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Strategische Allianzen in der internationalen Politik

von Heinz Brill

Kurzfassung

◄ "Strategische Allianzen" als zeitliche Abstimmung der Aktivitäten zweier oder mehrerer Akteure zur Erreichung politischer Ziele sind ein Terminus, den Henry Kissinger anlässlich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und China nach dem Ende des Vietnamkrieges prägte und der seit der Präsidentschaft Bill Clintons weite Verbreitung in der internationalen Politik gefunden hat. Der Begriff ist aber mehrdeutig geblieben, wobei heute zahlreiche "strategische Partnerschaften" um den Einfluss auf die internationale Ordnung konkurrieren.

Zur Zeit des Ost-West-Konfliktes waren die Grundstrukturen der Weltpolitik durch das Konkurrenzdreieck USA - UdSSR - China sowie das Kooperationsdreieck USA - Westeuropa - Japan gekennzeichnet. Sicherheitspolitisch gesehen bildeten Washington und Moskau die beiden Pole eines bipolaren Systems. Diese Bipolarität ging mit dem Ende der Sowjetunion verloren und wurde durch eine Defacto-Hegemonie der USA ersetzt.

Daraus resultierte eine "unipolare" neue Weltordnung, die laut Zbigniew Brzezinski von Washington seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gezielt angestrebt wurde: Wichtig für die USA war dabei immer das Verhältnis zu den Mächten Eurasiens, um eine gegen sie gerichtete Allianz zu verhindern. Die Vordenker der amerikanischen Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges sitzen heute alle in einflussreichen Positionen der Regierung Bush Jr., sind globale Unilateralisten, die für ein starkes Engagement der USA unter Betonung der nationalen Interessen stehen, und zeichnen sich durch die Befürwortung amerikanischer Alleingänge und Schwächung des Völkerrechts aus.

Während die USA eine unipolare Weltordnung wollen, streben die großen Regionalmächte ein multipolares System an. Russland ist hier an erster Stelle zu nennen, das schon zu Jelzins Zeiten mit China und Indien ein strategisches Dreieck bilden wollte. Als Reaktion auf die NATO-Osterweiterung entwickelte der russische Außenminister Primakow Ende der 90er-Jahre sein Konzept einer multipolaren Welt, das von Wladimir Putin und seinem Außenminister Igor Iwanow begierig aufgegriffen wurde.

China unterstützt Russland in dieser Hinsicht und sieht sich als asiatische Supermacht, der an einer Stärkung von UNO und dem Unterlaufen der amerikanischen Hegemoniepläne gelegen ist. Ähnlich ist die Position Indiens, wenn Neu Delhi auch eine vorsichtige Annäherung an die USA vollzieht, möglicherweise mit Ziel, ohne Russland, aber mit China seine asiatische Einflusssphäre zu vergrößern.

In Europa ist es in erster Linie Frankreich, dem die amerikanische Hegemonialrolle missfällt. Paris drängt deswegen auf die europäische Einigung, die Schaffung einer europäischen Verteidigungsidentität und die Stärkung des europäischen Selbstbehauptungswillens. Viel stärker als Großbritannien oder auch die Bundesrepublik Deutschland unterhält Frankreich ein ambivalentes Verhältnis zur einzigen Supermacht.

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wird ein neues Muster der amerikanischen Außenpolitik erkennbar, das einem "Nabe-Speichen"-System gleicht: Die Nabe sind die USA, die Speichen Europa, Russland, China, Indien, Japan oder der Nahe Osten, mit denen sich je nach Bedarf Politik machen lässt. Auf diese Weise kann Washington verhindern, dass sich Sekundärmächte gegen den Hegemon zusammenschließen. Die USA treten aber nicht nur auf globaler Ebene gegen so genannte "Schurkenstaaten" an, sondern organisieren auch regional ihren Widerstand gegen die "Achse des Bösen": Im Nahen Osten baut Washington sehr erfolgreich an einer Allianz mit der Türkei und Israel.

Die Struktur der internationalen Ordnung und das Spiel der Kräfte werden in jeder Konstellation durch die Zahl, Stärke und Ziele der dominierenden Mächte, ihr Verhältnis zueinander und zu den übrigen Staaten sowie durch Bündnisse und Gruppenbildungen bestimmt. An die Stelle des Hegemonismus aus der Zeit des Ost-West-Konflikts ist die Auseinandersetzung der Nationen unter Berufung auf die Legitimität nationaler Interessen getreten, was für die Allianzpolitik aller Staaten eine Herausforderung darstellt. ►


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Strategische Allianzen in der internationalen Politik

Unilateralismus versus Multipolarität

Neue politische Räume und traditionelles Denken befinden sich in einem ständigen Spannungsfeld. Wilfried von Bredow bemerkt hierzu in seiner Abhandlung über die "Bedeutung bilateraler Beziehungen im Zeitalter der Regionalisierung und Globalisierung": "Die gegenwärtige Weltpolitik ist gekennzeichnet von der Globalisierung einer wachsenden Zahl von Lebenssphären und Milieus, von Regionalisierungen auf kontinentaler und subnationaler Ebene sowie von einer steten Zunahme der Zahl und der Art inter- und transnational handelnder Akteure. Dieser Wandel des internationalen Systems der Gegenwart lässt auch den Stellenwert von bilateralen Beziehungen nicht unberührt. Die häufig daraus gezogene Schlussfolgerung, dass die Bedeutung bilateraler Beziehungen kontinuierlich abnimmt, wird nicht geteilt". Vielmehr vertritt von Bredow die These, "dass den bilateralen Beziehungen im Netzwerk regionaler und globaler Interdependenz aus zwei Gründen sogar eine erhöhte Bedeutung zukommt: Die Diplomatie multilateraler Beziehungen in internationalen Organisationen und internationalen Regimen kann auf Bilateralität, auf einen ihrer wichtigsten Bausteine nicht verzichten; und - vielleicht noch wichtiger - das aktuelle Handeln staatlicher Akteure wird in starkem Maße von Wahrnehmungsmustern und Erfahrungen der Vergangenheit bestimmt." Die von v. Bredow vertretene These ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffend, zumal die Griffigkeit der daraus abgeleiteten Formeln für die operative Politik (Allianzen, Partnerschaften, Achsen, Dreiecke etc.) nicht zu bestreiten ist.

