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Die Bereitschaft zur Tat

von Wolfgang Taus

Kurzfassung

◄ Terrorismus als gemeinhin spezifische Form von politischer Gewalt beziehungsweise deren Androhung gegen Sachen oder Menschen ist ein weit verbreitetes, keinesfalls rezentes Phänomen. Entstanden aus der antiautoritären 68-er-Bewegung mutierte die Baader-Meinhof-Gruppe in den 70er-Jahren zur Roten Armee Fraktion (RAF), die den deutschen Rechtsstaat massiv herausfordern sollte. Die RAF verstand sich als Teil der kommunistischen Internationale; auf ihr Konto gingen politisch motivierte Morde und Geiselnahmen.

Der blutige "Deutsche Herbst" 1977 markierte zugleich Höhe- und Wendepunkt in der Auseinandersetzung zwischen den Untergrundkämpfern und dem Staat: Weder durch Morde noch durch eine Flugzeugentführung mit Geiselnahme ließen sich die inhaftierten Gesinnunggsgenossen freipressen. Zwar gingen die Anschläge auch danach noch weiter, erreichten aber keineswegs mehr die Intensität der späten 70er-Jahre.

Die im Zuge der RAF-Bekämpfung verabschiedeten "Notstands"-Gesetze wurden nach dem offiziellen Ende der RAF 1998 nicht revidiert und sollten sich gerade in jüngster Zeit, bei der Bekämpfung des islamistischen Terrors bewähren. Osama bin Ladens "Dschihad" gilt nicht nur dem verhassten Westen, sondern auch moslemischen Sektierern, wie sie in seinen Augen die Schiiten darstellen; sein Ziel ist die Beseitigung der mit dem Westen kooperierenden moslemischen Regierungen und die Errichtung eines Kalifats aller Rechtgläubigen.

Al Qaida steht als Symbol für einen transnationalen, islamistischen Terrorismus verschiedenster Gruppierungen, die es verstehen, ihr Zerstörungspotenzial mit medial gesteigerten Schockeffekten im Rahmen komplexer Operationen gegen den Westen einzusetzen. Wichtig für die Terrorbekämpfung scheint die Notwendigkeit der Erhaltung der demokratischen rechtsstaatlichen Ordnung zu sein, die mit festem Willen allen autoritär auftretenden Herausforderungen entschlossen entgegentritt. ►


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Die Bereitschaft zur Tat

Terrorismus am Beispiel von RAF und Al Qaida

"Grundsätzlich haben wir den Terror nie abgelehnt und wir können ihn nicht ablehnen." (I.W. Lenin)

Das Wort Terrorismus leitet sich vom lateinischen Wort terrere ab. Es bedeutet (er)schrecken, ängstigen, (auf)scheuchen, (ver)jagen, abschrecken. Unter "Terrorismus" wird gemeinhin eine spezifische Form von politischer Gewalt beziehungsweise deren Androhung gegen Sachen oder Menschen verstanden. Spezifisch an terroristischen Handlungen ist, dass die ausgeübte Gewalt nicht nur als illegal, sondern auch als politisch und moralisch illegitim verurteilt wird. Letztendlich fließt also immer ein ethisches Kriterium in die Ächtung eines Gewaltaktes als terroristisch mit ein. Sie ist damit zwangsläufig vom eigenen moralischen Standpunkt abhängig. Anders als Kriminellen geht es Terroristen nicht darum, persönliche Vorteile zu gewinnen. Ansonsten wären z.B. Selbstmordattentate als ein terroristisches Mittel nicht denkbar. Folglich legitimieren Terroristen ihre Handlungen auch ausnahmslos mit angeblich "höheren" politischen und/oder religiösen Zielen, welche die Anwendung von Gewalt rechtfertigen würden. Der terroristische Gewalttäter ist, was seine eigenen Regungen angeht, extrem dünnhäutig. Um ihn zu kränken, genügt oft nur ein Blick oder ein Witz. Zwar kann er auf die Gefühle anderer keine Rücksicht nehmen, aber die seinigen sind ihm heilig. Hans Magnus Enzensberger nennt ihn in seinem jüngst erschienenen Band einen "radikalen Verlierer".(Fußnote 1/FN1) Der Attentäter ist in diesem Augenblick der Tat Herr über Leben und Tod. - "Es liegt an mir." "Die anderen sind schuld." - Aus diesem Teufelskreis kann der radikale Verlierer sich durch keine Reflexion befreien; aus ihm zieht er seine unvorstellbare Kraft, so Enzensberger.(FN2) Terror im Staat ist schon in der Antike unter den Tyrannen bekannt. Heute wird zwischen Staatsterror und Terrorismus im engeren Sinne unterschieden, wobei es dem Staatsterror (etwa am Beispiel des irakischen Regimes von Saddam Hussein) um Festigung der eigenen Macht, dem Terrorismus hingegen um die Destabilisierung bestehender Machtstrukturen gegangen ist und geht. Es gibt zwar erhebliche Meinungsunterschiede in Bezug auf die Abgrenzungskriterien zwischen den für legitim geltenden Befreiungsbewegungen und dem eindeutig illegitimen Terrorismus, aber die absichtliche Schädigung von zivilen, nicht kämpfenden Personen, so etwa auch von zufällig an einem neutralen Ort befindlichen Personen einschließlich Frauen und Kindern, wird allgemein übereinstimmend als Terrorismus angesehen. Terror wird oft als die Waffe des Schwachen bezeichnet, was nicht immer stimmt.

