch machtpolitischen Interessen in den Vordergrund.

Warum dies an dieser Stelle von Interesse ist? Oben dargestellte Diskussion auf der Münchner Sicherheitskonferenz und die dahinterstehenden Probleme und Fragen zeigen sowohl die Notwendigkeit einer nüchternen Analyse als auch den Bedarf an differenten Blickwinkeln auf. Denn um nicht in die Situation zu kommen, von anderen Akteuren „schockiert“ zu sein, ist es hilfreich, verschiedene Perspektiven einnehmen zu können. Der Westen und hier insbesondere die EU, die sich selbst gerne weniger als geopolitische Macht-, sondern als Wertegemeinschaft begreifen, haben es möglicherweise verabsäumt, sich aus der „Komfortzone“ rein westlicher Standpunkte herauszubewegen und sich mit den unterschiedlichen „anderen“ Perspektiven, Sichtweisen, moralischen Grundsätzen und Narrativen in einem wissenschaftlich-diskursiven Ansatz auseinanderzusetzen, um die dahinterliegenden Strukturen, Dogmen bzw.

Leitgedanken zu erkennen. Deshalb ist ein Lehrsatz, welchen ich den Studenten unserer Akademie versuche mitzugeben, auch für diese Publikation von zentraler Bedeutung: „Um wirklich zu verstehen, müssen wir nicht nur Fakten studieren, sondern diese auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.“ Der Mangel an dieser Fähigkeit kann - neben vielen anderen Faktoren - dazu führen, dort keine Partner mehr vorzufinden, wo man sie gerne vorfinden würde. Die Konsequenzen dieses Diskurses sind nicht nur im Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern beispielsweise auch in Afrika deutlich zu erkennen, wie zuletzt Frankreich schmerzhaft zur Kenntnis nehmen musste. Genau deshalb versucht die „Strategische Lage“ differenzierte und differente Blickwinkel anzubieten. Wir freuen uns sehr, dass Sie sich wieder die Zeit nehmen über sicherheits- und geopolitische sowie strategische Fragen informiert zu bleiben.

Lorenz Sack, von unserem Schwesterinstitut IFK, erläutert in diesem Sinne in seinem Beitrag über Afrika Hintergründe und Auswirkungen der Überwerfung Frankreichs mit der Regierung in Mali und die Konsequenzen für die Sicherheit Afrikas. Überdies wird die Gegnerschaft zwischen dem Westen und Russland auch in diesem Raum immer deutlicher sichtbar. Und auch Russland kann bekanntlich skrupellos sein, um seine Interessen durchzusetzen und seine Konkurrenten zu schädigen. Für unsere Leser sind diese Zusammenhänge natürlich von besonderem Interesse, da österreichische Soldaten genau dort – noch - einen ihrer Auslandseinsätze versehen. Lorenz Sack hat sie Ihnen verständlich aufbereitet.

Auch wenn sich die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen seit Jahren systematisch aufgebaut hat, haben Europas politische Führung und Öffentlichkeit die Veränderung der globalen und europäischen Sicherheitslage scheinbar erst durch den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine zur Kenntnis genommen. Das sicherheitspolitische und strategische Verständnis wird dabei auch zukünftig nicht durch einen moralisierenden oder weltfremden Blickwinkel verbessert werden. Eine Beobachtung in unserem Nachbarland, immerhin dem potentesten europäischen Staat, mag dabei nur zufällig oder aber exemplarisch sein. In der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands wird unter anderem festgehalten, dass „das heutige Russland […] auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum“ bleiben wird, China hingegen (noch) „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ ist. Eine Analyse solcher Texte lässt die Schlussfolgerung zu, dass Deutschland in der Realität von Machtpolitik und nationaler Strategie angekommen ist. Fakten, die sich nicht in diesen formalisierten Strategiepapieren, sondern in der politischen Beobachtung finden, lassen jedoch gewisse Zweifel aufkommen. Nicht nur hatte sich der Abschluss der Fertigstellung der deutschen Sicherheitsstrategie deshalb um Wochen verzögert, da vor allem Außenministerin Annalena Baerbock die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates verhindert hatte. Ministerin Baerbock betonte bei der Präsentation auch, dass „Sicherheit im 21. Jahrhundert […] mehr als Militär und Diplomatie“ wäre. Als Beispiele nannte sie dabei - am Höhepunkt des Konfliktes mit Russland, in dem auch Deutschland nach Einschätzung des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages inzwischen „den gesicherten Bereich der Nichtkriegs-führung verlassen“ hat - sauberes Wasser morgens beim Duschen, Sicherheit für Chats und soziale Netzwerke im Internet sowie die Verfügbarkeit von Medikamenten in der Apotheke. Auch wenn ihre Aussagen grundsätzlich verständlich sind, könnten Baerbocks sicherheits-politische Prioritäten kritisch betrachtet auch so interpretiert werden, dass bei Aufrechterhaltung solcher Prioritäten Deutschland und Europa schlussendlich auf die USA angewiesen bleiben, die eigene militärische Sicherheit aufrechtzuerhalten. Diese US-amerikanische Dominanz zieht sich daher - nicht verwunderlich - auch durch die meisten Beiträge diese Ausgabe. Auch in unserem Leitartikel, welcher die globale Konfrontation des liberal-demokratischen Westens mit dem von China und Russland dominierten Block antiwestlicher Staaten betrachtet, versuchen wir deshalb, das zentrale geopolitische Konzept der USA darzulegen.

