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Die strategische Lage zum Jahreswechsel

von Lothar Rühl

Ein Weltereignis beherrschte die internationale Politik des Jahres 2001 und wird sie aller Voraussicht nach noch auf Jahre bestimmen: der Terrorangriff vom 11. September gegen die USA, den Präsident George W. Bush in souveräner Handhabung seiner politischen Prärogative als "Chief Executive" sofort "War on America", Krieg gegen Amerika, genannt hatte. Damit bestimmte er die öffentliche Perzeption der beiden massiven Terroranschläge und deren Konsequenz für die USA als angegriffenen Staat: das "Recht auf Selbstverteidigung" nach der Satzung der UNO, das der UNO-Sicherheitsrat kurz darauf den USA durch einmütigen Beschluss mit den Stimmen aller seiner Ständigen Mitglieder, also insbesondere Russlands und Chinas, bestätigte. Damit war eine beispiellose internationale und völkerrechtliche Situation geschaffen - Amerika befand sich "im Krieg", aber nicht in einem erklärten Kriegszustand mit einem anderen Staat, sondern in einem Zustand der permanenten Belagerung und Selbstverteidigung gegen eine diffuse Bedrohung mit politisch motivierter aggressiver Gewalt, ausgehend von einer Personengruppe unbestimmten Umfangs und weithin unbekannter Zusammensetzung, mit Verstecken und Unterstützung in einer unbekannten Zahl von Ländern, v.a. aber mit einem Schwerpunkt in dem von einem fundamentalistischrevolutionären islamischen Regime beherrschten Afghanistan in Südwestasien mit etwa 24 Mio. Einwohnern. Obwohl am 11.9. und in den Wochen danach keine militärischen oder paramilitärischen Streitkräfte US-Territorium, US-Stützpunkte in Übersee, technische US-Einrichtungen in anderen Ländern, Kriegsschiffe, Handelsschiffe oder Flugzeuge der USA angegriffen hatten, bestätigten UNO und NATO den USA diesen Verteidigungszustand gegen eine kriegsartige Aggression und das Recht, auf Afghanistan als dem "Herbergsland" dieses Terrors zurückzuschlagen, weil nach den in Washington gesammelten Indizien der Lenker dieser Angriffe mit seiner Kommandozentrale eben in Afghanistan zu suchen war. Das Taliban-Regime bestätigte schließlich nach einigen Ausflüchten, dass der Araber Osama Bin Laden, Führer der "Al Qaida", einer islamistischen Untergrundorganisation für den bewaffneten Kampf, "Gastfreundschaft" in Afghanistan genieße, jedoch nicht für die Terroranschläge verantwortlich sei und deshalb auch nicht ausgeliefert oder ausgewiesen werden könne. Die Identifizierung Afghanistans als Ursprungsland des Al Qaida-Terrors gegen Amerika durch die Regierung der USA bei Zustimmung der internationalen Institutionen und die Reaktion der afghanischen Taliban-"Regierung" in Kabul fügten sich zu einer politischen Fiktion zusammen, welche bedeutet, dass auch andere Länder, die an diesen Anschlägen oder an künftigen Gewalttaten gegen die USA und andere Staaten einen Anteil hätten, von einem anderen Staat oder von einer internationalen Koalition mit Krieg überzogen oder Objekt einer militärischen Intervention bzw. einer von der UNO mandatierten internationalen militärischen Polizeiaktion werden könnten. Die im Herbst 2001 gestellte Frage, ob z.B. die Regierung des Irak mit der Al Qaida Bin Ladens vor dem Terrorangriff auf die USA in Verbindung stand und möglicherweise biologische Kampfstoffe ("militärisches Anthrax") zur Verfügung gestellt hatte (dazu Bush im amerikanischen Fernsehen im Oktober über Saddam Hussein: "I would not put it past him" (d.h. "ich würde es ihm zutrauen"), zeugt für das Eskalationsrisiko wie für die Ambivalenz der Situation.

Bei diesen Beschlüssen des UNO-Sicherheitsrates und des Nordatlantikrates zu Gunsten der militärischen Reaktionsfreiheit der USA gegen andere Länder in Erwiderung auf Terrorangriffe, die weder von einem fremden Staat ausgegangen waren noch - soweit der physische Kausalzusammenhang reicht - auf ein anderes Land als die USA selber zurückgeführt werden konnten (denn die Terrorangriffe mit den im Luftraum der USA und unter der Luftaufsicht der amerikanischen Behörden entführten amerikanischen Verkehrsflugzeugen wurden nicht von außen über die Grenzen, sondern aus dem Innern der USA geführt), handelt es sich um die bisher umfangreichste und nach der Natur der Sache auch substanziellste Ausweitung der völkerrechtlichen Begriffe "Krieg" und "Aggression". Auch politisch sind Krieg und Aggression seither in dieser Logik sehr viel weiter zu definieren als vor diesen Beschlüssen.

Die völkerrechtlichen und politischen Konsequenzen dieser Begriffsausweitung, die den Übergang zu einem völkerrechtlich legalen grenzenlosen Krieg mit den verschiedensten Angriffsarten und Kriegsmitteln öffnet, sind in den Versuchen deutlich geworden, die allgemein anerkannten Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts auch für die amerikanischen militärischen Reaktionen durch Luftangriffe auf Ziele in Afghanistan, die nicht sämtlich als "militärische" eingestuft werden können, zur Geltung zu bringen. Diese Versuche scheiterten schon im Ansatz und mussten scheitern, weil die Al Qaida-Organisation, aber auch die "Taliban"-Miliz mit der afghanischen Bevölkerung vermischt sind, und in dem politischen System Afghanistans sowie nach der traditionellen Landessitte (wie in anderen asiatischen und afrikanischen Ländern) eine säuberliche Unterscheidung zwischen Bewaffneten und Unbewaffneten, zwischen "regulären Kombattanten" und "Irregulären", zwischen zeitweilig paramilitärisch oder sogar militärisch aktiven "Kämpfern" und "Soldaten", damit auch zwischen militärischen Anlagen im strengen Sinne und militärisch benutzten Objekten, nicht in allen Lagen und zu allen Zeiten möglich ist. Eine "Zivilbevölkerung" nach westlichen Begriffen existiert dort jedenfalls nicht in Reinkultur, denn alle Stämme sind bewaffnet, und auch die "Zivilverwaltung" und die politischen Organisationen haben bewaffnete Kräfte; zudem rekrutierten die Taliban bis zu ihren ersten Niederlagen Mitte November nach Bedarf in der Bevölkerung und griffen auf ihre bewaffneten Helfer in den Dörfern, wo auch Waffen und Munition gelagert werden und Kriegsgerät untergestellt wird, wie in den Städten als ihre Reserven zurück. Ohnehin besteht in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban im Bürgerkrieg 1996/97 keine reguläre Armee mehr, sondern nur die bewaffnete Miliz der Glaubenskrieger, so dass jeder zu jeder Zeit Waffen tragen kann. Das Problem ist auf dem Balkan und im Kaukasus, in Palästina und im Libanon, im Jemen oder im Sudan und natürlich auch im benachbarten Pakistan oder im Iran nicht viel anders gelagert, obwohl die Nachbarländer Afghanistans reguläre Armeen haben.

Die Nivellierung der Abgrenzung zwischen Armeen und Milizen, Militär und Zivil ist in Europa schon seit der Französischen Revolution allgemein bekannt, in Amerika seit dem Unabhängigkeitskrieg. Das Problem hat sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts vervielfältigt und dabei den Begriffen "Zivilbevölkerung", "Partisan", "Kombattant" und "Guerilla" oder "Terror" im "nationalen Volksbefreiungskrieg" eine schillernde Qualität verliehen, die vom formalen Kriegsvölkerrecht nur unvollkommen und ohne das erstrebte Resultat internationaler Rechtssicherheit im Kriege bei deutlicher Unterscheidung zwischen Militär und Zivilbevölkerung erfasst wird. Luftangriffe oder Artilleriefeuer auf ortsnahe Stellungen können nur begrenzt Rücksicht auf die Gebote des humanitären Kriegsvölkerrechts nehmen, zumal diese Gebote die Kriegswirklichkeit und die Waffenwirkungen nicht verändern können.

Der 11.9. hat diesem Phänomen eine weitere Qualität der Beliebigkeit bei der Erklärung von Krieg und Kriegszustand, Verteidigung und Kriegsrecht hinzugefügt. Insofern ist auch die in Washington anfangs gewählte Bezeichnung der Unternehmung Grenzenlose Freiheit symbolisch für die neu entstehende Realität der grenzenlosen Ausweitung des Kriegsbegriffs und des Verteidigungsbegriffs, die im Übrigen der schon eingetretenen Ausweitung und "Zerfaserung" des Sicherheitsbegriffs seit Ende der 80er Jahre entspricht. Unter diesen Bedingungen wird auch "die internationale Sicherheit" wie jede "Sicherheitspolitik" zu einer veränderlichen Größe ohne allgemein anerkannte Definitionskriterien und damit zum Objekt der Willkür der jeweils Handelnden: Den global players der Gegenwart öffnet sich ein Schauplatz ohne Grenzen für ein Kriegsspiel ohne Regeln im Namen der "Verteidigung der Freiheit, der Kultur und der Zivilisation", wie die Parolen der regierenden Staatslenker George W. Bush, Jacques Chirac, Tony Blair und Gerhard Schröder in einen dreifaltigen Sammelbegriff gefasst werden können. Die Präsidenten Wladimir Putin und Jiang-Zemin stimmen damit überein, denn Russland und China sehen sich einerseits von islamistischem Terror und der Rebellion islamischer Völker in ihren Grenzen gefährdet, andererseits von Afghanistan über Zentralasien von der exemplarischen Wirkung solcher Terrorangriffe potenziell bedroht, wie die russische Militärdoktrin 2000 ausweist.

Putin hat dies zur Rechtfertigung der repressiven Politik in Tschetschenien als "Terrorbekämpfung" benutzt.

Das erste Opfer dieses "Krieges gegen Terror" liegt darum nicht in Afghanistan am Boden, sondern im Verlust erkennbarer internationaler Maßstäbe für Recht und Unrecht bei militärischen Polizeiaktionen und bei Kriegführung (auch ohne Einsatz von Massenvernichtungsmitteln) gegen Länder, die angegriffen werden, aber selber keinen Krieg gegen andere führen, wie zunächst Afghanistan. Die "asymmetrische" Kriegführung liegt nicht nur in der Disproportionalität der von beiden Seiten eingesetzten Waffen und Streitkräfte, sondern auch in diesem Verhältnis zwischen einer offensiv Krieg führenden Macht und einem Land, das sich weder über die Distanz wehren kann noch einen Krieg über seine Grenzen hinaus, also keinen internationalen Krieg, führt. Schwer verletzt durch diese Asymmetrie und in kritischem Zustand befindet sich das Völkerrecht, das in Afghanistan empfindlicher getroffen wurde als durch den Kosovokrieg der NATO 1999, gerade weil die USA die Zustimmung der UNO zur unerklärten Kriegführung haben. Die gesamte Kriegsvölkerrechtsentwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg wird dadurch in Frage gestellt. Für die UNO ergeben sich schwer wiegende Probleme der "Friedenssicherung" wie in diesem Falle bei der Feststellung, dass der Terrorangriff auf Amerika vom 11.9. "eine Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens" im Sinne der UNO-Satzung sei, obwohl er doch auch nach der offiziellen amerikanischen Einlassung nicht von einem anderen Staat, auch nicht von Afghanistan, ausging, wo die Verantwortlichen in der Person Osama Bin Ladens und in dessen Umgebung mit dem Al Qaida-Hauptquartier gesucht wurden. Damit ist auch die "Aggression" als rechtliche und politische Frage für die UNO neu gestellt: Wo beginnt sie, wenn sie nicht mit einem Angriffskrieg zwischen Staaten beginnt? Ist ein großer Terrorangriff auf ein Land, der nicht von außen, sondern im Innern geführt, aber verdeckt von außen ferngelenkt wird, ein kriegerischer oder kriegsgleicher Gewaltakt und deshalb eine Verletzung der internationalen Sicherheit und Bedrohung des Friedens? Oder ist er nur ein ideologischpolitisch motiviertes internationales Gewaltverbrechen?

Der Nordatlantikrat hatte in seiner ersten Botschafterberatung in Brüssel nach dem Bericht der US-Regierung im September die Frage nach dem Ausgangspunkt des Terroranschlags und der Herkunft der Terroristen gestellt, bevor er sich davon überzeugte, dass man es tatsächlich mit einer kriegsartigen internationalen Aggression zu tun hatte und Allianzsolidarität mit den USA im Sinne des Bündnisfalls mit der Beistandspflicht geboten war.