Die Verideologisierung und Indoktrinierung der betreffenden Personen im Zusammenhang mit dementsprechender Isolation von der Gesellschaft scheint ein zentrales Element zu sein, schließlich die als "unmenschlich" und "feindlich" angesehene politische Ordnung zu bekämpfen. Dabei spielt ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber einem erlebten und für Unrecht gehaltenen Geschehen eine nicht unwichtige Rolle, um sich Schritt um Schritt zu radikalisieren und schließlich den Weg des Terrors einzuschlagen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden sukzessive verteufelt im Sinne eines Schwarz-Weiß-Denkens, bei dem unterschiedliche Schattierungen nicht zugelassen sind. Kompromisse mit dem "Feind" werden als Verrat an den jeweiligen Zielen der Terroristen angesehen. Der "Feind" wird dämonisiert und gilt in jenen Kreisen als verachtenswert, um entweder im Falle der linksextremen Terrororganisationen wie der Roten Brigaden in Italien oder der Roten Armee Fraktion (RAF) in der Bundesrepublik Deutschland den liberal-demokratischen Staat selbst als "autoritären Terrorstaat" zu verurteilen, dem kompromisslos der Kampf angesagt werden müsse, damit sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nach RAF-Maßstäben radikal verändern würden - hin zu echter Freiheit (wie die auch immer ausgesehen haben möge.) Andererseits wird im Falle des islamistischen Terrorismus der Westen (allen voran die USA) als "großer Satan" ideologisch verbrämt, der alle Moslems unterdrücken und ausbeuten wolle. Aus islamistischer Sicht sei es die heilige Pflicht eines jeden gläubigen Moslems, den "heiligen Krieg" gegen die "Ungläubigen" aufzunehmen. Die Frage nach einer "islamischen Geo-Politik", einer Rückeroberung verloren gegangener, vormals islamischer Territorien wurde erstmals von Ayatollah Khomeini im islamischen Gottesstaat Iran angesprochen. Khomeini sagte Amerika und Europa den Kampf an. Er war zwar anfangs "national" orientiert, ehe er in seinen letzten Lebensjahren von einer islamischen Weltherrschaft und einer Zerstörung der von den USA geführten Weltordnung träumte.

Auch der Al Qaida-Chef Osama bin Laden spricht von einem "geo-religiösen" Konflikt zwischen Islam, Judaismus und Christentum und kommt damit Huntingtons These vom "Kampf der Kulturen" entgegen. Bin Laden bedauerte laut eigenen Angaben den Verlust der iberischen Halbinsel 1492 ebenso wie die Gründung des Staates Israel auf islamischem Boden. Zur islamischen Erneuerungsstrategie bin Ladens gehört v.a. die Zurückdrängung westlichen demokratischen Einflusses und westlicher Werte.(FN3) Im Falle der islamischen Spielart des religiösen Fundamentalismus gehört ebenfalls Indoktrinierung und schrittweise Abkoppelung der Anhänger von der Gesellschaft zum Werkzeug der Radikalisierung. Ende Mai 2006 wurde in den Medien bekannt, dass die Polizei in der Bundesrepublik Deutschland auf einige deutsche Frauen aufmerksam wurde, die durch ihre streng gläubigen, islamistischen Ehegatten zum Islam übergetreten und dementsprechend indoktriniert worden waren, nachdem sie in einschlägigen islamistischen Internetforen bekannt gegeben hatten, dass sie ein Selbstmordattentat im Irak verüben wollten. Die Frauen wurden mittlerweile ausfindig gemacht und in Gewahrsam genommen.