Rastislav Báchora zeichnet hingegen eine aus europäischer Perspektive wesentlich optimistischere Sicht der geopolitischen Gestaltungsfähigkeit Europas im Allgemeinen und der EU im Besonderen. Wir hoffen, Sie mit diesem wissenschaftlichen Diskurs intellektuell anzuregen und zum Diskurs zu ermuntern.

Neben den Ihnen schon länger bekannten Angehörigen des Instituts für Strategie und Sicherheitspolitik, Dr. Rastislav Báchora, Oberst Mag. Andreas Wenzel, Mag. Alexander Panzhof sowie unserer assoziierten, freischaffenden Mitarbeiterin Mag.a Barbara Farkas, haben zahlreiche weitere Autoren unserer Schwesterinstitute sowie anderer Institutionen des Verteidigungsressorts an dieser Ausgabe mitgewirkt: wie bereits erwähnt, Lorenz Sack, BA vom Institut für Friedenssicherung & Konflikt-management, Major MMag. Albin Rentenberger, BA MA vom Institut für höhere militärische Führung, Oberst Mag. Walter J. Unger, Leiter des Cyber Defence Centre, Oberst Mag. (FH) Daniel Wurm, MAS MA von der Generaldirektion Verteidigungspolitik sowie Oberst i.R. Dr. Otto Naderer, der Sie wie gewohnt, in die aktuellen Entwicklungen der NATO detaillierter einweist. Das Team des Instituts für Militärisches Geowesen hat für Sie die Karten zum besseren Überblick und Verständnis der Texte aufbereitet und erstellt.

Unsere Analysen erheben dabei selbstverständlich keinen alleinigen Wahrheitsanspruch. Wenn Sie ein regelmäßiger Leser der „Strategischen Lage“ sind, haben Sie längst festgestellt, dass wir unterschiedlichen Persönlich-keiten, Positionen und Blickwinkeln Platz bieten - niemals wurde und wird dabei inhaltlich Einfluss auf die vorgelegten Einschätzungen ausgeübt. Innere oder äußere Vorgaben sind daher nicht denkbar - sie würden in einem inneren Widerspruch zum wissenschaftlichen Diskurs, zu welchem diese Publikation beiträgt, stehen. Dadurch sind sie gelegentlich und auch in dieser Ausgabe Teil einer offenen wissenschaftlichen Diskurskultur. Für eine liberale Gesellschaft ist es wichtig, der Wissenschaft ihre Freiheit zu gewähren und inhaltliche Auseinander-setzungen in einem Diskurs zusammenzuführen. Zu diesem Diskurs laden wir jetzt und zukünftig Kritiker und Freunde gleichermaßen gerne ein. Wir freuen uns auf Rückmeldungen unter lvak.strat-lage@bmlv.gv.at.

Nach diesen einleitenden Zeilen, dürfen wir betonen, dass weder Texte noch Karten oder Grafiken irgendeine amtliche Position wiedergeben. Die einzelnen Beiträge erscheinen unter der Verantwortung des jeweiligen Autors als Wissenschaftler und repräsentieren daher ausschließlich dessen persönliche Einschätzung, nicht aber eine offiziöse Meinung des Ressorts oder der Akademie.

Die Landesverteidigungsakademie als Heimat der überwiegenden Anzahl der Autorinnen und Autoren ist sich natürlich bewusst, dass einzelne und auch pointierte Aspekte in den Beiträgen zu intensiveren Diskussionen führen dürften. Im Sinne einer reflektiven Diskussions-kultur muss dies auch so gefördert werden. Nur wer zulässt, sich selbst laufend zu hinterfragen, kann den Anspruch zur Annäherung an eine „allgemein gültige Wahrheit auf breitem Konsens“ für eine bessere Zukunft erheben.

Die Mitarbeiter des ISS wünschen in diesem Sinne eine spannende Lektüre und einen möglichst erholsamen Sommer.

Herwig Jedlaucnik Herausgeber

Eigentümer und Herausgeber: Bundesministerium für Landesverteidigung | Roßauer Lände 1, 1090 Wien
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