Erstes Fazit: Während die Welt die Raumordnung des 21. Jahrhunderts sucht, sind die politischen Planungsstäbe der Staaten - wie die im Folgenden dargelegten Analysen über die "Strategischen Allianzen" zeigen - noch ganz im traditionellen Denken verhaftet und den Interessen des Nationalstaates verpflichtet.

Zum Begriff "Strategische Allianzen" bzw. "Partnerschaften"

Unter "Strategische Allianzen" werden Grundsätze und politische Leitlinien einer umfassenden Planung zum Gebrauch vorhandener Ressourcen und Machtmittel zur Erreichung politischer Ziele verstanden. Diese werden in der Regel zeitlich befristet - zur Erreichung des jeweiligen Zieles - geschlossen. Von einer Strategischen Allianz spricht man, wenn zwei oder mehrere Akteure ihre Aktivitäten so aufeinander abstimmen, dass für alle Beteiligten ein maximaler Nutzen entsteht.

So spricht z.B. Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso von einem strategischen Verhältnis zwischen Brasilien und Deutschland. Strategisch ist hier nicht im militärischen Wortsinn gemeint. Vielmehr hat der Technologieaustausch für Brasilien strategischen Rang. Für diese strategische Aufgabe sucht Brasilien einen Partner. Damit wird deutlich: Koalitionen, Kooperationen, Joint-Ventures sind zielgerichtete Zusammenschlüsse. Die Partner bleiben selbstbestimmt, verfügen über Souveränität, Raum und Zeit. Ihre Zusammenarbeit hat Grenzen und Daten. Revision ist keine Frage der Moral.

Es war Henry Kissinger, der den Begriff erfand. Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und China 1979 entsprang, wie er nach diskreten Vorbereitungen wissen ließ, der Suche nach "strategischer" Partnerschaft: Washington wollte den Verlust Vietnams kompensieren und die Divergenzen zwischen Peking und Moskau zu Lasten des Letzteren nutzen. Nach Lothar Rühl hat der Begriff "strategische Partnerschaft" seit Präsident Bill Clintons Einzug in das Weiße Haus Anfang 1993 in der internationalen Politik weite Verbreitung gefunden. Der Begriff ist dabei ebenso mehrdeutig geblieben wie seine reale Bedeutung zweifelhaft. Heute konkurrieren zahlreiche "strategische Partnerschaften" um den Vorrang und um Einfluss auf die internationale Ordnung. Was sich eines Tages vielleicht zu Bündnissen kristallisieren mag, beginnt mit virtuellen "strategischen Partnerschaften" oder mit "Dreiecken" (Geometrie gehört zur Geopolitik).

Strukturfragen der Weltpolitik (1950-1990)

Die Grundstrukturen der Weltpolitik müssen während der Zeit des Ost-West-Konfliktes auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Achsen gezeichnet werden. Das Konkurrenzdreieck USA - UdSSR - China und das Kooperationsdreieck USA - Westeuropa - Japan beruhten insbesondere auf militärischen und wirtschaftlichen Potenzen der Mächte. Auf der Ebene der Sicherheitspolitik bildeten Washington und Moskau Pole eines bipolaren Weltsystems. Die Begriffe "Bipolarität" und der aufkommende "Polyzentrismus" hatten in dieser Zeitphase ihren festen Platz.

Anfang der 70er-Jahre erschien die Welt von Washington aus gesehen als eine Kombination geometrischer Modelle: Auf dem weltpolitischen Dreieck, Viereck, Fünfeck basierte eine Gleichgewichtspolitik, subtil von der Weltmacht USA gesteuert, die eine legitime Ordnung, eine Stabilisierung der Mächtebeziehungen, eine "Generation des Friedens" versprach. Die Bipolarität der zwei Supermächte USA und UdSSR wurde mit dem Eintritt Chinas in die Weltpolitik zum Dreieck, in dem sich die Kräfte stabilisierend ausbalancieren konnten. Rechnete man Europa (in der Form der Europäischen Gemeinschaft) und Japan hinzu, entstand das weltpolitische Fünfeck. Verbindet man jeweils Japan oder Europa mit den drei Größen, ergeben sich zwei Vierecke. Der Rest der Welt galt neben diesen geometrischen Linien wenig.

Aus der Geschichte gibt es genügend Beispiele der Machtausbalancierung. Man denke an die Schilderung der Politik der griechischen Stadtstaaten durch Thukydides, an das Mächtefünfeck Florenz - Mailand - Venedig - Kirchenstaat - Neapel zur Zeit der Renaissance oder an das europäische Gleichgewicht nach dem Wiener Kongress mit den Hauptmächten England, Frankreich, Österreich, Preußen/Deutschland und Russland. Dass oft fünf Mächte sich um ein ausgewogenes Gleichgewicht bemühen, ist kein Zufall. Es ist am ehesten geeignet, die Hegemonie einer einzigen Macht zu verhindern.

Amerikas Strategie der Vorherrschaft nach dem Ende des Ost-West-Konflikts

Der Wegfall der Bipolarität nach dem Ost-West-Gegensatz hat zu gravierenden Veränderungen auf der internationalen Akteursebene geführt. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die von George Bush proklamierte "Neue Weltordnung" ein Schwerpunkt der internationalen Diskussion. Zahlreiche Autoren haben sich an dem Streit um eine "unipolare" oder eine - von Russland, China, Frankreich und Indien favorisierte - "multipolare" Weltordnung beteiligt.