Diese Fragen und ambivalenten Folgen ändern nichts an der Notwendigkeit amerikanischer Gegenschläge und an dem von den Terroristen und dem sie schützenden Taliban-Regime Afghanistans verursachten Zwang zu einer punitiven militärischen Gegenaktion, die v.a. der Beseitigung einer Bedrohung und der Abschreckung anderer Länder dienen soll, welche versucht sein könnten, Terrorakte als Mittel ihrer Politik zu benutzen, Terrororganisationen damit zu beauftragen, Terroristen zu schützen, zu beherbergen oder anders zu unterstützen, sich nukleare, chemische oder biologische Massenvernichtungsmittel zuzulegen und durch ihr aggressives Verhalten die internationale Sicherheit zu bedrohen. Unter diesem Aspekt fallen - unabhängig davon, ob Afghanistan als Land daran beteiligt war - punitive Reaktion und Prävention mit Gegenproliferation zur Verhinderung einer Drohung mit Massenvernichtungsmitteln zusammen: Gerade die Terroranschläge gegen zivile Objekte mit zivilen Flugzeugen als "Feuerbomben" und der damit verübte Massenmord legen diese Verbindung auch für die möglichen Absichten und künftig benutzten Mittel der Al Qaida-Terroristen Bin Ladens nahe. In einem solchen Fall wie dem massiven und brutalen Angriff vom 11.9. geht Abschreckung durch gegenoffensive Intervention der Achtung der Souveränität und territorialen Integrität eines anderen Landes inklusive der Unversehrtheit von dessen Bevölkerung vor. Dies ist zwar keine unumstrittene These und noch weniger eine Regel des Völkerrechts, aber eine internationale politische Realität der Staatenwelt, in der eine extreme Ausweitung des "Rechts auf Selbstverteidigung" eines auf diese Weise angegriffenen und weiter bedrohten Staates wie des Nothilferechts für "kollektive Verteidigung" seitens anderer Staaten und des Interventionsrechts liegt. Hier liegt für die UNO bei der Auslegung ihrer Charta wie für alle Staaten und für das vertragliche Völkerrecht der heikelste Punkt im Fächer der Konsequenzen des 11. September.

Für die atlantischen Verbündeten lag die Sache nicht einfacher, obwohl sie in Wirklichkeit keine andere Wahl als die unbedingte und unbeschränkte Solidaritätserklärung mit den USA hatten und in ihrem gemeinsamen Sicherheitsinteresse eine gemeinsame Reaktion auf die internationale terroristische Herausforderung, notfalls auch mit Waffengewalt bis hin zum Krieg gegen andere Länder, notwendig war. An dieser Notwendigkeit änderte sich im Verlauf des Jahres 2001 im Kern auch nichts. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stellte die NATO nach der Erklärung, dass dieser Terrorschlag ein Angriff auf alle Verbündeten im Sinne des Washingtoner Vertrags gewesen sei, den Bündnisfall mit der allseitigen Beistandverpflichtung nach dem Artikel 5 des Bündnisvertrags von 1949 fest. Die NATO-Partner sagten militärische Leistungen und im Falle eines amerikanischen Ersuchens auch Truppen für Kampfeinsätze an der Seite der US-Streitkräfte zu. Damit waren zum ersten Mal der Schutz Nordamerikas durch die europäischen Alliierten und gemeinsame militärische Bündnisaktionen zu einer Art Vorwärtsverteidigung weit von den äußeren Grenzen des Bündnisgebietes in Europa entfernt in Aussicht genommen. Die bündnispolitische Themenstellung der Allianz hatte sich gegenüber den vergangenen 50 Jahren umgekehrt: Nicht Europa, sondern Amerika war nach dem Angriff vom 11.9. in erster Linie bedroht, obwohl natürlich auch die europäischen Verbündeten der USA und andere europäische Länder inklusive Russland Ziele künftiger terroristischer Großangriffe werden könnten und sich gemeinsam mit den USA auf ihre Verteidigung vorbereiten müssen. Dieses Bedrohungsbild war die andere Seite der Medaille mit der atlantischen Solidarität für Amerika. Für die europäischen NATO-Partner, die kleineren zumal, die nicht wie Großbritannien und Frankreich gewohnt waren, überseeische Interessen in Ländern Asiens und Afrikas oder in Südamerika mit Truppenpräsenz und militärischen Interventionen zu schützen und dafür auch begrenzte Kriege zu führen, war der mögliche Ernstfall am Hindukusch ein extremes contingency-Modell für outofarea-Einsätze von alliierten Streitkräften, wobei es klar war, dass die USA keine gemeinsame Bündnisaktion in der Regie des Nordatlantikrates und unter dem Oberbefehl der alliierten Militärhierarchie wollten, sondern abgestufte Teilnahme an einer amerikanisch geführten internationalen Koalition nach dem Vorbild des Golfkrieges von 1990/91.

Diese lose Koalition bot den USA größere Handlungsfreiheit und den NATO-Partnern einen weiteren Spielraum für die Auswahl der militärischen und sonstigen Mittel, mit denen sie die gemeinsamen Aktionen bedienen und die USA unterstützen wollten. Der Rückgriff auf die NATO assets, d.h. die logistischtechnischen Anlagen wie Pipelines, Stützpunkte, Vorräte, Fernmeldeverbindungen, Kommandostrukturen, die operativen Verfahren der NATO, auch auf Truppenteile wie den in Deutschland stationierten fliegenden AWACS-Luftraumkontroll- und Flugabwehr-Leitverband mit seinen multinational gemischten Besatzungen zur Stärkung der Luftverteidigung Nordamerikas, stand den USA ohnehin frei. So flogen europäische Flugzeugbesatzungen erstmalig Flugabwehr in Nordamerika.

Die Weltlage und die veränderten Themenstellungen nach dem 11. September

Die politische Veränderung hätte kaum drastischer sein können; jedenfalls war sie auch nach mehrjähriger Diskussion über Verteidigung gegen Überfälle seitens rogue states oder Schurkenstaaten, seither politisch neutral states of concern oder Besorgnis erregende Staaten genannt, in dieser Aggressionsart gegen die Zivilbevölkerung nicht erwartet worden. Dadurch war in der Tat nach dem 11.9. die Weltlage verändert. Bis dahin war die internationale politische Agenda des Jahres von vier großen und einigen kleinen Themen, z.B. der Balkanlage mit ihrer jüngsten Krise in Mazedonien, bestimmt gewesen, von denen allerdings keines danach irrelevant geworden war, obwohl sie alle zunächst von der Aktualität des "Angriffs auf Amerika" und des danach in Washington ausgerufenen "Krieges gegen Terror" überblendet und in ihrer Bedeutung strategischpolitisch relativiert wurden.

USA-China

Das Verhältnis Washington-Peking dominierte die pazifische Seite der amerikanischen Außenpolitik nach der Übernahme des Präsidentenamtes durch George W. Bush mit der Fragestellung "strategische Konkurrenz" statt der von Clinton früher angestrebten "strategischen Partnerschaft" zwischen den USA und China über die Sonderstellung Taiwans unter amerikanischem Schutz in einer faktischen, aber nicht de jure anerkannten Unabhängigkeit hinweg. Der Flugzeugzwischenfall Anfang April im internationalen Luftraum über dem Südchinesischen Meer außerhalb der chinesischen Hoheitsgewässer hatte zu einer momentanen politischen Konfrontation ohne militärische Eskalation geführt, aber die latente Grundspannung im Verhältnis zwischen beiden Mächten bloßgelegt. Obwohl das unbewaffnete US-Aufklärungsflugzeug den Luftraum Chinas nicht verletzt hatte, sondern von chinesischen Abfangjägern über der freien Hohen See bedrängt worden war und schließlich in Hainan notlanden musste, bestand Peking auf einer "Entschuldigung" der USA für den Verlust eines abgestürzten chinesischen Jägers und machte dies zur Bedingung der Herausgabe des Flugzeugs und der Freilassung seiner Besatzung. Präsident Bush lehnte eine Entschuldigung in der Form einer Bitte um Vergebung als unzumutbar ab, sprach aber sein Bedauern über den Verlust des chinesischen Abfangjägers und des Piloten (der den Zwischenfall durch luftrechtswidriges aggressives Verhalten verursacht hatte) aus. Der Verlauf der diplomatischen Kontroverse und die sie begleitende chinesische Kampagne machten deutlich, dass es sich für Peking und das Militär der Volksrepublik vordergründig um eine Prestigefrage in dem Bestreben handelte, nationale Gefühle der Solidarität zwischen Volk und Führung in einer patriotischen Reaktion gegen die fremde Macht aufwallen zu lassen, hintergründig aber um einen Versuch, den Verzicht der USA auf die Aufklärungsflüge entlang der chinesischen Küste zu erzwingen. Darum wurden diese Flüge von Peking stets als "Spionage" bezeichnet, obwohl es sich nicht um ein verdecktes Eindringen in den chinesischen Luftraum zur Ausspähung Chinas handelt, sondern um völkerrechtlich zulässige und rüstungskontrolltechnisch notwendige Beobachtungsflüge mit Seiteneinsicht auf das Küstengebiet Chinas, die für die USA als Schutzmacht Taiwans, Südkoreas und Japans sicherheitspolitisch und militärisch besonders wichtig sind. Darum lehnte Bush auch die chinesische Forderung, diese Flüge einzustellen, ab und ließ sie nach kurzer Zeit (nachdem die US-Besatzung zurückgekehrt war) im Schutze von US-Geleitjägern wieder aufnehmen. Ein US-Flugzeugträger wurde in das angrenzende Seegebiet zur verstärkten Abschirmung Taiwans verlegt. Damit war der chinesische Versuch, den sicherheitspolitischen Status quo durch Druck zu verändern, gescheitert, und die Bush-Administration hatte ihre erste internationale Bewährungsprobe bestanden (allerdings nicht unter dem Beifall der europäischen NATO-Partner, die sich in dieser wie in anderen Fragen von Washington distanzierten und Kritik an der neuen US-Administration laut werden ließen - besonders in Berlin und Paris). Die asiatischen Schutzklienten der USA quittierten diese kleine Machtprobe mit Befriedigung, definieren sie doch ihre Sicherheit mit der US-Militärpräsenz im Westpazifik und dem amerikanischen Gegengewicht zu China, dessen Rüstung und Machtentfaltung v.a. die Staaten Südostasiens schon seit einigen Jahren beunruhigt.

Nach einer mehrwöchigen Agitationskampagne gegen die USA wegen angeblicher Übergriffe und Verletzung der Souveränität Chinas stellte Peking die Polemik gegen "den amerikanischen Hegemonismus" wieder ein und konzentrierte sich auf das strategische Vorrangziel der Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO und der Fortführung des von Bill Clinton eingeleiteten "strategischen Dialogs", den Bush jun. zunächst kritisch überprüfen wollte. Diese für beide Seiten bedeutsame und längerfristig alle anderen bilateralen Themen dominierende Frage schloss den strittigen internationalen Status Taiwans nach der beiderseits akzeptierten Doktrin "Ein China - zwei Staaten" als Provisorium und die Sicherheit der Insel gegenüber militärischen Pressionen Chinas durch amerikanische Rüstungshilfe und Abschirmung zur See und in der Luft inklusive Raketenabwehr und rüstungstechnische Kooperation USA-Taiwan ein. Für beide Seiten war und bleibt auch die Entwicklung auf der koreanischen Halbinsel mit der Rüstung und der Waffenexportpolitik des kommunistisch beherrschten Nordkorea eine Sicherheitsfrage hoher potenzieller Explosivkraft wegen des Beginns einer seit 1994 wieder unterbrochenen nordkoreanischen Kernwaffenrüstung in Verletzung des internationalen Sperrvertrags NPT. In dieser Frage erhofft Washington nach den Konzessionen, die es Nordkorea gemacht, und der Wirtschaftshilfe, die es schon geleistet hat und für die Zukunft gegen einen international kontrollierbaren Verzicht Nordkoreas auf mit dem Sperrvertrag nicht vereinbare nukleare Aktivitäten anbietet, weiter auf die mäßigende Einwirkung Pekings auf Pjöngjang und chinesische Unterstützung für eine kooperative Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik. Die Wiederaufnahme des Dialogs nach dem Zwischenfall vom April 2001 öffnete diese Perspektive einer positiven Weiterentwicklung des Verhältnisses zwischen beiden Mächten und der Zulassung Chinas nicht nur zur WTO, die im November in Katar vorgenommen wurde, sondern später auch zum Kreis der größten Industrieländer, in den Russland aufgenommen wurde und in den China mit einem konstanten realen Wirtschaftswachstum um der Anerkennung seiner Ebenbürtigkeit als Großmacht willen strebt. Die seit dem 11.9. deutlich gewordene Abhängigkeit der USA vom guten Willen der anderen Vetomächte im UNO-Sicherheitsrat für militärische Erwiderung auf Aggression gegen Amerika in Übereinstimmung mit der UNO-Satzung, aber auch von der Bereitschaft Chinas, in Asien an einer Ordnungspolitik mitzuwirken und seine Interessen entsprechend gegenüber den USA, Indien, Japan und Russland auf einer Linie der multilateralen Sicherheitskooperation zu bestimmen, bot auch China eine neue Chance, ohne politische Konfrontationen und übermäßig gesteigerten Rüstungsaufwand eine erstrangige internationale Rolle zu spielen. Die ersten Reaktionen Pekings nach dem 11.9. gegenüber Washington ließen darauf schließen, dass die chinesische Führung diese Möglichkeit erkannt hatte. Im Ablauf der Bilder war die Symbolik nicht zu übersehen, als Präsident Bush im Oktober Schanghai besuchte, um am Gipfeltreffen der asiatischen und pazifischen Staaten teilzunehmen: Zu seiner Sicherheit durfte er sich von bewaffneten US-Jagdflugzeugen in den chinesischen Luftraum bis zur Landung begleiten und später wieder heimholen lassen. In Schanghai legte er das Gastgeschenk des chinesischen Präsidenten Jiang Zemin, eine chinesische Seidenbluse mit Mandarin-Zeichen, an wie alle anderen Staatsgäste.