Vom Antiautoritarismus der 68er-Bewegung zum Terror - die RAF

Das Jahr 1968 steht gemeinhin für die Rebellion der Jugend, v.a. der Studenten, gegen das politisch-ökonomische "Establishment". Es entstand eine Protestkultur in weiten Teilen der westlichen Welt - allen voran in den USA, Frankreich und auch in Deutschland. Die Offensive der Vietkong-Truppen zu Beginn des Neujahrsfestes Tet in Südvietnam drückte dem Jahr 1968 vielleicht den stärksten Stempel auf. Der Pariser Mai, der wie ein romantisches Traumgebilde ebenso rasch wieder in sich zusammenfiel, wie er entstanden war, der Prager Frühling, der in seiner Bedeutung erst richtig erkannt wurde, als er von den sowjetischen Panzern bereits niedergewalzt worden war, der Aufstand der Afroamerikaner in den USA, deren nach Waffen rufende Protagonisten sich v.a. durch die Ermordung von Martin Luther King bestätigt fühlten, zahlreiche Demonstrationen in Amsterdam, Ankara, Athen, Belgrad, Berkeley, Brüssel, Chicago, Dakar, Istanbul, Mailand, Rom, Sydney oder Tokio - das alles hat aus der Welt jenes Global Village gemacht, von dem der Medienwissenschafter Marshall McLuhan schon damals sprach.

Der Protest der Jugend richtete sich v.a. gegen die USA und den Vietnamkrieg. Der Protest war von seinen Zielen her antiamerikanisch, jedoch von seinen Formen her proamerikanisch codiert. Es entstand eine antiautoritäre Bewegung, die als Bezeichnung selbst polarisierend fast schon als Kampfbegriff eingesetzt wurde, um sich von den traditionell kommunistischen Kräften abzusetzen, die sich zur DDR und dem Erbe der Oktoberrevolution bekannten. Die Begründung der antiautoritären Ziele stützte sich auf die Kritische Theorie, insbesondere auf Elemente der von Theodor W. Adorno, Max Horckheimer und Herbert Marcuse entwickelten Gesellschaftsphilosophie.

Der Antiautoritarismus wollte eine soziokulturelle Veränderung als Vorstufe für eine Umwandlung des parlamentarischen Systems in eine radikale, sozialistische Demokratie. Aber aus den revolutionären Erwartungen mancher wurde nichts. Die Bonner Demokratie und damit das deutsche Grundgesetz blieben bestehen. Was folgte, war zunächst eine innere Radikalisierung, die erhebliche Teile in die Gewalt und manche später in den Untergrund der RAF trieb - allen voran Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Holger Meins. Der Antiautoritarismus wurde schließlich zu seinem eigenen Opfer. Da es sein inneres Gesetz war, die Bewegung immer mehr zu beschleunigen, musste diese Logik in die Selbstzerstörung führen.

"Heute haben wir eine der zentralen Figuren in der Formierung westeuropäischer Politik im imperialistischen Gesamtsystem erschossen" - so lautete die Botschaft, die das Kommando Ingrid Schubert am Tatort des 10. Oktober 1986 hinterließ. Das Opfer der RAF war Gerold von Braunmühl, ein führender Beamter im Bonner Außenministerium von Hans Dietrich Genscher, dem damaligen westdeutschen Außenminister.

Standen am Anfang als Fanal gegen den Vietnamkrieg seit 1968 Kaufhäuser in Flammen, so hatten die westdeutschen Sicherheitskräfte nun alle Hände voll zu tun, das Land vor einem Flächenbrand zu bewahren. Was zunächst nach einer Halbstarkenbande klang, forderte schließlich den Staat fast bis zum Äußersten, nachdem sich die Baader-Meinhof-Gruppe zur Roten Armee Fraktion gewandelt hatte. Gerade, dass die Todesstrafe nicht wieder eingeführt wurde. Die RAF sah sich als Avantgarde der Revolution für soziale Gerechtigkeit im Kampf gegen Macht- und Profitinteressen. Die gewaltsame Befreiung des Kaufhaus-Brandstifters Andreas Baader(FN4) im Mai 1970 wurde mehr oder weniger zum Gründungsdatum der RAF. Ihre Mitglieder tauchten ab in den Untergrund. Sie lebten auf Matratzenlagern in konspirativen Wohnungen. Im Namen ihrer höheren Ziele brachen sie Autos auf, überfielen Banken, entführten und ermordeten Symbolfiguren der Bonner Gesellschaft wie etwa den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer 1977 oder den Bankier Alfred Herrhausen 1989.