Für eine Hegemonie der USA in der Weltpolitik hat sich insbesondere Zbigniew K. Brzezinski mit seiner Studie "Die einzige Weltmacht" ausgesprochen. Brzezinski gehört zu den einflussreichsten Persönlichkeiten in der amerikanischen Politikberatung. Brzezinski geht davon aus, dass die USA nicht nur ihrer Macht wegen unangefochten an der Spitze des internationalen Systems stehen, sondern dieses System seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch den Aufbau einer Ordnungsstruktur entscheidend geprägt haben. Diese Ordnung basiert laut Brzezinski auf einem System von Normen, das sowohl der Führungsmacht als auch den übrigen Staaten nützt. Brzezinski meint, dass die Alternative zur amerikanischen Führerschaft die internationale Anarchie wäre.

Um eine amerikanische Strategie zu formulieren, die langfristig Weltordnung schaffen soll, wählt Brzezinski eine geopolitische Vorgehensweise. Für ihn spielt der Einfluss auf die Mächte Eurasiens die entscheidende Rolle: Würde dort eine Macht dominieren, könnte sie die Weltpolitik entscheidend beeinflussen, deshalb, so sein Plädoyer, müssten die USA den derzeitigen geopolitischen Pluralismus in Eurasien aufrechterhalten und das Entstehen einer gegen sie gerichteten Allianz verhindern. Mittelfristig gehe es für die USA darum, strategische Partnerschaften zur Errichtung eines transeurasischen Sicherheitssystems unter amerikanischer Führung zu schaffen.

Vor allem mit seinem Entwurf "A Geostrategy for Eurasia" (1997) erwies sich Brzezinski als Vertreter "klassischer Geopolitik". Denn die Kontrolle Eurasiens spielt seit Mackinders "Geographischem Drehpunkt der Geschichte" (1904) in der angloamerikanischen Sicherheitsphilosophie eine bedeutende Rolle. Diese Sichtweise spiegelt sich auch in der operativen Politik der USA wider. Viele der Persönlichkeiten, die George W. Bush in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik beraten, dienten bereits seinem Vater. Der New Yorker beschreibt, wie diese Kontinuität in Personal und Denkansatz die außenpolitischen Zielsetzungen und Aktionen der Regierung Bush prägt. Eine Gruppe von konservativen Strategen um den damaligen Verteidigungsminister Dick Cheney hatte schon zu Beginn der 90er-Jahre Strategieentwürfe für die amerikanische Außenpolitik nach Ende des Kalten Krieges ausgearbeitet. Im Zentrum stand damals die Idee, dass Amerika den Rest der Welt gestalten statt auf ihn reagieren solle, um den Aufstieg anderer Supermächte zu verhindern. Heute sind die Angehörigen dieser Gruppe Mitglieder oder Berater der Regierung: Paul Wolfowitz ist stellvertretender Verteidigungsminister, Lewis Libby Stabschef des heutigen Vizepräsidenten Cheney und Eric Edelman einer seiner wichtigsten Berater. Dazu kommt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der seit mehr als 30 Jahren eng mit Cheney zusammenarbeitet. 1992 kam der New York Times ein Papier zur Kenntnis, in dem das Pentagon für die Zukunft der USA empfahl, andere Nationen oder Allianzen daran zu hindern, sich zu Großmächten zu entwickeln - eine Vorstellung, die Cheney damals dementierte, die zehn Jahre später aber zur Grundlage von Bushs Außenpolitik wurde. Es war der so genannte "No Rivals"-Plan, der beinhaltete, den Aufstieg konkurrierender Mächte in Europa und Asien zu verhindern.

Die USA sind keine "Weltmacht wider Willen", wie Ernst Fraenkel einst behauptete. Ein Neo-Isolationismus ist nicht in Sicht. Die Weltmachtrolle wird von den politischen Eliten des Landes aus Überzeugung bejaht. Der Bonner Politologe Christian Hacke pflichtet in seiner jüngsten Studie "Zur Weltmacht verdammt" dieser Einschätzung bei. Auf Grund ihrer geopolitischen Lage, ihres Selbstverständnisses, ihrer wirtschaftlichen Ressourcen und ihrer zivilisatorischen Modernität sind allein die USA auf absehbarer Zeit in der Lage, eine Weltmachtrolle zu spielen. Alle potenziellen "Gegenmächte" sind nicht mehr oder noch nicht stark genug, die "Pax Americana" herauszufordern.

Unilateralismus versus Multipolarität

Die zur Zeit vorherrschende Denkschule in den USA bilden die globalen Unilateralisten. Sie stehen für ein kraftvolles internationales Engagement der USA unter Betonung des nationalen Interesses. Intellektuell sind sie v.a. bei den so genannten Realisten zu finden, deren Wurzeln des außenpolitischen Denkens geopolitisch und in den Kategorien des Gleichgewichts gesehen werden müssen. Strategische Unabhängigkeit, Betonung des maritimen Denkens und Handelns sind weitere Kennzeichen. Institutionell gesehen gehören die "think tanks", also die großen Forschungsinstitute wie die Hoover Institution, die Heritage Foundation und das American Enterprise Institute, zu den bevorzugten Plätzen, wo in diesem Sinne gedacht, gelehrt und Politikberatung vorgenommen wird. Militärstrategische Überlegungen im Pentagon ergänzen diese Denkschule. Allianzen, kollektive Sicherheitssysteme - regional oder global - stoßen bei den unilateralen Globalisten auf Kritik und Skepsis. Die UNO ist nur dann sinnvoll und nützlich, wenn sie, wie im Fall des Koreakrieges 1950 oder im Golfkrieg 1990/91, amerikanische Interessen deckt beziehungsweise unterstützt. Für eine Hegemonialmacht ist dies ein typisches Verhaltensmuster. Sie entscheidet nämlich von Fall zu Fall, ob sie ihre Interessen unilateral, in Bündnissen oder über das Vehikel internationaler Organisationen durchzusetzen sucht. Schon für Clinton stand außer Zweifel, dass die USA dann unilateral handeln würden, wenn "unsere nationalen Interessen am stärksten betroffen sind".