Damit war der Streit um den Luftzwischenfall vom 1.4. auch in der Bildersprache der Politik öffentlich beigelegt.

USA-Russland

Auf der atlantischen Fassade der amerikanischen Weltpolitik war zwar das Verhältnis zu Russland wegen der anhaltenden Schwächung der einstigen Großmacht zum Vorteil amerikanischer Handlungsfreiheit in Europa mit der fortgesetzten NATO-Erweiterung und der westlichen Regie der Stabilisierungspolitik auf dem Balkan verändert, darum die Beziehungen zu Moskau im Gegensatz zu der 1993 von Präsident Clinton angebotenen "strategischen Partnerschaft" auch weniger bedeutsam. Aber andererseits hatte das Thema "National Missile Defense" oder später zentrale Flugkörperabwehr unter Umgehung, Umdeutung oder Aufkündigung des Moskauer ABM-Vertrags von 1972 die Beziehungen zu Moskau wieder problematisch werden lassen: Die Kontroverse um das amerikanische Vorhaben einer Abwehr strategischer Raketen durch boden-, luft-, see- und raumgestützte Systeme bzw. Komponenten eines Anti-Raketen-Schirms im Widerspruch zu diesem Vertrag von 1972 beherrschte die Beziehungen zwischen beiden Ländern und wirkte auch auf die zwischen den USA und ihren NATO-Partnern als eine Ursache von politischen Differenzen ein. Die meisten NATO-Partner wollten neue Spannungen im Verhältnis zu Russland vermeiden und den ABM-Vertrag als Grundlage für die Begrenzung strategischer Kernwaffenrüstungen erhalten. Der russische Präsident Putin hatte allerdings schon eine vorsichtige Positionsveränderung zum Vorteil russischer Interessen, wenngleich ohne Preisgabe des Vertrags, der auch in Europa von einigen Regierungen als ein "Kronjuwel der Abrüstung" betrachtet wurde, angedeutet und dabei Vorschläge für eine substrategische Raketenabwehr in Europa in Kooperation mit den europäischen Ländern und den USA oder der NATO als Bündnis gemacht. Diese russischen Vorschläge waren zwar noch nicht in sich schlüssig, dazu unpraktisch und für reale Sicherheit vor Raketenangriffen auf Europa auch nicht ausreichend, doch sie boten eine erste Grundlage für sachliche Diskussionen über das umstrittene Thema und eine diplomatische Öffnung für die Suche nach gemeinsamem Boden, auf dem eine Flugkörperabwehr-Architektur künftig gemeinsam zwischen Russland, den USA und der NATO in Europa errichtet werden könnte.

Diese Frage an die Zukunft in fünf bis zehn Jahren nach Verfügbarkeit ausgereifter und einsatzfähiger Technik blieb deshalb offen, aber nicht mehr ausschließlich negativ besetzt und Thema eines neuen Streites wie in den 80er Jahren Präsident Ronald Reagans "Strategische Verteidigungsinitiative" SDI, die das Bündnis und die Rüstungskontrollpolitik mit der Sowjetunion zeitweilig belastet hatte. Sie steht auch in einem Zusammenhang mit der Fortsetzung der NATO-Erweiterung nach Osten, denn wenn sich die NATO in Europa mit einem Raketenabwehrsystem gegen Angriffe aus der Distanz abschirmen soll (gleich ob mit "strategischer", d.h. über 5.500 Kilometer Reichweite der Angriffsraketen, oder mit "substrategischer" unterhalb dieser Grenze und nach dem amerikanischrussischen "Demarkationsabkommen" von 1997 bis zu 3.500 Kilometer Reichweite frei und vereinbar mit dem ABM-Vertrag), muss eine Verständigung mit Russland über die Ausdehnung oder Begrenzung des NATO-Gebietes erreicht werden. Dies gilt umso mehr, wenn es zu einer kooperativen Flugkörperabwehr zwischen den USA, Russland und der NATO mit den EU-Staaten im Bündnis kommen soll, wie es in den verschiedenen amerikanischen, russischen und französischen Konzepten vorgesehen ist.

Abgesehen von dieser zunächst hypothetischen Rüstungsproblematik mit schärferen politischen als technischen Konturen im Verhältnis Washington-Moskau wie Washington-Peking und in den transatlantischen Bündnisbeziehungen zu Europa, die von den ersten Erklärungen der Regierung Bush jun. zu einem großen Thema der internationalen Politik gemacht worden war, blieb die Weiterentwicklung des Verhältnisses zwischen den USA und Russland im Bereich der europäischen Sicherheitspolitik wie dem der Orientpolitik problematisch: Von Zentralasien über die Golfregion nach Südasien, über den Nahen Osten mit dem Brandherd Palästina bis nach Nordafrika traten Gegensätze im Zuge der geplanten Fortsetzung der NATO-Erweiterung vom Balkan bis zum Baltikum auf, während die unbewältigte Situation im nordrussischen Kaukasus mit dem russischen Krieg gegen die sowohl nationale als auch islamische Rebellion der Tschetschenen und um die Einheit und Unabhängigkeit Georgiens vom russischen Nachbarn die realen Sicherheitsrisiken in der Kaukasusregion aufzeigte. Die konkurrierenden wirtschaftlichen Interessen der USA und Russlands an den Energieressourcen des Kaspischen Beckens und damit in einem ehemals sowjetischen Raum, in dem Russland schon seit der Präsidentschaft Boris Jelzins die Reintegration unter Moskauer Kontrolle mit der Abschirmung gegen islamische Einwirkungen und die aus Afghanistan über die Grenzen in die ex-Sowjetrepubliken überschlagende islamistische Gefahr zu verbinden sucht, die politischen Einfluss und Anteil an der künftigen Energieausnutzung suchende Politik des islamischen Iran und der mit den USA verbündeten Türkei in Rivalität zueinander wie zu Russland, im Falle des Iran auch zu Amerika, komplizieren die Beziehungen zwischen Washington und Moskau weiter. Präsident Clinton hatte 1997-98 das Gewicht Amerikas in die Waagschale geworfen und einen Exportweg des Erdöls und Erdgases aus den kaspischen Quellen (wenn diese erst einmal sprudeln würden) sowohl an Russland als auch am Iran vorbei direkt nach Westen über die Türkei durchgesetzt. Damit war eine Neuauflage des great game der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (damals zwischen dem russischen und dem britischen Imperialismus um die Vorherrschaft über den Orient zwischen dem Kaukasus und Indien) nun zwischen Russland, den USA, China, das einen Anteil an den noch nicht gehobenen Schätzen des Kaspischen Beckens für sich zu reservieren sucht, und den regionalen Staaten vorgezeichnet. Die Annäherung zwischen Russland und dem Iran, die russischen Exporte von Nukleartechnik und Waffen in den Iran, die in Washington zu dem Vorwurf von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld führten, Russland sei ein "Proliferateur" von nuklearer Waffentechnik in Verletzung des internationalen Atomsperrvertrags NPT, kündigten scharfe Auseinandersetzungen zwischen Washington und Moskau an. Diese hatten ohnehin Gründe in der russischen Opposition bei der UNO und in Europa gegen die Fortsetzung der internationalen Sanktionspolitik der Handelsembargos gegen den Irak und den Iran, damit der amerikanischen Strategie des double containment, der doppelten Eindämmung oder Isolierung der beiden großen mittelöstlichen Länder.

Die USA mussten deshalb auf der ganzen Linie Partner suchen, zugleich eine politische Konfrontation mit Russland ohne ausreichende Unterstützung vermeiden, dazu Moskau nicht ohne guten Grund herausfordern, um das Verhältnis Europas zu Russland und damit in der Rückwirkung auch zu den USA selber nicht unnötig und kontraproduktiv gegen amerikanische Interessen zu belasten. Die Regierung Bush jun. musste sich auf dieser Linie finden, wozu sie Zeit brauchte, die ihr innenpolitisch im Kongress ohne republikanische Senatmehrheit nicht gegeben war. Moskau konnte in dieser Situation des ersten halben Jahres der neuen US-Administration auf der russischen Sperrposition gegen Vertragsänderung und gegen das Projekt strategische Raketenabwehr verharren, während es eine zweite NATO-Osterweiterung nicht selbständig blockieren konnte und in Südosteuropa mit der Rolle einer Hilfskraft weiter vorlieb nehmen musste. Auch im Nahostkonflikt, in dem Putin sich um mehr russischen Einfluss auf die politische Lösung bemühte (aber nicht zum Zuge kam), war Russland marginalisiert. Die USA hatten selber Mühe genug, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen und den nach dem Fehlschlag des Sommers 2000 in Camp David zusammengebrochenen "Friedenprozess" wiederzubeleben.

Naher Osten

Das Palästinaproblem, das zugleich das Israelproblem der arabischmuslimischen Welt und der internationalen Politik ist, war seit dem Scheitern der amerikanischen Vermittlung am Ende der Clinton-Präsidentschaft zwischen Juli und Dezember 2000 und dem Beginn der von Arafat und den Aktivisten seiner "Al Fatah" in Rivalität mit den Islamisten der "Hamas" und "Islami Dschihad" organisierten "Al Aksa-Intifada" Ende September des Jahres auf absehbare Zeit unlösbar geworden. Es lag zum Jahreswechsel vor der israelischen Wahl als eine schwere Hypothek nicht nur auf dem israelischen Premierminister Ehud Barak, der in Camp David mit seinem Konzessionsangebot für Ost-Jerusalem und einen souveränen Staat Palästina weiter gegangen war als je ein israelischer Regierungschef vor ihm, aber an der Verweigerungshaltung der PLO-Führung um Arafat gescheitert war, und auf der israelischen Arbeiterpartei, sondern auch auf der Politik der USA im Nahen und Mittleren Osten. Präsident Clinton hatte mit seinem Drängen auf den "historischen Kompromiss", der einen Moment zum Greifen nahe schien und dann wieder im Dunst der rhetorischen Konfrontationen zwischen Israelis und Palästinensern verschwand wie das Trugbild einer Fata Morgana, die amerikanische Diplomatie bis über die Grenzen ihres Einflusses auf die Kontrahenten engagiert und das Risiko des Misserfolgs wegen des Zeitdrucks unter dem Ablauf seiner Uhr im Weißen Haus geradezu herausgefordert: Arafat hatte, gedrängt von seinen Beratern und PLO-Unterführern, auf ein noch weiter gehendes Entgegenkommen Baraks und Clintons gesetzt, gleichzeitig aber seine Zustimmung zurückgehalten und sich vor einem persönlichen Engagement für einen Kompromiss gescheut, wohl auch aus Furcht um sein Leben, jedenfalls um sein Amt, um seine Führungsrolle an der Spitze der PLO und um sein Ansehen in der arabischen Welt. Die PLO-Führer waren zudem überzeugt, dass Barak ohne parlamentarische Mehrheit in der Knesset mit einem sich durch Ministerrücktritte auflösenden Kabinett in einer schnell zerfallenden Regierungskoalition ohnehin nicht stark genug sein würde, sein Wort zu halten und die angebotenen Konzessionen in Israel durchzusetzen; sie gaben ihn für die Februarwahlen 2001 verloren und sie behielten Recht mit ihrer Annahme.