Ulrike Meinhof, die in Hamburg als bekannte Kolumnistin tätig war, avancierte zum Leitbild der ersten Terrorjahre, neben dem unkonventionell lebenden Andreas Baader und der evangelischen Pastorentochter Gudrun Ensslin aus strengem Elternhaus. Auf einem Tonband verkündete die frühere "Konkret"-Chefredakteurin Meinhof fast nebenbei den Entschluss, mit Gesellschaft und Staat zu brechen und Gewalt als ein Mittel zur "Gegenwehr" zuzulassen. Ulrike Meinhof damals: "Natürlich kann geschossen werden." Der damals dem linksextremen Spektrum nahe stehende, gelernte Anwalt und damalige Hauptvertreter der außerparlamentarischen Opposition (APO), Horst Mahler, der sich heute zu einem Apologeten der rechtsextremen Szene gewandelt hat, erläutert jenes Selbstverständnis, das die Baader-Meinhof-Gruppe hatte, um gegen den Bonner Staat und seine Repräsentanten vorzugehen: "Mit den Bütteln des Kapitalismus redet man nicht, auf die schießt man." Andreas Baader galt als der aggressive und kaltblütige Draufgänger. Er war der eigentliche Antriebsmotor der Gruppe. "High sein, frei sein, Terror muss dabei sein" - eine Lebensauffassung, die Baader nachgesagt wurde. Für Gudrun Ensslin wiederum war der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, der durch die Kugel eines Polizisten getötet worden war, der Knackpunkt, wo sie sich radikal von der so genannten "Generation von Auschwitz" abwendete. Ensslin war ehemalige Wahlhelferin Willy Brandts - nun eröffnete sie den bewaffneten Kampf gegen den so genannten "faschistischen Staat, der uns töten will".(FN5) - Der ehemalige Ensslin-Anwalt und nachmalige Innenminister der rot-grünen Bundesregierung Otto Schily bezeichnete es rückblickend als "Legitimationsdefizite des Staates", die "entscheidend zum Entstehen des Terrors beigetragen" haben.

Die Gruppe radikalisierte sich weiter und ging auf Konfrontation zum westdeutschen Gesellschaftsmodell, das sie gewaltsam zu beseitigen beabsichtigte. Ulrike Meinhof gab ihre erste Kampfschrift heraus; darin stand, Legalität sei eine "Machtfrage". Ebenso forderte Horst Mahler die "Entwöhnung von Gehorsam gegenüber der bürgerlichen Rechtsordnung".

Die RAF verstand sich als Teil einer kommunistischen Internationale. Die "Stadtguerilla" wollte als "Waffe im Klassenkampf" mit dem Mythos von der Unverletzlichkeit des Systems radikal aufräumen. Statt studentische Diskurse am Universitätscampus zu führen, verlangte die RAF den "Primat der Praxis", so Ulrike Meinhof. Ihr erklärtes Ziel war der Kampf gegen Imperialismus, Kapitalismus und Faschismus - wie sie es verstanden. In einem palästinensischen Ausbildungslager lernten die künftigen RAF-Terroristen das tödliche Handwerk. Zurückgekehrt nach Europa begannen sie ihren antikapitalistischen Kampf gegen das Establishment. Die jeweiligen Aktionen waren sehr genau durchdacht und durchgespielt, was die Bonner Republik schließlich bis zum Äußersten fordern sollte. Sorgfältig studierten die Terroristen vor jeder Tat Umfeld, Lebensläufe und Gewohnheiten ihrer Opfer. Die Gesellschaft sollte durch die "Propaganda der Tat" aufgerüttelt werden, um sich gegen das ihrer Meinung nach "staatliche Unterdrückungssystem" zu erheben und sich der selbst erklärten "Vorhut" anzuschließen. Im Mai 1972 war es soweit - die Baader-Meinhof-Gruppe schritt zur Tat: Bombenanschlag auf das Auto des Bundesrichters Wolfgang Buddenberg, der mit der Verfolgung der Terroristen betraut war. Bei anschließenden Anschlägen auf die Hauptquartiere der US-Streitkräfte in Heidelberg und Frankfurt wurden vier Menschen getötet und 20 verletzt.