Noch vor wenigen Jahren war der Ausdruck "Unilateralismus" nur bei Politologen in Mode. Heute gehört er zum Standardwortschatz von Amerikakritikern überall auf der Welt. Zahlreiche Politiker werfen den USA eine Neigung zu politischen Alleingängen auf Kosten anderer Staaten und zum Schaden des Völkerrechts vor. Der Unilateralismus, das Handeln nach eigenen Interessen, ist allerdings nicht nur bei den politischen Eliten der USA festzustellen, sondern hat ebenso Gegenreaktionen in der Politik Chinas, Russlands, des indischen Subkontinents, des Iran und in Ansätzen auch der Europäischen Union hervorgerufen. Man kann ihn als Zerfallsprodukt der bipolaren Nachkriegsordnung bezeichnen.

Während die USA eine unipolare Weltordnung anstreben, wollen die großen Regionalmächte eine multipolare Weltordnung, in der sie ihre Interessen - seien sie national oder multinational begründet - besser vertreten können. Die schärfste Reaktion auf die US-Ambitionen wäre eine "antihegemoniale Allianz" mehrerer regionaler Großmächte. Eine solche Allianz wurde von daran interessierten Staaten bereits mehrfach diskutiert. So schlugen der ehemalige russische Präsident Boris Jelzin im Januar 1993 und der spätere Außenminister und Ministerpräsident Primakow Ende 1998 z.B. ein "strategisches Dreieck" Russland-China-Indien vor. Keine Frage: Die großen Regionalmächte Eurasiens haben ein gemeinsames Interesse, das gegen die Vorherrschaft der USA gerichtet ist. Hierzu gehören: Das Festhalten am UNO-Sicherheitsrat als alleinigem Mandatsträger für Gewaltanwendung, der Widerstand gegen eine Aufweichung des Souveränitätsprinzips, die Ablehnung von "äußerer Einmischung" in Menschenrechts- und Minderheitenpolitik, Besorgnisse hinsichtlich radikalislamitischer Bewegungen, der Ausbau nuklearer Fähigkeiten, um die besondere Rolle der jeweiligen Länder als Großmacht zu untermauern, und der Widerstand gegen amerikanische Pläne, ein landgestütztes nationales oder regionales Raketenabwehrsystem in Asien aufzubauen. Diese Liste gemeinsamer Interessen bedeutet allerdings weder, dass strategische Partnerschaften oder ein strategisches Dreieck Wirklichkeit geworden wären, noch, dass dies in naher Zukunft eintreten könnte. Dazu sind die Rivalitäten unter den drei eurasischen Regionalmächten zu groß.

Aus diesem Grund ist eine multipolare Weltordnung erst dann wahrscheinlich, wenn auch die USA den Status einer Regionalmacht einnehmen werden. Samuel P. Huntington sieht in einer solchen Entwicklung für die USA enorme Vorteile. In seinem Aufsatz "The Lonely Superpower" vertritt er u. a. die Meinung, dass mit der Herausbildung eines multipolaren Systems das "community policing" zum adäquaten Ersatz für die USA werden wird, wobei die großen Regionalmächte die "Hauptverantwortung" für die Aufrechterhaltung der Ordnung in ihren jeweiligen Regionen übernehmen werden. Die Großmächte werden dann zwangsläufig in verschiedenen Gruppierungen mit austauschbarer, variierender Zusammensetzung miteinander konkurrieren, zusammenstoßen und Bündnisse schließen. Die USA hätten nach Huntingtons Meinung davon nicht viel zu befürchten, denn in einer solchen Welt wären die typischen Spannungen und Kontroversen zwischen der Supermacht und den Regionalmächten (wie im jetzigen unimultipolaren System) nicht mehr gegeben, und die Funktion als Supermacht wäre in einer multipolaren Welt für die USA weniger herausfordernd.

Russische Position: "Primakow-Doktrin"

Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist Russland bestrebt, seinen Großmachtstatus zu behaupten und nicht gewillt, den USA eine alleinige Weltmachtrolle zu überlassen. Dazu gehören Versuche, antiamerikanische Allianzen mit China, Indien oder gar mit "Schurkenstaaten" zu schließen, die durch vermehrte Rüstungsexporte und sogar einer Nuklearkooperation mit dem Iran gestützt werden.

Als Reaktion auf das den USA zugeschriebene Streben nach Weltherrschaft und auf die Osterweiterung der NATO ist in der politischen Klasse Moskaus unter Führung des ehemaligen Außenministers Primakow die Doktrin einer "multipolaren Weltordnung" entwickelt worden. Das Konzept einer "multipolaren Welt" wurde auch als Antwort auf ungelöste Dilemmata aus der Amtszeit von Außenminister Andrej Kosyrew (bis Anfang 1996) entworfen. Ihm wird in Russland bis heute angelastet, den Vorgaben der wichtigsten westlichen Mächte zu sehr gefolgt und nicht in der Lage gewesen zu sein, die eigentlichen russischen Interessen - z.B. eine vollständige Teilnahme Moskaus am neu entstehenden europäischen Sicherheitssystem - wahrzunehmen.