Die triumphale Wahl des Oppositionsführers Ariel Sharon, allerdings ohne Parlamentsmehrheit und abhängig von der extremen Rechten der Siedler auf arabischem Boden, den orthodoxen Juden, für die Jerusalem als ungeteilte Hauptstadt Israels eine Glaubensforderung war, und den militanten Neueinwanderern aus Russland mit einer eigenen radikal nationalistischen Partei, beendete die Kompromisspolitik auf israelischer Seite für die folgenden Monate in einer rasch eskalierenden Krise gegenseitiger blutiger Provokationen und nahm der amerikanischen Vermittlung die letzte Chance, solange diese Situation andauerte. Sharons Wahl war auch für die arabischen Friedensfeinde, die kein Abkommen mit Israel wollen, für den Iran, den Irak und alle "Antizionisten" in der islamischen Welt, die wie die radikalen arabischen Nationalisten und Islamisten in Palästina, im Libanon und in Jordanien die Existenz Israels bekämpfen, ein Geschenk, enthob sie doch die Verweigerungsfront des Zwanges zur Entscheidung über Krieg oder Frieden und verlängerte den unsicheren Schwebezustand zwischen Terror und Guerilla auf der einen, Vermittlung und Verhandlungen auf der anderen Seite mit dem vorläufigen Erfolg des Andauerns ungeklärter Verhältnisse zum Vorteil der Gewaltpolitik.

Die neue US-Administration zog aus den Erfahrungen der Clinton-Präsidentschaft nach dem Osloer Abkommen über die Autonomie der Palästinenser vom September 1993 und der fortdauernden blutigen Kontroverse die Konsequenz, dass der Präsident sich zurückhalten und die amerikanische Diplomatie vorsichtig, ohne Engagement, operieren sollte, dass aber die USA Israel in der Not stets beistehen müssten (was auch Clinton getan hatte). Damit kam das Gewicht der USA nicht zum Tragen, die schon fixierten, aber noch nicht definitiv akzeptierten Kompromissformeln von Camp David und der letzten Konferenz am Roten Meer Ende Dezember 2000 lösten sich wieder im Wortstreit auf, und eine Zeit des Abwartens begann, während die entfesselte "Intifada" weiter durch Palästina und Israel raste wie eine sich immer wieder selber entzündende Brandfackel, die niemand mehr löschen konnte. Die psychologische Eskalation lief der strategischen Kontrolle und dem politischen Kalkül davon, obwohl beide Seiten weiter kalkulierten und manövrierten, um sich selber für künftige Verhandlungen unter amerikanischer Vermittlung in eine Position vermuteter Stärke zu bringen. Bei diesem Stand der Dinge im Nahen Osten schlug der Terrorangriff in Amerika am 11.9. ein. Präsident Bush hatte sich in den Wochen davor zwar schon zu einer aktiven Politik mit einer neuen Initiative der USA für einen unabhängigen palästinensischen Staat mit einer Hauptstadt Ost-Jerusalem (im Sinne der Barak-Vorschläge) und die Bestätigung des "Mitchel-Plans" für einen Waffenstillstand und den definitiven Stopp des Ausbaus und Neubaus jüdischer Siedlungen in Palästina als Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der Verhandlungen unter amerikanischer Schirmherrschaft durchgerungen, doch Bin Laden kam ihm in die Quere.

Notwendigkeit einer neuen Globalstrategie der USA

Im Mittleren Osten blieb das Problem Irak für die regionale Sicherheit wie für die amerikanische und die internationale Politik unverändert bei wachsenden Vorteilen für den Irak in seiner nur noch formalen Isolierung bei einem immer löchriger werdenden Erdöl-Ausfuhr- und Handels-Embargo und gelegentlichen angloamerikanischen Luftangriffen auf die irakische Flugabwehr und Luftraumkontrolle, die seit 1991 weithin außer Funktion gesetzt oder zur Passivität gezwungen waren. Mit seiner ersten Entscheidung als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte hatte Bush jun. während seines ersten Auslandsbesuches beim Präsidenten Mexikos im Frühjahr Luftangriffe auf eine Reihe von Zielen nahe Bagdad, in einer Zone, die von den angloamerikanischen Kampfflugzeugen seit mehreren Jahren nicht mehr angegriffen worden war, freigeben müssen. Die US-Generäle am Golf hatten diese Operation beantragt, um der Leistungssteigerung der irakischen Boden-Flugabwehr durch Nachrüstung entgegenzuwirken und damit die Überlebensfähigkeit der im irakischen Luftraum gefährdeten eigenen Flugzeuge zu verbessern. Diese Luftoperationen zur Niederhaltung der irakischen Flugabwehr und zur Behauptung der angloamerikanischen Luftherrschaft über dem Irak für eine Kontrolle des Flugverbotes im Norden und im Süden zum Schutze der Kurden und der Schiiten vor der Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins bezeichneten das Dilemma der amerikanischen Sanktionspolitik. Zwar beruht diese auf UNO-Resolutionen sowie Waffenstillstandsbedingungen der UNO von 1991 und wird von Großbritannien aktiv unterstützt. Aber sie hat im Laufe der Jahre immer weniger Wirkung auf die Fähigkeit des Irak zur Reparatur seiner vom Luftkrieg im Wüstensturm zerschlagenen Infrastruktur und zur Wiederaufrüstung mit modernen Waffensystemen gehabt, dafür aber die Not der irakischen Bevölkerung unter den Entbehrungen der Handelssperren immer größer werden lassen, so dass die Sanktionspolitik international an Unterstützung verlor und für viele Länder als ein Ärgernis und als Verletzung der Lebensrechte des irakischen Volkes erscheint. Paris fordert schon seit langem die Aufhebung der Sanktionen für eine Normalisierung der Beziehungen zum Irak und der Lage am Golf ähnlich wie Moskau und Peking, wie dies auch in gemeinsamen Erklärungen auf Staatschefebene geschah. Aber im atlantischen Bündnis war es nicht nur Frankreich, das diese Forderung mit Nachdruck vertrat, sondern auch die engen NATO-Partner Italien und Türkei wie die meisten übrigen europäischen Verbündeten und die arabischen Klienten der USA. So wurden diese Sanktionspolitik und die Strategie des dual containment, die schon wegen ihrer Durchsetzung mit militärischem Druck auf den Irak der kriegsvölkerrechtlichen Blockade nahe kommen, international auf der ganzen Linie kritisiert. Dies gilt umso mehr für die Luftangriffe auf den Irak und für mögliche weitere Drohungen gegen Bagdad. Zudem haben die Handelssperre und die Verkehrsbeschränkungen für die westlichen Nachbarn des Irak wirtschaftliche Nachteile, die in den Handels- und Zahlungsbilanzen der Türkei und Jordaniens mit mehreren Mrd. USD im Jahr zu Buche schlagen. Schließlich bleiben Irak und Iran mit ihren Erdölreserven und ihren Bevölkerungsmassen neben dem nur dünn besiedelten und zur Verteidigung allein nicht fähigen Saudi-Arabien nebst dem unmittelbar exponierten Kuwait die beiden bedeutendsten Mittelostländer, von denen jedes die Erdölpolitik belasten und den Zugang der Erdölimporteure zu den Golfquellen gefährden oder beeinträchtigen kann wie im ersten Golfkrieg.

Die Lage in der Golfregion war deshalb schon seit Jahren permanent gespannt, die amerikanische Politik im Grunde erfolglos im Wesentlichen, wobei man in Washington auch keine sichere Orientierung auf erreichbare Ziele über die Abschirmung Saudi-Arabiens und der arabischen Emirate hinaus mehr hatte. Die Methoden dieser Politik hatten sich schon längst als kontraproduktiv erwiesen und die ohnehin unter Arabern umstrittene, von den Islamisten und panarabischen Nationalisten angefeindete Machtstellung der USA am Golf auf arabischem Boden psychologisch im Verhältnis zu den Bevölkerungen in den arabischen Ländern, auch und gerade in Saudi-Arabien selber, geschwächt. Zwar war im Jahr 2001 noch keine kritische Situation eingetreten, doch die Abnutzung des "halben Sieges" über Saddam Hussein zehn Jahre zuvor und des Bündnisses mit den arabischen Schutzklienten seither war unübersehbar geworden. Wie im Nahen Osten zwischen Israel und Palästina mit Syrien, Libanon, Jordanien und Ägypten in der politischen Frontlinie des Konfliktes, standen die USA zu Beginn der Bush-Präsidentschaft vor einem agonizing reappraisal, vor einer leidvollen Überprüfung ihrer Politik in der Golfregion zwischen Saudi-Arabien, der Türkei, Irak und Iran in einem Imbroglio von Verbündeten, Klienten, Feinden und Rivalen Russland, China, Indien und Pakistan, die drei Letzteren mit ihrer Erdöl-Einfuhrabhängigkeit über möglichst kurze Handelswege, eingeschlossen. Es war schon lange vor dem 11.9. klar, dass die "singuläre Weltmacht" USA - weit davon entfernt, das ihr in Paris, Moskau und Peking zugeschriebene Machtmonopol genießen oder auch nur eine solide "Hegemonie" über den "Erweiterten Mittleren Osten" errichten zu können - sich zu einer Revision ihrer Nah- und Mittelostpolitik im Zusammenwirken mit ihren Partnern, aber auch bei Rücksichtnahme auf ihre Feinde und Rivalen durchringen müsste.

Der Terrorangriff vom 11.9., dem weitere auf Amerika selber und auf amerikanische Interessen, Objekte und Verbündete in Übersee, zumal im Orient und in Europa folgen könnten, hat alle vier Problemkreise ineinandergesprengt und die politischstrategischen Entscheidungsfragen miteinander verbunden. Nie zuvor seit dem Koreakrieg 1950 war eine integrierte Globalstrategie der USA im Dienste einer realistischen Außenpolitik dringender gewesen. Die großen Herausforderungen des Umbruchs in Europa zehn Jahre früher waren für Amerika mit dem atlantischen Bündnis gegenüber einer sich auflösenden Sowjetunion bei allen Schwierigkeiten und Risiken leichter zu bewältigen als die von dem Problem der islamistischen Taliban-Diktatur in Afghanistan zwischen dem Iran, dem exsowjetischen Zentralasien und Pakistan mit der Feindschaft zu Indien über Kaschmir und dem Al Qaida-Terror aufgeworfenen politischen Bedrohungen der Weltgeltung der USA, v.a. in Asien und im Orient, der unvollkommen gesicherten Machtstellung am Golf und der politischen Kontrolle der UNO in der internationalen Sicherheitspolitik. Doch es ist mehr die vielschichtige und widerspruchsreiche Komplexität der politischen Situation unter dem "südlichen Krisenbogen" zwischen dem Indischen Subkontinent, dem Kaspischen Becken, dem Arabisch-Persischen Golf und dem Nahen Osten mit dem Mittelmeer-Raum bis nach Europa, die mit ihren verschlungenen Kausalzusammenhängen den Gordischen Knoten für Amerikas Politik geschnürt hat, den das amerikanische Schwert nicht einfach durchhauen konnte, obwohl Amerika in Wahrheit keine Alternative zu den Luftangriffen auf Afghanistan hatte, jedenfalls nicht zu Beginn einer militärischen Gegenaktion.

Dieser Zwang stellte die amerikanische Strategie vor große Probleme zwischen militärischen Möglichkeiten und Erfordernissen einerseits, politischen Notwendigkeiten auf der anderen Seite, zwischen denen in den bekannten tradeoffs der Fächer der Optionen mehr oder weniger weit aufgeschlagen werden kann, wobei die optimale Operation bescheidener ausfallen kann als anfangs angestrebt wurde. Diese Erfahrung mussten die Bush-Administration und die Alliierten der USA im Herbst 2001 nach den ersten vier Wochen Luftkrieg in Afghanistan mit den Rücksichten auf Pakistan und die unsicheren Verbündeten im Norden, der "Nordallianz", v.a. aber mit dem Islam - in Europa wie im Orient - machen. Als größtes Hindernis für den Erfolg der Gegenaktion erwies sich die islamische Mentalität als politischer Faktor: Obwohl "kein Krieg gegen den Islam" geführt werden sollte, obwohl man in Washington wie in London und überall in Europa sorgsam zwischen den Terroristen der Al Qaida, die sich auf den Islam beriefen, und dem Islam als Religion samt allen muslimischen Völkern unterschied, stellte sich dem Westen über Staatsgrenzen und Regierungen hinweg eine Mauer islamischer Opposition gegen den Luftkrieg und jede Gewaltanwendung gegen Afghanistan oder ein anderes muslimisches Land im Namen einer unbedingten islamischen Glaubenssolidarität entgegen. Diese Opposition erstarkte v.a. in Pakistan, obwohl die Regierung des Staatschefs General Musharaff die Kontrolle behielt und zu ihrer Allianz mit den USA in der "Koalition gegen Terror" stand und die US-Streitkräfte die ihnen eingeräumten Flugplätze benutzen konnten. In dieser von religiösen Fundamentalisten und militanten politischen Islamisten durch Agitation aufgerichteten Opposition trat der absolute Charakter des Islam als Religion und Rechtskultur in Erscheinung: der Islam als "Haus des Friedens", die nichtislamische Außenwelt als "Haus des Krieges", in diesem Sinne auch das ambivalente und von den militanten Islamisten extrem als Kriegslehre ausgelegte Postulat vom "Dschihad" als "Heiligem Krieg" gegen Ungläubige, die angeblich ihrerseits in Afghanistan "den Islam" angriffen.