In einer 1998 gehaltenen programmatischen Rede stellte Primakow seine Außenpolitik in die Traditionen und Werte sowohl der imperialen als auch der sowjetischen Phase, die auch für das neue Russland Bedeutung hätten. Primakow betonte, dass Russland nicht ohne eine aktive Außenpolitik existieren könne und weiterhin eine führende Rolle in der Welt spielen werde. Wie im 19. Jahrhundert dürfe die russische Außenpolitik nicht nur auf eine Region ausgerichtet sein, wobei allerdings eine gleichberechtigte und gegenseitige vorteilhafte Partnerschaft mit dem Westen angestrebt werde. Zur Begründung seiner Politik benutzte Primakow die griffige Formel der "multipolaren Welt".

Das von Primakow entwickelte Konzept postuliert, dass das System der internationalen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges zunehmend multipolar geworden sei und sich mehrere weltpolitische "Pole" - so v.a. die USA, Russland, die EU, China, Indien und Japan - herausgebildet hätten. In einer derartigen "multipolaren Welt" sollten die internationalen Beziehungen auf Gemeinsamkeiten, Zusammenarbeit und Interaktion beruhen. Das würde russischen Interessen besser dienen als Beziehungen in einer von den USA dominierten Weltordnung. Im Anschluss an das Ziel, einen Übergang zu einer multipolaren Welt voranzutreiben, sollte Russland seine Verbindungen mit den anderen "Polen" entwickeln, während die Beziehungen zu den wichtigsten westlichen Mächten stabil und pragmatisch zu gestalten wären.

Mit dem Amtsantritt Präsident Putins hat der von Primakow eingeleitete realpolitische und pragmatische Ansatz der russischen Politik eine neue Stärkung erfahren. Insbesondere für Außenminister Igor Iwanow führt eine kritische Analyse der Globalisierung zu der politischen Leitlinie: "Unabdingbare Voraussetzung für eine gerechte, demokratische Weltordnung ist das Prinzip der Multipolarität".

Doch gibt es auch kritische Stimmen in Russland. Wie Ludmilla Lobova zu berichten weiß, werden nach Meinung von Prof. Leonid Ionin (Moskau) in der Praxis die Aufrufe zur Multipolarität nichts Besonderes ändern können - praktisch bleibt nur ein einziger Kräftepol: "Das sind die USA mit den angrenzenden industrialisierten Ländern des Westens". In einer "multipolaren Welt" sei, so Ionin, jeder weltpolische "Pol" zu einer Konfrontation mit der faktisch einzig existierenden Supermacht, den USA, verurteilt. Die "multipolare Welt" wäre in diesem Kontext für die USA vorteilhafter, die es mit untereinander uneinigen Subjekten der internationalen Beziehungen zu tun hätten, was Russland keineswegs eine ruhige und sichere Existenz garantiere. Eine Alternative zur "multipolaren Welt" könnte, so Ionin, nur eine strategische Partnerschaft mit dem Westen als der einzigen verbliebenen globalen Kraft werden. In diesem Fall würde Russland als Teil eines "nördlichen Gürtels von Staaten und im Rahmen einer geostrategischen Formation existieren, die auf dem "Kräftepol" USA basiert. Das würde Russland die Möglichkeit geben, seine Stärken, die den Supermachtstatus der UdSSR ausgemacht hatten, in den Dienst der Globalisierung zu stellen.

Chinas Position

China ist im weltpolitischen Kräftespiel als aufsteigende Macht zu bewerten. Geopolitische und regionale Leitlinien zur Ausübung von Machtprojektion und Ausweitung von Einflusssphären sind unverkennbar. Bezeichneten die USA ihre Beziehungen zu China während der Präsidentschaft Clintons als "strategische Partnerschaft", so bewertet die Regierung George W. Bush sie nunmehr als "strategische Konkurrenz". Im Hinblick auf Eurasien ist die russischchinesische Annäherung nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes von besonderer Bedeutung. Die Russische Föderation und China vereinbarten im April 1996 für das 21. Jahrhundert eine "strategische Partnerschaft".

Langfristiges Ziel der chinesischen Außenpolitik ist die Bildung einer multipolaren Weltordnung mit der Volksrepublik als asiatischer Großmacht. Die multipolare Welt besteht in der Lesart Pekings und Moskaus aus "gleichberechtigten Partnern", die weder gewillt noch danach geartet sind, sich einer Hegemonie zu beugen. Russlands und Chinas gemeinsames Ziel ist es, die Rolle von UNO und Sicherheitsrat in internationalen Angelegenheiten zu stärken. Wer mit "humanitären Interventionen" oder dem Konzept einer "begrenzten Souveränität" agiere, um so die "grundlegenden Normen des Völkerrechts zu zerstören", müsse mit ihrem Widerstand rechnen, betonten Jiang Zemin und Wladimir Putin im Juli 2001 bei Abschluss des Freundschaftsvertrages zwischen ihren Staaten in Moskau.

Regelmäßige Kooperationen mit Russland und ein Kokettieren mit Achsen, Bündnissen und Partnerschaften kommt Peking gelegen. Es stärkt den Glauben an die eigene Bedeutung als kommende Weltmacht und zeigt der amerikanischen Regierung, dass Chinesen und Russen durchaus in der Lage wären, ein Gegengewicht zu den USA zu errichten - wenn sie es nur wollten.

Fazit: China will primär mit Russland und Staaten der EU die monopolisierte Weltordnung amerikanischer Prägung unterlaufen, um ein multipolares System mit mehreren Polen zu schaffen. Und an diesem strategischen Ziel einer multipolaren Welt mit regionalen Zentren hält die politische Elite Chinas fest. Chinas Eigenwahrnehmung kann anhand der Entwicklung folgender geopolitischer Theorien dargestellt werden: - Zwischenzonen-Theorie, - Drei-Welten-Theorie, - Polyzentrismus/Multipolarität, verbunden mit strategischen Allianzen.

Die polyzentrische Welt ist zum Credo chinesischer Außenpolitik geworden.

Indiens Position

Was die Grundstrukturen für eine neue Weltordnung betrifft, vertrat Indiens Premierminister Atal Behari Vajpayee im Jahre 1999 die Überzeugung: "Wir bewegen uns auf eine multipolare Welt zu. Indien und Europa werden unabhängige Pole in einer solchen Welt sein. Deshalb begrüßen wir die wachsende Integration Europas und seine politische Profilierung".

Besonders eng waren in der Vergangenheit die Beziehungen zwischen Moskau und Neu Delhi. So wurden im Jahre 1993 ein Freundschaftsvertrag und im Jahre 2000 die Erklärung einer "strategischen Partnerschaft" abgeschlossen. Die strategische Bedeutung dieser Beziehung muss heute allerdings neu bewertet werden. Die strategische Partnerschaft ist keine politischmilitärische Allianz und hat auch nicht dieselbe Bedeutung wie die frühere Achse Sowjetunion-Indien. Zwar treten beide Länder für eine multipolare Welt ein. Aber die beiden neuen Führungsmächte in Asien, die USA und China, werfen ihren Schatten auf die indischrussischen Beziehungen. Indien hat allerdings während der letzten Jahre auch seine Beziehungen zu den USA entwickelt. Die USA und Indien gemeinsam könnten die Entwicklung der Machtlinien Asiens heute wohl entscheidender beeinflussen als eine indischrussische Achse. Damit könnte ein neues strategisches Dreieck in Asien entstehen, in dem Indien, China und die USA den Kontinent in Einflusssphären aufteilen. Unverkennbar ist: Indien strebt einen größeren Einfluss auf die asiatische Machtbalance an.

Frankreichs Position

Wie Russland, China und Indien sucht auch Frankreich nach Gegengewichten zu den USA, weil deren Hegemonialpolitik die multipolare Gewaltenteilung des kommenden Jahrhunderts behindere. Als Aushilfen dienen hierbei das organisierte Europa und seine "Verteidigungsidentität", der Vorrang des UN-Sicherheitsrates, die Reform des IWF (Außenminister Hubert Védrine) oder, wie Staatspräsident Jaques Chirac anmerkt: "Um das internationale System im 21. Jahrhundert besser zu organisieren, muss sich (Europa) v.a. auf eine multipolare Welt zu bewegen. Auf der Suche nach einer Antwort auf den Globalisierungsprozess wählen die meisten Staaten den Weg der Vereinigung auf regionaler Ebene, um Herr ihres Schicksals zu sein. Dieser notwendigen regionalen Integration entspricht die Europäische Union am besten". Und weiter konkretisierte er die französische Strategie zur Multipolarität, indem er sagte: "Die Gleichheit, Solidarität und die Vielfalt der Nationen seien die Prinzipien - Souveränität gegen Unilateralismus".

Die Opposition gegen "Unipolarität", wie die Stellung der USA als "Hypermacht" (so der französische Außenminister Védrine) als unerwünschte Alternative zur angestrebten "Multipolarität" bezeichnet wird, führt in Europa Frankreich an, das - allerdings mit ungeeigneten und unzureichenden Mitteln - "europäischen" Selbstbehauptungswillen gegenüber den USA demonstriert. Die Briten mögen ihre "special relationship" mit Washington als eherne außenpolitische Maxime betrachten, die Deutschen sich unverdrossen als Juniorpartner profilieren, die Italiener ihre Clans jenseits des Atlantiks haben, Frankreich unterhält dafür von allen EU-Mitgliedern die ambivalentesten Beziehungen zur einzigen globalen Supermacht. Keine Frage: Eine Befürwortung der Multipolaritätsthese durch die Mehrheit der EU-Staaten würde zu einer weiteren Desintegration in den transatlantischen Beziehungen führen und eine "Euro-Atlantische Gemeinschaft" verhindern.

Die französische Position zu einer multipolaren Weltordnung und die unterschiedlichen Bindungen der europäischen Staaten machen deutlich, dass der europäische Einigungsprozess im Hinblick auf die Finalisierung erhebliche Interessenunterschiede aufweist, dies sowohl im Binnen- als auch im Außenverhältnis der EU. Im Binnenverhältnis, was die "innereuropäische Machtbalance" anbelangt, und im Außenverhältnis stellt sich die Frage, wie die Beziehungen zu anderen Großräumen und Staaten im Rahmen einer multipolaren Weltordnung gestaltet werden sollen. Geopolitische Interessen der EU wurden bisher nicht definiert. Bestimmt wurde nur die Form, in der diese wahrgenommen werden können. Die EU bildet auch in dieser Hinsicht eine große Herausforderung an die sicherheitspolitischen Eliten Europas, den "Pol" und die "Interessen" der EU als weltpolitischen Akteur zu orten.

Fazit: Henry Kissinger verglich die multipolare Welt mit der Global-Projektion des europäischen Staatensystems im 19. Jahrhundert. Es geschehe also nichts "Neues", sondern nur "Größeres". Nach dieser Überlegung ist es nicht ausgeschlossen, dass in dem Mächtezirkel USA, Russland, China, Indien, Japan und Europa über die bestehenden Bündnisse hinaus neue Allianzen entstehen. Wann immer dieser Fall eintreten wird, mehr Stetigkeit gehört zu den Spielregeln des multipolaren Systems!

Unilateralismus nach dem 11. September (Globale Allianz gegen den Terrorismus?)