Die Atmosphäre im Orient lud sich rasch mit antiwestlichen und antichristlichen wie antijüdischen Ressentiments auf. Bin Laden nahm die virtuelle Statur eines "Rächers der Enterbten", eines Vorkämpfers für die Rechte und die Würde des Islam an - eine idealisierte Figur wie in den 50er Jahren der Ägypter Gamal Abdel Nasser für den "Freiheitskampf" und die "Einigung der Arabischen Nation", später in den 80er Jahren bis zu seiner Niederlage im Golfkrieg 1991 der Iraker Saddam Hussein als der arabische Herausforderer der amerikanischen Weltmacht, "des Imperialismus, des Zionismus und des Kolonialismus" in der Nachfolge des fast schon vergessenen Nasser. Ähnlich wie mit Saddam Hussein fanden sich die USA im Falle Bin Ladens einem ehemaligen politischen Werkzeug gegenüber - Saddam gegen den fundamentalistisch schiitischen Iran, der die arabischen Verbündeten und Klienten am Golf durch einen Revolutionsexport zu bedrohen schien, Bin Laden als einer der politischen Organisatoren des Guerilla-Widerstands der "Mudschaheddin" Afghanistans gegen die Sowjetarmee und das kommunistische Regime in Kabul in den 80er Jahren.

Bin Laden hatte anfangs seinen Kampf nach dem Erfolg über die Sowjetarmee in Afghanistan 1989 gegen die US-Militärpräsenz in Saudi-Arabien seit dem Golfkrieg 1990-91 gerichtet.

In seiner Kampfansage an die USA, Großbritannien, das Haus Saud und die übrigen Verbündeten Amerikas in Europa wie im Orient hatte er alle arabischen Golfstaaten von Kuwait bis Oman eingeschlossen und diesen vorgeworfen, dass sie der fremden Macht Stützpunkte überließen. Seine Beziehungen zum Irak und zu Syrien waren nicht bekannt, dagegen wohl seine Feindseligkeit gegenüber der Regierung des Präsidenten Hosni Mubarak in Kairo, denn ein Teil der militanten Islamisten in Ägypten hatte sich mit seiner Al Qaida verbündet. Der frühere Polizeibeamte Mohammed Atef, der im Januar 2001 eine seiner Töchter mit einem Sohn Bin Ladens in Kandahar verheiratete und der Terroranschläge in Ägypten, Jordanien, Somalia (v.a. den Angriff auf die US-Ranger im Oktober 1993 in Mogadischu und den auf das World Trade Center in New York im selben Jahr) vorbereitet hatte, und der Arzt Ayman Al-Zawahiri, Begründer der ägyptischen "Weltfront des Islamischen Dschihad", die er 1997 in die Al Qaida Bin Ladens eingliederte, erweiterten den Kriegshorizont der Organisation auf den Nahen Osten mit Palästina als Brennpunkt und Israel als Erzfeind neben Amerika. Damit schloss sich der Kreis der Feindschaft gegen Amerika, "den Zionismus" samt "den Kreuzfahrern" und also "Christen und Juden" insgesamt in der Dschihad-Psychose Bin Ladens. Nach dem Zusammenbruch des Nahostfriedensprozesses zwischen 1999 und 2000 fielen im terroristischen Aktionsprogramm Bin Ladens der Mittlere Osten mit Saudi-Arabien und der Nahe Osten mit Palästina und Libanon als Ziele zusammen. Damit gewann die Al Qaida eine breitere politische Basis und ein umfassendes Aktionsfeld, an dem es Bin Laden bis 1997 gemangelt hatte; er war in das Zentrum des Gegensatzes zu Amerika gerückt.

Unter diesen Umständen war die konkrete politische Zielansprache der Bush-Administration in der Person Osama Bin Ladens Führer der Al Qaida und in dieser Organisation selbst in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Bild, das der islamistische Terror im Orient seit etwa 1993 geboten hat, zu finden. Sie ist deshalb nachvollziehbar wie die Identifizierung des "Taliban"-Regimes mit dem Unterstützungs-Hintergrund für die Al Qaida in Afghanistan. Über diese Identifizierung konnten die USA mit internationaler Zustimmung ihre strategische Gegenaktion "Krieg gegen Terror" einleiten: Der Feind war personifiziert durch Osama Bin Laden und etwa zwei Dutzend seiner erkannten Unterführer, Beauftragten und anderer Helfer. Die feindliche Macht war die Al Qaida als internationale Terrororganisation in einem multinationalen Untergrund, zunächst aber mit ihrem wichtigsten Rückhalt lokalisiert in Afghanistan im Schutze der "Taliban", dazu mit verborgenen Zellen in Europa und Amerika sowie in Asien und Nordafrika.

Die politische Differenzierung des Feindbildes nach abgestuften Interessen auch der USA gegenüber den verschiedenen Staaten, etwa Iran oder Sudan, blieb der Diplomatie und den Verhandlungen über die Bildung der in Washington angestrebten "internationalen Koalition" überlassen. Dabei fanden sich die USA durchaus mit Grauzonen halber oder ganzer Neutralität von einzelnen Ländern im militärischen Konflikt ab, sofern diese nur öffentlich "gegen den Terror" Stellung bezogen, selbst wenn sie US-Aktionen nicht unterstützten oder sogar verurteilten wie der Iran, Indonesien oder Malaysia dies im Falle der amerikanischen Luftangriffe auf Afghanistan taten.

Anfangs versicherte die US-Administration öffentlich, dass die USA "keinen Krieg gegen Afghanistan und das afghanische Volk", ja nicht einmal gegen das Taliban-Regime führten und dass sie dieses Regime keineswegs stürzen wollten, obwohl in diesem Kernpunkt der Politik und Kriegführung die Ansichten in der Bush-Administration von Anfang an geteilt waren und erst später, im Laufe des Monats Oktober, Einigkeit über die Feindansprache "Taliban" mit dem Kriegsziel eines Regime-Sturzes und der Einsetzung einer Regierung der nationalen Einheit im Konsens der afghanischen Stämme und Parteien unter der Vermittlung und formalen Schirmherrschaft des ehemaligen Königs Zahir Schah, eventuell sogar unter Beteiligung "gemäßigter Taliban", in Washington hergestellt wurde.

Zwar konnte Afghanistan nicht als Land zum Kriegsfeind der USA erklärt werden, wohl aber das Taliban-Regime und mit diesem das Herrschaftsgebiet der Taliban, das von den USA und auch von deren Verbündeten in der neuen "internationalen Koalition gegen Terror" mit Waffengewalt angegriffen, mit Krieg durch Truppenlandung überzogen und besetzt werden durfte, nachdem der UNO-Sicherheitsrat im Prinzip militärische Operationen zur Beseitigung der geografischen Terrorbasis im Gegenangriff gebilligt hatte. Die politische Konstruktion Al Qaida-Taliban-Afghanistan wurde auch von den Regierungen der Welt nicht in Frage gestellt, zumal Bin Laden sich aus Afghanistan mit neuen Video-Auftritten und über den arabischen Privat-Fernsehsender "Al Jazeera" in Quatar am Golf als der Hintermann der Terroranschläge mit seinem Dschihad-Appell an alle Muslime zu erkennen gab. Damit war als der erste Schauplatz des "Krieges gegen Terror" das Land Afghanistan ausgewiesen und als Zielgebiet für die militärischen Operationen markiert. Völkerrechtlich war dies ohne Zweifel ein fragwürdiges Konstrukt, aber politisch war dieses Konstrukt ohne Alternative als Objekt von Anwendung kriegerischer Gewalt, wie der UNO-Weltsicherheitsrat sie erlaubt hatte.

In diesem heiklen Punkt lag der erste politische Erfolg der USA in ihrem "Krieg gegen Terror". Das Beispiel USA hat deshalb einen besonderen politischen Nutzwert für Russland und China als Präzedenzfall und Alibi bei der Unterdrückung von Rand-Dissidenzen im Kaukasus und in Singkiang oder Tibet und für militärische Intervention auch über die eigenen Grenzen hinaus etwa in Nachbarländer, um dort als "terroristisch" bezeichnete Regime oder Organisationen zu bekämpfen. Die Implikationen auch für die ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens, von denen einige mit Russland Sicherheitsverträge im Rahmen der "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" geschlossen haben, sind deutlich genug. Dies gilt auch für das Kasachstan, Afghanistan und Tadschikistan benachbarte China mit seinem muslimischen Westen. Die Unterstützung für die USA bei der UNO durch Russland und China trotz erheblicher Interessengegensätze in anderen Fragen und der bis zum September 2001 immer wieder demonstrativ manifestierten Opposition gegen "amerikanischen Unilateralismus" in der Welt und die exklusive Qualität der amerikanischen Position als "singuläre Weltmacht" findet hier ihre plausibelste Erklärung: Legitimierung der Gewaltanwendung im eigenen Interesse für Gegenwart und Zukunft gegen kleinere Länder, gegen Bevölkerungsgruppen in den eigenen Grenzen und gegen fremde Einflüsse, die als "subversiv" oder "terroristisch" ausgegeben werden können. Die Konzentration auf den militanten und "terroristischen" Islamismus und dessen Gefahr für die "Stabilität" der internationalen Sicherheit kam dabei sowohl Peking als auch Moskau und natürlich allen exsowjetischen Diktaturen Zentralasiens entgegen. Insofern begaben sich die USA mit dem Versuch ihrer internationalen Koalitionsbildung "gegen Terror" weltweit auf einen gefährlichen Weg für die internationale Sicherheit und die Unabhängigkeit kleinerer oder schwächerer Länder.

Auch die amerikanische Doktrin von der Bedrohung der Welt durch solche states of concern, deren Regierungen zu kriminellen internationalen Aktionen (womöglich auch mit nuklearen oder toxischen Waffen) neigen - wie etwa der Irak oder früher Libyen, Syrien und der Iran in der Washingtoner Wahrnehmung - und die deshalb durch Intervention bei Verdacht verdeckter Rüstung mit ABC-Waffen neutralisiert werden müssten, um solche Risiken für die internationale Sicherheit zu beseitigen, trägt ein Element zur faktischen Veränderung des Völkerrechts und zu einer globalen Interventionspolitik durch Großmächte und Bündnisse mit oder ohne Legitimierung seitens der UNO bei. Insofern hat der Anschlag vom 11.9. eine internationale Tragweite, die über den Krieg in und um Afghanistan hinausreicht.

Strategische Kennzeichen und Konsequenzen der im Herbst 2001 entstandenen Lage

1. Das erste Kennzeichen der neuen internationalen Situation ist das Auftreten einer international verbreiteten Geheimorganisation ideologischpolitischer Zielsetzung, der Al Qaida, mit einem Universalitätsanspruch im Verhältnis zu allen muslimischen Völkern und gegen einen als feindlich und schädlich ausgegebenen Teil der modernen Weltzivilisation, der zum "Feind des Islam" erklärt und dessen Vernichtung zum Ziel erhoben wird. Die erkennbare erste Konsequenz dieses auf Religion und religiöse Kultur gestimmten Appells zur Gewalt im "Heiligen Krieg" unter Berufung auf den Koran ohne nähere Erläuterung ist ein unvermeidlicher Konflikt zwischen den so denkenden und handelnden militanten Islamisten und dem großen Rest der Welt, denn Russland und China, Japan und Indien sind in die Verurteilung mit der Kampfansage eingeschlossen, obwohl explizit nur Europa neben Amerika und Russland herausgehoben wurde. Später, im November, fügten Bin Laden und der oberste Talibanführer Mullah Mohammed Omar auch die UNO und deren Generalsekretär als "Werkzeug Amerikas" und alle Regierungen muslimischer Länder im Bündnis mit den USA dieser Liste der "Feinde des Islam" hinzu. Die USA als die derzeit singuläre Weltmacht führen die Liste der "Feinde des Islam" an.

2. In dieser Hinsicht ist ein schon seit Jahrzehnten in der Folge der beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts entstandener Unsicherheitsfaktor in den internationalen Beziehungen in unberechenbarer Weise wirksam, sozusagen ein Paradox: eine in ihrer Wirkung variierende Konstante der Politik zwischen Amerika, Europa, Russland und dem Orient, derzeit mit den Brennpunkten Afghanistan und Palästina, zu denen das territoriale Streitobjekt Kaschmir zwischen Indien und Pakistan kommt. China wird davon in seinem Gegensatz zu Indien und durch sein antiindisches Bündnis mit Pakistan direkt berührt, Japan indirekt wegen seiner Abhängigkeit vom Mittelost-Erdöl und dessen Ausfuhr durch den Indischen Ozean. Die politischstrategischen Interessen der drei Länder China, Indien und Pakistan, die alle drei über Kernwaffen und Raketen verfügen, werden von dieser an Irrationalität grenzenden religiöskulturellen Dominanz über das Kollektiv-Verhalten der Bevölkerungen und von dessen manipulatorischer Nutzung zu politischen Zwecken durch die Regierungen in Islamabad und Delhi in einem permanenten Risikozustand gefangen gehalten. Der Schlüssel zu diesem Gefängnis der Gegensätze liegt in Peking, denn nur China könnte bei Selbstmäßigung und Entfernung aus der Konfliktlage durch eine Distanzierung von Pakistan und Verständigung mit Indien über friedliche Koexistenz an der beiderseitigen Grenze dieses negative Dreiecksverhältnis mit Konfrontations- und Eskalationstendenzen auflösen. Darin läge der strategisch bedeutendste Beitrag Chinas zur Stabilität der regionalen Sicherheit in Südasien wie in Zentralasien.

3. Das Verhältnis zwischen den Mächten in Südasien und Zentralasien wurde von der akuten Krise unmittelbar berührt. Die Krise öffnete neue Perspektiven für die Politik aller. Dies gilt besonders für China: Pekings Einfluss in internationalen Krisen und Konflikten ist über seine Veto-Macht im UNO-Sicherheitsrat grundsätzlich gewährleistet, solange und soweit die UNO nicht übergangen werden kann. Politisch kann es diesen Einfluss immer dann zum Tragen bringen, wenn es sich entweder mit Russland oder mit den USA, am sichersten, wenn es sich mit beiden verständigt. Aus den respektiven Interessenlagen aller drei Großmächte unterschiedlicher Bedeutung und strategischer Handlungsfähigkeit gegenüber Konflikten in und mit islamischen Ländern und im Verhältnis zum politischen Islam ergibt sich ein Grundmuster für das Zusammenwirken mit dem gemeinsamen Ziel, islamische Machtentfaltung im Orient und islamische Durchdringung der eigenen Sicherheitssphären zu verhindern, notfalls im offenen Konflikt zu unterdrücken. Diese Lage war schon vor dem 11.9. seit längerem gegenüber Zentralasien, dem Mittleren Osten und Südasien gegeben. Allerdings verhinderten die Rivalitäten und die Konkurrenzverhältnisse in Bezug auf das Kaspische Becken, Einfluss im Mittleren Osten mit der Golfregion und bestimmte politischstrategische Interessengegensätze eine Übereinstimmung im Umgang mit islamischen Gefahren und Herausforderungen. Die Beziehungen zu Indien, die zwischen Russland und China gegeneinander angelegt waren, aber von Moskau wie Peking außerdem auch als "strategische Partnerschaften" gegen die singuläre Weltmachtstellung der USA verstanden wurden, konnten nicht positiv eingesetzt werden, weil die Politiken Russlands, Chinas und Indiens einander (insbesondere im Verhältnis zu Pakistan) blockierten und dabei auf ihre eigenen Vorteile im Verhältnis zu Amerika und Japan achten mussten. Diese Lage hatte eine Balance of Power in Asien entstehen lassen, in der das jeweilige amerikanische Gewicht den Ausschlag gibt, das heißt die großen regionalen Akteure tendenziell neutralisiert.

In der offenen Krise nach dem 11.9. konnten sich die USA diese Situation zunächst zu Nutze machen. Washington übte die Eskalationsdominanz in der Krise aus, und Russland wie China und Indien hatten nur die Wahl, sich distanziert zu enthalten oder die US-Aktionen politisch sowohl zu unterstützen als auch für ihre eigenen Zwecke zu nutzen, was alle drei Regierungen konsequent versuchten. Damit hatten die Al Qaida und das Taliban-Regime Afghanistans Folgen ausgelöst, die weit über ihre zeitweilige Bedeutung als internationale Krisenurheber und Bedrohung der Sicherheit anderer Länder hinausreichen.

4. Die Zustimmung der UNO unter dem Gewicht der gemeinsamen Positionen der Großmächte im UNO-Sicherheitsrat hat nicht nur die UNO als Organisation vor neue absehbare Ordnungs- und Sicherungsaufgaben in der südwestasiatischen Krisenregion (insbesondere in Afghanistan selbst für die Errichtung einer neuen inneren Ordnung mit einem politischen Ausgleich zwischen den Volksstämmen und politischen Parteien oder Richtungen zur Bildung einer provisorischen Regierung der "nationalen Einheit" und die Befriedung des Landes) gestellt, sondern auch den steuernden Einfluss der Großmächte, wenn und soweit diese im Wesentlichen gemeinsame Ziele verfolgen, bekräftigt. Diese Wirkung, die nicht unbedingt längere Zeit anhalten muss, kann die Handlungsfähigkeit aller anderen Staatengruppen begrenzen und lähmen. Die Autonomie, die von "Multipolarität" in den internationalen Beziehungen und von der Mitwirkung an Interessenkoalitionen in den internationalen Organisationen bestimmten Staaten oder Staatengruppen zuwachsen kann, ist nicht nur krisenabhängig und bestimmt von den Mitteln, die sie einsetzen können, sondern auch abhängig vom Verhalten der Großmächte gegenüber regionalen Konflikten. Dies gilt für den Nahen Osten zwischen Israel und den arabischen Staaten im Palästinakonflikt wie für den Mittleren Osten mit den Beziehungen zum Irak und zum Iran oder für Zentralasien und in diesem akuten Fall auch für Südwestasien mit den divergierenden Interessen der sechs Nachbarländer (v.a. Pakistans und Irans) an Afghanistan.

Sowohl Pakistan als auch der Iran, aber auch China und hinter den drei unmittelbar an ihren Südgrenzen berührten zentralasiatischen Nachbarn im Norden Russlands mit seiner Ambition eines droit de regard in Afghanistan mit gesichertem Einfluss in Kabul, wohin noch Mitte November eine russische Delegation entsandt wurde, um den geräumten Platz wieder einzunehmen, haben stets maßgebenden Einfluss auf die jeweils in Afghanistan Herrschenden und dazu eine gesicherte Kontrolle über die strategischen Landverbindungen zwischen West und Ost quer durch Afghanistan mit dem Kaiberpass gesucht.

Insofern war die Bildung der Staatengruppe "Sechs plus Zwei" in New York bei der UNO für eine internationale Verständigung über Afghanistan und gemeinsame politische Einflussnahme zwischen Pakistan, China, Iran, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Russland und den USA zur Konsensfindung für eine politische Regelung der inneren Probleme Afghanistans ein Rückgriff auf das alte Muster der regionalen Gleichgewichtspolitik unter der Beteiligung der beiden unmittelbar daran interessierten und handlungsfähigen externen Mächte. Auch die sofort einsetzende Reaktion der politischen Kräfte und Stammesformationen Afghanistans zur Abwehr einer neuen Fremdbestimmung, sei es durch eine Gruppe von Nachbarn, fremde Mächten oder der UNO mit internationalen Truppen im Land als Rückhalt für ein internationales Protektorat, entsprach diesem historischen Grundmuster und ließ die hohen Risiken einer neuen Einmischung von außen erkennen. Die Kontrahenten eines neuen innerafghanischen Konflikts mit Bürger- und Stammeskriegspotenzial bezogen in Kabul mit der bisherigen - und einzigen international anerkannten - Regierung um den seinerzeit vor der Machtergreifung der Taliban gewählten Präsidenten Rabbani in der Etappe der Nordallianz mit ihren usbekischen und tadschikischen Truppen und in der südwestpakistanischen Grenzstadt Quetta mit einer Versammlung zumeist paschtunischer Stammesälteren Position. Die Letzteren bemühten sich nach dem vergeblichen Versuch, die Nordallianz von einer Eroberung Kabuls abzuhalten, in dem neben Pakistan auch Russland und die USA als Defacto-Verbündete der Nordallianz versagten, um eine geordnete Kapitulation der Taliban in Kunduz und Kandahar, um auf diese Weise neue militärische Eroberungen der Nordallianz und deren Einnahme zweier weiterer politischer Schwerpunkte für die künftige Machtverteilung in Afghanistan zu verhindern. Alle afghanischen Gruppen aber waren offensichtlich auf die Autonomie der afghanischen nationalen Konsensfindung durch neue Kompromisse gegenüber den fremden Mächten und der UNO bedacht. Damit wurde die Frage, ob UNO-Truppen als Ordnungsmacht in Afghanistan stationiert werden sollten und könnten und welche politischen Folgen dies über längere Zeit haben würde, zum Hauptproblem für die UNO wie für die internationale Staatengruppe "Sechs plus Zwei", weil beide eine internationale Intervention in Afghanistan über den Krieg gegen die Taliban und die arabische Al Qaida hinaus repräsentierten.

Der Appell von UNO-Generalsekretär Kofi Annan an alle Nachbarländer Afghanistans, dessen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu respektieren, um eine schnelle Befriedung nicht zu verzögern sondern zu fördern, verdeutlichte die Schwierigkeit jeder politischen Regelung nach 22 Jahren Krieg und fortgesetzter Einmischung fremder Mächte, insbesondere Pakistans, das die Taliban bei deren Machtergreifung unterstützt und sie seither bis zum September 2001 an der Macht gestützt hatte. Dabei zeichnete sich ein neuer Konflikt um die politische Orientierung Afghanistans nach dem Ende der Taliban ab, deren Herrschaft Ende November nach ihrer militärischen Niederlage unter den vereinten Schlägen der angloamerikanischen Luftstreitkräfte und der Nordallianz am Boden in deren großen Offensiven zusammengebrochen war. Eine solche politische Solidarität mit der gestürzten totalitären islamistischen Diktatur, die ja auch eine lebensfeindliche Tyrannei über das Volk geworden war und das Land ruiniert hatte, setzte aber in den Tagen der Taliban-Niederlagen auch im Süden nicht erkennbar ein.

5. Die begrenzten Mittel Europas innerhalb und umso mehr außerhalb der atlantischen Allianz in dieser Krise, die alle Dimensionen europäischer Krisenhandlungsfähigkeit sprengt und die EU auf ihre Proportionen als regionaler Akteur ohne Reichweite über das Mittelmeer hinaus reduziert, verdeutlichen diese Realität für global player. Zwar könnten sowohl die Diplomatie der EU-Staaten als auch militärische EU-Krisenreaktionskräfte mit einer Transportreichweite von bis zu 6.000 Kilometer in Südasien oder im Mittleren Osten wie in Afrika zur Krisenbewältigung eingreifen, doch bleibt die politische Autorität und damit die dissuasive Fähigkeit rein europäischer Aktionen außerhalb der NATO oder ohne die USA zweifelhaft. Nur als Hilfskraft der USA oder im NATO-Verband könnten militärische Beiträge Europas optimal wirken, solange die EU noch keine internationale politische Aktionseinheit mit strategischer Potenz geworden ist.

Die OSZE ist noch ärmer an Mitteln und Handlungsmöglichkeiten zur Krisenbeherrschung und Konfliktprävention. Südostasiens Kooperationspakt ASEAN, der weder ein regionales Sicherheitssystem noch eine feste Interessenkoalition, geschweige denn eine Defensivallianz oder ein Interventionsbündnis ist, kann nicht einmal politisch geschlossen auftreten; dasselbe gilt für den arabischen Golfkooperationsrat, obwohl dieser auch die regionale Sicherheit auf seiner Agenda hat. Die UNO kann zwar, wenn der Sicherheitsrat entsprechende Beschlüsse fasst, militärisch auftreten, jedoch nur mit Truppen ihrer potenten und handlungswilligen Mitglieder. In jedem Fall sind die Zustimmung oder Duldung seitens der (nuklear gerüsteten) Veto-Mächte im UNO-Sicherheitsrat und die aktive Koalition handlungswilliger und handlungsfähiger Staaten mit eigenen Streitkräften und ausreichenden Finanzen notwendig. Diese komplexe Realität ist in der am 11.9. aufgebrochenen Krise abermals offenbar geworden, obwohl gerade der "Krieg gegen Terror" eine ganze Reihe abgestufter Mitwirkungen mit begrenzten, in der Anwendung dosierten Mitteln als wirksame Beiträge der einzelnen Staaten zulässt.