Sicherheitspolitische Experten vertreten nach dem 11. September über die Zukunft der transatlantischen Beziehungen die Meinung: Die erste Atlantische Allianz war die, die den Zweiten Weltkrieg entschied. Die zweite war die, die den Kalten Krieg entschied, seitdem aber neue strategische Koordinaten suchte. Die dritte Allianz wird die atlantische Antwort sein auf Instabilität und Unsicherheit der neuen Art - oder sie wird nicht sein.

Keine Frage: Die Gestaltung des neuen Systems der internationalen Beziehungen ist zu einem komplizierten und langwierigen Prozess geworden. Prognosen besagen, die derzeitige Unwägbarkeit der internationalen Situation könne sich noch viele Jahrzehnte hinziehen. Dennoch hat die amerikanische Regierung die neuen Herausforderungen künftiger Allianzpolitik mit großem Engagement angenommen.

Seit dem 11. September wird ein neues Muster in der amerikanischen Außenpolitik gegen die "Achse des Bösen" (George W. Bush) erkennbar. Waren einst die Allianzen mit Europa und Japan das "A und O" der amerikanischen Diplomatie, so kristallisiert sich jetzt ein System heraus, das sich in das Bild von "Nabe und Speichen" kleiden lässt. Die Nabe ist Amerika, die Speichen, die sich um sie gruppieren, sind Europa, Russland, China, Indien, Japan, der Nahe Osten (genauer: die Hilfsmächte Türkei, Israel, Ägypten und Saudi-Arabien). Für Washington ist das eine sehr vorteilhafte Konstellation! Es kann mal mit dieser, mal mit jener "Speiche" Politik machen und so verhindern, dass sich die Sekundärmächte gegen die Nummer Eins zusammenschließen. Das System erinnert an das Prinzip Bismarcks: Nicht "irgendein Ländererwerb" schwebte ihm vor, sondern eine "Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden".

Es scheint, die amerikanische Regierung revidiert ihre bisherige Politik in der Form, dass Unilateralismus pur nicht der Großmachtweisheit letzter Schluss sein kann. Und dass die griffige Formel der Rumsfeld-Doktrin nicht immer greifen kann, wonach allein "der Auftrag die Koalition bestimmt und nicht umgekehrt".

Denn die Universalisierung der terroristischen Bedrohung gegen die Staaten der Welt macht den Kampf gegen den globalen Terrorismus zu einer Herausforderung der "Großen Politik", in der Allianzen über gegnerische Lager hinweg geschmiedet, regionale Konflikte eingedämmt und damit die Karten der Weltpolitik neu gemischt werden. Die gemeinsame Bedrohung "internationaler Terrorismus" und "militanter Islam" veränderte die Beziehungen zwischen den USA und Russland innerhalb kürzester Zeit grundlegend: aus alten Feinden sind strategische Partner geworden. Innerhalb der NATO erhält Russland einen Sonderstatus, und bei der Erschließung des "Kaspischen Raumes" sprechen Bush und Putin bereits von einer "Energieallianz". Temporär könnten sich die USA wie Russland als Regionalmacht im zentralasiatischen Raum etablieren. Die Diplomatiegeschichte kennt derlei als "renversement des alliances", als epochale Umkehr der Bündnisse.

Fazit: Die breite Allianz gegen den Terrorismus unter Führung der USA ist ein Novum in der Geschichte der internationalen Beziehungen, andererseits ist zu bedenken, dass Allianzen zerbrechliche Gebilde sind, deren Auseinanderfallen jederzeit möglich ist. Denn Allianzen sind Zweckbündnisse politischer Interessen- konstellationen, die bei veränderter Lage zerbrechen.

Neue Allianzen im Vorderen Orient: USA - Türkei - Israel

Wie auf globaler Ebene fördern die USA auch auf regionaler Ebene Allianzen gegen "Schurkenstaaten" und den internationalen Terrorismus. Als Fallbeispiel kann die im Jahre 1996 geschlossene Allianz zwischen der Türkei und Israel bewertet werden. Während die USA in ihren Vermittlungsbemühungen im israelischpalästinensischen Friedensprozess vorerst gescheitert sind und sich im Streit um die Inspektionen der vermuteten irakischen Massenvernichtungswaffen auf einen Krieg gegen den Irak vorbereiten, bildete sich - weit weniger schlagzeilenträchtig - in der Region des Vorderen Orients ein neues sicherheitspolitisches "Kräftedreieck" heraus. Israel und die Türkei rücken zusammen, und die USA fördern diese strategische Zusammenarbeit nach Kräften. Seit dem 11. September kann sogar die Feststellung getroffen werden, dass die Türkei geostrategisch zum wichtigsten Verbündeten der USA in Vorderasien geworden ist. Dies in zweifacher Hinsicht: - als Ordnungsmacht in Afghanistan und - als Frontstaat gegen den Irak.

Bereits zuvor verband die Türkei mit den USA eine starke Allianz.

Für Washington nehmen die beiden Regionalmächte Türkei und Israel Schlüsselpositionen in dem Raum ein, der die beiden ölreichen Subregionen "Mittelost" und "Kaspisches Meer" umfasst und der für den amerikanischen Energiebedarf von besonderem Interesse ist. Die USA sind im Gegenzug für die beiden Staaten, die in ihrer Region geopolitisch relativ isoliert sind, Schutzmacht. Die beiden Regionalmächte selbst ergänzen sich durch "Raum" und "Technologie".

Die Möglichkeit einer "Gegenallianz", die aus Ägypten, Syrien und dem Iran bestehen könnte, ist denkbar, falls die Allianz zwischen Ankara und Jerusalem als zu bedrohlich angesehen werden sollte. Sie ist jedoch zur Zeit wenig wahrscheinlich.