6. Die diffuse, nicht in internationalen Grenzen fixierbare Bedrohung samt der realisierten Aggression mit Gewalt aus dem politischen Niemandsland im islamischen Orient und in Europa unter Bruch aller Rechtsregeln stellt nicht nur die angegriffenen USA vor schwer lösbare Probleme, sondern alle Länder und alle internationalen Organisationen vor die Frage nach der richtigen Reaktion. "Der lange Feldzug", den Präsident Bush unter einmütiger Zustimmung des Kongresses in einer Demonstration der nationalen Einigkeit für die "Jagd auf die Terroristen" verkündete, muss seine Ziele in mehr als einem Land suchen und dabei über internationale Grenzen hinweg ohne erklärten Krieg gegen bestimmte Staaten geführt werden. Gegenüber Afghanistan hat Washington dies ohne anhaltenden Widerspruch anderer Staaten getan: Selbst Pakistan, dessen Regierung anfangs Bedingungen stellte und Beweise sehen wollte, hat sich mit den vorgelegten Indizien begnügt und versucht, das Taliban-Regime zur Auslieferung Bin Ladens an ein muslimisches Land zu überreden. Nach dem Scheitern dieses Versuchs und einigen Ablenkungsmanövern der Taliban mit Täuschungsversuchen über den Verbleib Bin Ladens, dann der Verweigerung einer Auslieferung oder Ausweisung des Gesuchten, stellte die Regierung Pakistans den USA Flugfelder und Luftraum für militärische Operationen in Afghanistan zur Verfügung. Pakistan trat der "Koalition gegen Terror" unter amerikanischer Führung bei, obwohl seine Regierung noch immer bestimmte Vorbehalte hatte und Bedingungen stellte, so die Forderung nach "Differenzierung" bei der Anwendung militärischer Gewalt zwischen "militärischen" und "zivilen" Zielen, nach "Sorgfalt" bei der Zielauswahl und "Präzision" bei den Angriffen. Im Lande, besonders im Grenzgebiet zu Afghanistan, das mehrheitlich auf beiden Seiten von den Stämmen der Paschtunen, die in Afghanistan mit etwa 40-45% nach den internationalen (ethnografisch allerdings unsicheren und eher willkürlichen) Schätzungen die größte Bevölkerungsgruppe der rund 24 Mio. zählenden Einwohner bilden, rief der Pakt der Militärregierung unter General Musharaff mit den USA heftige Proteste und Zusammenstöße zwischen religiösen Sympathisanten mit den Taliban und der Polizei hervor.

Diese anhaltenden Proteste einer aktiven Minderheit, deren Rückhalt in der Gesamtbevölkerung des Landes nicht erkennbar, aber im paschtunischen Grenzgebiet des Westens deutlich war, wiesen auf das Risiko für die Regierung und die innere Stabilität Pakistans für den Fall eines länger andauernden Krieges mit Bombenangriffen auf Afghanistan, Verlusten der Zivilbevölkerung und anschwellenden Flüchtlingsströmen über die Grenze nach Pakistan hin. In diesem Stabilitätsrisiko, das auch ein regionales Sicherheitsrisiko darstellt, zeichneten sich schon im Herbst die Grenzen der amerikanischen Luftkriegführung zur Überwältigung des Taliban-Regimes und zur Zerschlagung der Untergrundstrukturen der Al Qaida ab: Wie lange würden die Amerikaner und Briten Afghanistan bombardieren können und welche Ziele würden sie treffen, deren Zerstörung das Taliban-Regime zusammenbrechen lassen würden?

Krieg gegen Terror" - Handlungszwänge und Dilemmata

Der Erfolg der US-Luftkriegführung nach knapp fünf Wochen gegen ausgewählte Ziele mit nicht mehr als bis zu 100 zumeist seegestützten Kampfflugzeugen und jeweils einigen schweren Langstreckenbombern (bei etwa einem Viertel der im Kosovokrieg geflogenen Zielangriffe und einem Zehntel der Angriffseinsätze gegen den Irak und irakische Truppen im Golfkrieg) machte die erfolgreichen Offensiven der Nordallianz zur Eroberung von Mazari-Sharif, Kabul und Jalalabad, die Einschließung von Kunduz und den Angriff auf die stark verteidigte Taliban-Hochburg Kandahar im Süden erst möglich. Die amerikanische Strategie und Operationsführung erwiesen sich darin als militärisch wirksam und richtig in den Grenzen und unter den Bedingungen des Koalitionskrieges mit den notwendigen politischen Rücksichtnahmen und Kompromissen zwischen militärischen Erfordernissen und politischen Notwendigkeiten in einer schwierigen Situation bei einer zunächst ungünstigen Ausgangslage vor Ort mit Ausnahme des deutlichen Vorteils, den die Taliban-Sperrstellung an der Nordfront massiven Luftangriffen bot. Diesen Vorteil nutzten die Amerikaner nach einigem Abtasten und Experimentieren mit ihren Luft-Boden-Waffen schließlich noch rechtzeitig und konsequent zur direkten Unterstützung der Nordallianz.

Die Verbindung der Luftoffensive auf die Flugabwehr, die rückwärtigen Schwerpunkte, die Verbindungslinien und danach auf die greifbaren Frontstellungen der Taliban mit der Bodenoffensive der Nordallianz bei Beratung durch angloamerikanische Kommandos, Artillerie- und Luftunterstützungs-Beobachter mit modernstem Gerät, machte den großen Bodengewinn der Offensiven und die Kampferfolge der Nordallianz noch vor Wintereinbruch Mitte November, beginnend in den Tagen 9.-13.11., zum militärischen Entscheidungsschlag in einem im Wesentlichen konventionellen Krieg zur Niederwerfung des Feindes auf dessen eigenem Terrain. Danach blieb aber die Dauer des Krieges in Afghanistan mit dem Risiko des Guerillakrieges noch immer offen, jedenfalls bis zum Ende des Jahres, obwohl mit der Aufgabe Kandahars durch die Taliban unter dem Druck der paschtunischen Stammestruppen und des Bombardements und der Konzentration der Kämpfe auf den Nordosten um die letzte Stellung der Al Qaida Bin Ladens in der "Bergfestung" Tora Bora der Konflikt militärisch entschieden war. Doch die Befriedung des Landes unter der Übergangsregierung und der politische Erfolg des "Krieges gegen den Terror" setzten den vollkommenen Sieg der Koalition in Afghanistan im Bunde mit den zerstrittenen afghanischen Volksgruppen und Stämmen in Übereinstimmung mit den Nachbarn voraus.

Darin lag das amerikanische Dilemma, das von Anfang an in der Forderung an die Taliban, Bin Laden auszuliefern und die Al Qaida zu unterdrücken, offen zu Tage lag: Diese Forderung hatte tatsächlich keinen von Bin Laden unabhängigen Adressaten in Afghanistan, nachdem Al Qaida Teil der Taliban-Herrschaft geworden war und sich in den Mitbesitz des Landes gebracht hatte. Damit war auch die amerikanische Politik auf die Optionen des Krieges und der Koalitionsbildung gegen das Talibanbeherrschte Afghanistan für eine Intervention zum Sturz dieses Regimes und der Einsetzung einer anderen Regierungsgewalt zurückgeworfen. So wurde die punitive Abschreckungspolitik der USA in das Koordinatensystem der regionalen Interessen gezwungen. Deshalb musste der überwiegende Teil der amerikanischen Energien auf die Diplomatie zur Koalitionsbildung im Orient bei Differenzierung zwischen den muslimischen Ländern nach deren Interessenlagen und inneren Stabilität verwendet und die militärische Strategie der politischen Koalitionsstrategie untergeordnet werden.

In der aktuellen Perspektive des Herbstes 2001 traten in dieser an Dilemmata reichen Situation die strategischen Faktoren Zeitablauf und regionale Empfindlichkeiten, aber auch die Zwänge zum Kompromiss mit anderen externen Mächten wie Russland, China und Indien als kritische Größen in der strategischen Gleichung hervor.

Die Bush-Administration reagierte auf die für die USA veränderte Weltlage rascher als Washington gewöhnlich auf neue Herausforderungen. In nur wenigen Wochen wurde die amerikanische Politik in mehreren Punkten verändert: Bush gab die schon vor seiner Amtsübernahme Anfang des Jahres signalisierte Zurückhaltung im Palästinakonflikt nun auch öffentlich auf und teilte mit, dass er einen unabhängigen Staat Palästina mit einem Regierungssitz im arabischen Teil Jerusalems als Verhandlungsziel unter amerikanischer Vermittlung anstrebe. Druck auf die israelische Regierung wie auf die palästinensische Autonomiebehörde mit der PLO-Führung wurde in Washington erkennbar ausgeübt, wobei die Person Sharons und dessen innenpolitische Situation knapp ein Jahr nach den israelischen Wahlen amerikanischer Pressionspolitik auch Grenzen setzten, zumal die Waffenruhe immer wieder von arabischen Attentätern gebrochen wurde. Die israelische Armee stand mit ihrer Einschließung großer Teile des Autonomiegebietes, ihren Inkursionen in dessen Randorte und ihren Aktionen zur Liquidierung identifizierter arabischer Terroristen der Annäherung an Vermittlungsziele zwischen den Kontrahenten noch im Wege, während die Feindseligkeit auf beiden Seiten im Takt der Anschläge und Eingriffe stetig zunahm.

Für den "Krieg gegen Terror" der USA war aber zumindest eine Entspannung der Lage in Palästina zu einer Bedingung für den Zusammenhalt der internationalen Koalition und deren politische Nutzung im Kampf gegen das Taliban-Regime Afghanistans und Bin Laden geworden.

Gegenüber der UNO bemühte sich die Bush-Administration mit Zeichen ihres guten Willens um eine Harmonisierung der Politiken im Afghanistankonflikt und gegenüber internationalem Terror. Die Schulden der USA wegen der seit Jahren zurückgehaltenen amerikanischen Beiträge, die v.a. Republikaner im US-Senat gesperrt hatten, wurden mit weiteren Abschlagszahlungen verringert, ihre Tilgung zugesagt. Gegenüber Moskau vervielfältigte Bush die Gesten der Annäherung und Verständigung, wie es auf der Gegenseite Putin tat: Bush ließ das Raketenabwehrprogramm zunächst abbremsen und kam Russland für eine Beteiligung an der Ausnutzung der Energiequellen im Kaspischen Becken entgegen. Putin, der schon Diskussionen über eine kooperative substrategische Raketenabwehr angeregt hatte, entspannte die Kontroverse über die NATO-Osterweiterung, indem er eine russische Positionsveränderung für ein mögliches Einvernehmen mit USA und NATO über den Beitritt weiterer osteuropäischer Länder zum westlichen Bündnis bei Aktivierung der Sonderbeziehung zwischen Russland und der atlantischen Allianz in einer veränderten internationalen Situation in Aussicht nahm und mit den guten Beziehungen Russlands zu den EU-Staaten verband. Dieser Annäherung diente auch der - sehr persönlich gestaltete - Staatsbesuch Putins in Washington und in Texas mit der Offerte Bushs, das nuklearstrategische Angriffsarsenal der USA im nächsten Schritt auch einseitig auf 2.000 Sprengköpfe (minus zwei Drittel oder 4.000) zu verringern und den Moskauer ABM-Vertrag von 1972 gegen landweite strategische Raketenabwehr entgegen früherer Absichtserklärungen nicht einseitig anzukündigen, sondern eine Verständigung mit Russland darüber zu suchen. Diese Zusicherung erlaubte es Putin, eine Aussicht auf eine spätere Einigung über strategische Raketenabwehr auf der Basis stark reduzierter strategischer Angriffskräfte beider Seiten zu öffnen. Damit war zwar der Gegensatz über den US-Plan für strategische Raketenabwehr noch nicht aufgehoben, die politische Kontroverse jedoch entschärft und eine Verhandlungsbasis vorgezeichnet. Diese Annäherung zeichnete auch eine neue fundamentale Veränderung in der globalen wie in der regionalen Sicherheitspolitik an den Horizont: Die mögliche Wiederbegründung eines privilegierten Großmacht-Bilateralismus zwischen Washington und Moskau bei einer Kräftigung Russlands und einer halbwegs harmonischen Kooperation im "Krieg gegen Terror", in Afghanistan, in der Golfregion und Zentralasien und im Nahen Osten, wo Putin versucht, die verlorenen Einflusspositionen Moskaus wiederzugewinnen, dazu in Europa bei einer Verständigung über die politischen Modalitäten einer zweiten NATO-Osterweiterung und über die Stabilisierung Südosteuropas. Putins Drängen nach Europa und seine Andeutung einer Bereitschaft, sich mit den USA und der NATO in der Sicherheitspolitik zu arrangieren, dazu die Russland 1997 eingeräumte Sonderbeziehung durch die Pariser Grundakte zur NATO konstruktiv zu nutzen, ließ eine solche neue Konstellation immerhin als möglich erscheinen. Sie würde auch die transatlantischen Beziehungen verändern und zu einer neuen Konfiguration der europäischen Sicherheit im Sinne eines sicherheitspolitischen Dreiecks USA-EU-Russland mit einer weiter gewandelten NATO-Bindung bei weiterer Öffnung nach Osten führen können. Auch im Verhältnis zu China wurde in Washington wie in Peking Entspannung für die Prüfung der Möglichkeiten einer Art Stabilitätspartnerschaft in Ostasien unter Einbeziehung Japans und Russlands und Beruhigung der Lage um Taiwan signalisiert, in Washington auch wieder gegenüber Nordkorea. Wie weit solche möglichen Verständigungen schließlich gehen und wie lange sie halten würden, ist eine andere Frage. Aber man hatte sich auf beiden Seiten deutlich von den im Frühjahr eingenommenen Positionen der politischen Konfrontation entfernt.

Möglichkeiten und Grenzen globaler Terrorbekämpfung

So blieb das große Fragezeichen hinter dem amerikanischen "Krieg gegen Terror" auf dem "langen Feldzug", von dem Bush und seine Minister schon zu Beginn, vom 12.9. an, gesprochen hatten. Die US-Luftangriffe mochten nötig und wirksam sein und auch fortgesetzt werden müssen, solange noch organisierter Widerstand seitens der Taliban lebendig wäre, doch kosteten sie wertvolle Zeit vor Wintereinbruch und dem Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan ab 17.11. So richteten sich beide Seiten auf das Überwintern unter Eis und Schnee im kargen Bergland ein, wo die Flüchtlinge, aber auch die einheimische Bevölkerung nach drei Jahren der Dürre von Hungersnot akut bedroht war. Diese Lage der afghanischen Bevölkerung bei inzwischen etwa fünf Millionen Flüchtlingen, geschlossenen Grenzen, ausgeplünderten oder bombardierten Vorratslagern zwangen zu schnellem Handeln auf dem Terrain. Die Unterstützung der Truppen der Nordallianz durch Jagdbomber und Hubschrauber, durch Kommandos am Boden, durch die Sicherung und technische Neuausrüstung der Flugplätze, besonders des ehemaligen sowjetrussischen Militärflughafens Bagram nördlich von Kabul und des Flughafens von Mazari-Sharif für die Landung von Personal, Nachschub und Hilfsgütern für die Bevölkerung, bestimmten zusammen mit der intensivierten Fahndung nach den Führern der Al Qaida und der Taliban ab Mitte November die Kriegsentwicklung in Afghanistan. Die Hilfe für die afghanische Bevölkerung wurde dabei mit dem Winteranfang zur Priorität und zum politischen Erfolgskriterium der gesamten Unternehmung, denn nur bei Versorgung der Bevölkerung und Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat könnte die Grundlage für eine innere Befriedung des Landes und den notwendigen Wiederaufbau mit fremder Hilfe geschaffen werden. Ähnlich wie in Bosnien ab 1995 und im Kosovo 1999 machte gerade diese Aufgabe wie die Verfolgung der gesuchten Terroristen durch die Alliierten die größten Schwierigkeiten wegen der zahlreichen Verantwortlichkeit in der US-Administration, in der jede agency auf ihren Mitwirkungsrechten bestand, um die anderen zu kontrollieren, wie dies natürlich auch die angrenzenden Länder und die internationalen Organisationen vor Ort zu tun suchten. Dazu beschworen die Besatzung der Hauptstadt Kabul durch Truppen der Nordallianz und die Rückkehr der alten Regierung dorthin das Risiko der Alternative Teilung des Landes oder Bürgerkrieg zwischen Nord und Süd herauf, obwohl die Nordallianz sich zumindest nach außen politisch in ihrem Machtanspruch mäßigte und mit allen anderen Gruppen außer den Taliban verhandlungsbereit für eine neue Regierung erklärte. Gerade die USA brauchten nach den ersten militärischen Erfolgen einen entscheidenden politischen Erfolg, um einer Entwicklung vorzubauen, die ein langfristiges amerikanisches Engagement in einem neuen politischen Konflikt in und um Afghanistan zur Folge haben und in eine Krise der amerikanischen Asienpolitik führen könnte. Damit standen auch Ansehen und Einfluss Amerikas als "singulärer Weltmacht" auf dem Spiel. Ohnehin hatte Amerika am 11.9. das Kollektivgefühl der Unverletzlichkeit verloren und war von einer sich mit der Furcht vor Bioterror nach den ersten Milzbrandopfern rasch ausbreitenden Verunsicherung der amerikanischen Bevölkerung erfasst worden. Die Partie war, als das Jahr sich zu Ende neigte, noch immer offen.

Militärisch gesehen waren die USA in ihrem Kampf gegen das als Schutzschild und territorialer Rückhalt der Al Qaida fungierende Taliban-Regime in einer schwierigen Ausgangslage: Von See her konnte kein Expeditionskorps Afghanistan direkt erreichen. Aus der Luft konnten nur kleinere Verbände abgesetzt und versorgt werden, solange die Flugplätze noch nicht weiträumig gesichert und technisch in Stand gesetzt sowie mit der amerikanischen Logistik ausgerüstet waren. Dem dienten ab Mitte November die ersten alliierten Kommandotruppen und der unter deren Schutz vorgezogene Nachschub aus der Luft und am Boden über die Straßen von der Nordgrenze. Weder der Iran noch Pakistan standen im Herbst 2001 als Operationsbasen und Aufmarschgebiete für US-Landstreitkräfte zu Verfügung. Ohne größere Flugfelder in der Nähe waren umfangreiche und nachhaltige Luftangriffe von Land aus nicht möglich. Von den Trägern auf See konnten nicht mehr als jeweils etwa 100 Angriffsflugzeuge eingesetzt werden. Zwar boten Usbekistan und Tadschikistan ein rückwärtiges Gebiet mit einigen exsowjetischen Luftstützpunkten, Depots und Straßen, jedoch nicht in ausreichendem Umfang für größere Truppenverbände und Nachschub über große Entfernungen. Ohne Zugang im Süden von See her über Westpakistan hatten die USA keine zweckmäßigen und soliden operativen Optionen und ausreichende Logistik für längere Landkriegführung nach Afghanistan hinein.

Insgesamt erwies sich die militärische Strategie mit den üblichen operativen Einschränkungen, Fehlern, Irrtümern und Verzögerungen in einer unübersichtlichen und schwierigen Lage als durchschlagender Erfolg. Aber sie blieb von der militärischen Kampfkraft, den politischen Absichten und dem Verhalten der Nordallianz nach ihren ersten Siegen in den eroberten Landesteilen im Umgang mit der Bevölkerung und mit dem geschlagenen Feind politisch abhängig wie die gesamte Kriegführung der "internationalen Koalition", die in Afghanistan im Wesentlichen eine amerikanische Unternehmung geblieben war, jedenfalls solange, als gekämpft werden musste. Die Kapitulation der Taliban-Kämpfer, die in Kunduz eingeschlossen waren, nach Verhandlungen mit dem Nordallianz-General Dostum am 22.11. beendeten die größeren Kämpfe im Norden. Ob die Strategie auf dem Terrain einen abschließenden Erfolg von Dauer haben würde, hing also von einer Reihe von Unbekannten ab, wie zumeist in Krieg und Frieden. Der Luftkrieg aus der Distanz konnte diesen dauernden Erfolg auf dem Kriegsschauplatz nicht sichern oder auch nur verlängern, schon weil ein Übergang zum Kleinkrieg aus Verstecken keine Ziele für Luftangriffe bietet und die militärische Kontrolle im Detail überall im Lande ausgeübt werden muss, um Bestand zu haben und wirksam zu bleiben. Diese Einschränkung trifft auch auf die amerikanische Militärpräsenz und auf die strategische Kontrolle Südwestasiens und des "Weiteren Mittleren Ostens" durch die regionsfremde Weltmacht USA zu: Sie bleibt auf vorgeschobene Stützpunkte auf dem Festland und auf Festlandsverbündete mit eigenen militärischen und politischen Handlungsmöglichkeiten angewiesen, denn sie kann weder mit über große Distanz eingesetzten schweren Bombern noch mit Flugzeugträgern auf zeitweiligen und immer gefährdeten Seestationen über kürzere Distanzen zu Zielgebieten eine effektive operative Kontrolle über die Lage und deren Entwicklung ausüben. Auch die moderne amerikanische Ortungs-, Navigations- und Waffentechnik der Zielerfassung und Zielführung von Angriffssystemen mit Präzisionswaffen und einer über längere Zeit tragfähigen Logistik zwischen Nordamerika und diesem Teil Asiens samt Mittlerem Osten können entgegen häufig geäußerten amerikanischen Ansichten die Präsenz vor Ort nicht ersetzen. Alle überseeischen Stützpunkte der USA bleiben aber auch bei Abschirmung angreifbar und alle politischen Partner nur bedingt nützlich, wie die Fälle Pakistan und Saudi-Arabien in dem "Krieg gegen Terror" im Jahr 2001 gezeigt haben. Für eine entschieden offensiv und zeitlich wie räumlich begrenzt geführte Niederwerfungs-Strategie, die den Feind treffen und entwaffnen, jedenfalls an direkten Aktionen hindern kann, mögen die militärtechnischen Kapazitäten über große Distanzen ausreichen, solange der Kampf nicht über längere Zeit geführt werden muss und die Krise sich nicht ausbreitet. Aber für eine Ermattungs-Strategie, die einen schwer fassbaren Feind zermürben und entkräften muss, um ihn zu besiegen, reichen diese Mittel nicht aus.

Erst in dieser Perspektive nimmt dann auch der Koalitionskrieg sein ambivalentes Profil und seine problematische Zeit-Raum-Dimension an. Präsident Bushs Rede vor der UNO in New York im November mit der Aufforderung an die Partner der "Koalition gegen Terror", sich aktiv und mit mehr Engagement an der Seite der USA zu beteiligen, reflektierte diese Realität. In deren Brennpunkt lag auch "die Jagd nach den Terroristen", die Bush nach dem 11.9. verkündet und eingeleitet hatte. Nur ihr Erfolg könnte auch das Problem der Al Qaida beseitigen und Terroristen allgemein abschrecken, soweit sie größere internationale Angriffsziele verfolgen wie Bin Laden "die Zerstörung Amerikas" - wie illusionär und absurd solche Zielsetzungen auch sein mögen.

Doch die Frage der internationalen Grenzen der Terrorbekämpfung weltweit stellte sich für die USA schon im Verhältnis zum Irak, dem nach bestimmten Indizien eine Verbindung zu den Terroristen der Al Qaida zugeschrieben wurde und dessen Einbeziehung in die Ziele der amerikanischen Anti-Terror-Strategie anfangs US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz im öffentlichen Gegensatz zu Außenminister Colin Powell gefordert hatte. Eine solche Ausweitung des "langen Feldzugs gegen Terror", wie Bush formulierte, würde auf die Opposition der europäischen Verbündeten, insbesondere aber auch der Nachbarn des Irak, allen voran der verbündeten Türkei und Saudi-Arabiens, stoßen. Ähnlich steht es mit dem Sudan und dem dreigeteilten Somalia am Horn von Afrika, auf dessen exsowjetischen Luftstützpunkt und Hafen Berbera die USA als externe Macht für strategische Großraumkontrolle wenigstens so sehr angewiesen wären wie auf die britische Pazifik-Insel Diego Garcia oder den jemenitischen Inselstützpunkt Sokotra.

Weltweit besteht diese Abhängigkeit vom guten Willen anderer Staaten und Organisationen für das Aufspüren und Zerstören der finanziellen und kommerziellen Unterstützung des Terrors, z.B. in den Verbindungsnetzen Bin Ladens, die anscheinend enger mit der saudischen Wirtschaft und selbst dem saudischen Regierungsapparat verbunden und auf Saudi-Arabien abgestützt sind als bislang angenommen worden war. So blieb Ende 2001 der "Krieg gegen Terror" ein Spiel mit vielen Unbekannten und jenseits Kabuls auch von ungewissem Ausgang.

Prof. Dr. Lothar Rühl

Staatssekretär a.D. (ehemals im Bundesverteidigungsministerium, Bonn); Professor für Internationale Beziehungen am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät; ehemals Vorstandsmitglied der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen, und des SIPRI Stockholm.



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