In Anbetracht der neuen Mächtekonstellation konzentrieren sich die USA darauf, in ihren vitalen Interessenzonen keine, v.a. keine unfreundlich gesonnenen Hegemonialmächte aufkommen zu lassen. Dies lässt sich in der Regel verhindern, wenn sich die verschiedenen Kraftzentren einer Region in einem System der "checks and balances" gegenseitig austarieren lassen. Ankara ist für Washington ein besonderer Partner zur Wahrung amerikanischer Interessen in der Golfregion und Zentralasien. Darüber hinaus hat die türkischamerikanische strategische Partnerschaft (die Israel mit einbezieht) in dem gemeinsamen Interesse an den Exportrouten zentralasiatischen Erdöls und Erdgases eine feste Grundlage und ist für die USA eine geopolitische Trumpfkarte im "Großen Spiel".

Allianzen und internationale Sicherheit - ein Fazit

1. Im Jahre 1996 führte das Londoner Internationale Institut für strategische Studien (IISS) in Dresden seine Jahrestagung durch. Als Leitthemen wurden Zustand und Zukunft internationaler Bündnisse in einer Zeit des Übergangs diskutiert. Konstatiert wurden die grundlegend veränderten Voraussetzungen für den Fortbestand von Bündnissen und die Unsicherheit bei der Abschätzung von Möglichkeiten zukünftiger Anpassungen oder Neugestaltungen von Formen gemeinsamer, institutionalisierter Außenpolitik. Zu dem zentralen Themenbereich, wie Staaten in bestimmten geopolitischen Kontexten strategische Ziele in enger Zusammenarbeit zu verfolgen vermögen, wurden zahlreiche Fragen diskutiert. Welche Art von Bündnissen sind im 21. Jahrhundert bedeutsam? Warum überleben, warum scheitern Bündnisse? Taugen Bündnisse für ein "Conflict Management"? Wie gehen Bündnisse mit so genannten Außenseiterstaaten um? Warum überleben Bündnisse und wie zerfallen sie? Bei all diesen Fragen spielte das Modell "Balance of Power" zur Friedenssicherung eine wesentliche Rolle.

2. Sicherheit durch ein Gleichgewicht der Mächte zu gewährleisten, ist nicht nur das klassische Konzept der Realpolitik und der ihr zu Grunde liegenden Theorie des Realismus, sondern spielt auch in der Wahrung der europäischen Sicherheit eine wesentliche Rolle. Daraus ist folgende Lehre gezogen worden: Hegemoniale Macht wird in der Regel dadurch verwehrt, dass sich die schwächeren Mächte gegen diese Macht zusammenschließen und somit ein Gegengewicht bilden, das eine Expansion verhindern kann. In flexibleren, multipolaren Systemen ist mit häufigen Koalitions- und Allianzwechseln zu rechnen, je nachdem, welcher regionale oder subregionale Konflikt in Frage steht. Bipolare Systeme sind statischer, da die Koalitionsalternativen fehlen; sie sind daher gemeinhin stabiler, zugleich auch rigider. Im Prinzip jedoch haben die multipolaren Systeme des 18. und 19. Jahrhunderts mit den bipolaren vor dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus gemeinsam, dass hegemoniale Bestrebungen durch Gegenkoalitionen eingedämmt wurden. Darüber hinaus ist für die operative Politik folgende Erkenntnis zu beachten: Nach Walts balancieren die Koalitionen nicht gegen die schieren Ressourcen einer potenziell hegemonialen Macht oder Mächtekoalition. Gegenkoalitionen werden vielmehr dann provoziert, wenn die Politik eines oder mehrerer Staaten als Bedrohung wahrgenommen wird.

3. In jeder geschichtlichen Epoche werden die Struktur der internationalen Ordnung und das Spiel der Kräfte in der Welt durch zwei wesentliche Faktoren bestimmt: - Zahl, Stärke und Ziele der dominierenden Mächte, ihr Verhältnis zueinander und zu den übrigen Staaten; - Verbindungen und Gruppenbildungen (Bündnisse).

Fasst man die gegenwärtigen Reflexionen über die sicherheitspolitische Lage der großen Mächte zusammen, so lässt sich unschwer konstatieren, dass vom "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) keine Rede sein kann. Der Hegemonismus aus der Zeit des Ost-West-Konflikts ist von der Wiederkehr der Auseinandersetzung zwischen den Nationen unter Berufung auf die Legitimität nationaler Interessen abgelöst worden. Dies bedeutet für die Allianzpolitik aller Staaten keine leichte Aufgabe. Wilhelm Grewe, der ehemalige deutsche NATO-Botschafter, vertrat auf Grund seiner Erfahrungen und Erkenntnisse über "Nationale Interessen und Bündnissysteme" vor über 30 Jahren die These: "Je ausgedehnter das Bündnisgebiet ist und je größer die Zahl der Partner, je mehr mangelt dem Bündnis bzw. der Allianz seine wichtigste Voraussetzung: die Interessenhomogenität der Bündnispartner, und desto fragwürdiger wird die Verlässlichkeit des Beistandsversprechens". Dies hat auch heute noch die gleiche Aktualität.

Dr. disc.pol. Heinz Brill

Geb. 1940; 1958 Eintritt in die Bundeswehr (Luftwaffe); 1984 Oberstleutnant der Reserve; 1993 Wissenschaftlicher Direktor; 1977 Promotion zum Doktor der Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen; 1975/76 u. 1980/81 Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg; 1977-1996 Lehrbeauftragter an der Universität Göttingen, seit 1991 an der Universität Köln; 1978-1997 Amt für Studien und Übungen der Bundeswehr, zuletzt stv. Fachbereichsleiter für Sicherheitspolitik im Zentralen Forschungs- und Studienbereich; zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen und internationalen Sicherheitspolitik; Auszeichnungen: 1990 Wissenschaftspreis des Deutschen Bundeswehrverbandes, 1996 Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold.



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