Im Frühjahr 1972 nahm die Polizei binnen eines Monats die führenden Köpfe der RAF fest. Den "Kampf der sechs gegen 60 Millionen", wie es Heinrich Böll einmal ausdrückte, hatten die 60 Millionen aber nur scheinbar gewonnen. Nicht nur, weil zu jener Zeit laut einer Umfrage des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts jeder vierte Deutsche unter 30 der RAF "gewisse Sympathien" entgegenbrachte.(FN6) Eine zweite Generation von Terroristen übernahm kurz darauf unter der Führung des ehemaligen Anwalts von Baader, Siegfried Haag, das Ruder.

In dem 1975 im eigens errichteten, hoch gesicherten Gebäude von Stuttgart-Stammheim eröffneten Prozess gegen den harten Kern der RAF standen 1977 noch drei Angeklagte vor Gericht: Gudrun Ensslin, der ehemalige Soziologiestudent Jan-Carl Raspe und Andreas Baader. Zwei RAF-Angehörige waren während der Haft gestorben. Holger Meins überlebte 1974 einen Hungerstreik nicht, Ulrike Meinhof hatte sich im Mai 1976 in ihrer Zelle erhängt.(FN7) Brigitte Mohnhaupt, RAF-Aktivistin der ersten Stunde, wurde Anfang 1977 aus einer vierjährigen Haft und mit dem Auftrag Baaders entlassen, die Befreiung der noch einsitzenden Häftlinge voranzutreiben. Bisherige Versuche waren fehlgeschlagen. Günther von Drenkmann, Berlins obersten Richter, kostete der Versuch, sich seiner Entführung zu widersetzen, im November 1974 das Leben. Ein halbes Jahr später endete die Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm mit drei Toten, als die Terroristen den im Botschaftsgebäude angebrachten Sprengstoff versehentlich zur Explosion brachten. Einzig mit dem im Februar 1975 von der "Bewegung 2. Juni" durchgeführten Kidnapping des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz konnten fünf inhaftierte Angehörige der unteren Aktivistenebene freigepresst werden.

Drei Wochen nach ihrer Entlassung war Mohnhaupt in den Untergrund abgetaucht, um die RAF für die "Offensive 77" neu zu formieren. Das Jahr 1977 markierte den blutigen Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen den Untergrundkämpfern und dem Staat ("Deutscher Herbst"). Am 7. April erschoss ein RAF-Kommando Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Im Bekennerschreiben hieß es lapidar, man habe einen "Akteur des Systems hingerichtet". Drei Wochen später, am 28. April, wurden Baader, Ensslin und Raspe wegen vierfachen Mordes, 34-fachen Mordversuchs und wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Für die Gesinnungsgenossen in Freiheit stieg der Druck zu handeln.

Am 30. Juli wurde Jürgen Ponto, Generaldirektor der Dresdner Bank, von Brigitte Mohnhaupt und "einem Mann im braunen Feincordanzug" in seiner Villa erschossen. Besonders schwer wog, dass Susanne Albrecht die Tochter aus einer mit Ponto eng befreundeten Familie war, die den Mörder eingeschleust hatte. Der Mord war tragisch, aber ein Fehlschlag. Ein von der Polizei neben dem Fluchtwagen sichergestellter VW-Bus bestätigte den Verdacht, dass Ponto als Geisel für einen Häftlingsaustausch entführt werden sollte. Und als einen Monat später ein Sprengstoffanschlag auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe scheiterte, weil der Zeitzünder versagte, war die RAF von der Befreiung ihrer Genossen, der "Big Raushole", gleich weit entfernt wie zu Beginn des Jahres.

Die nächste Aktion, so die Spekulation der RAF, musste nicht nur unbedingt erfolgreich sein, sondern sich gegen eine so prominente Persönlichkeit richten, dass der Staat die Freilassung der Häftlinge nicht ausschlagen konnte. Das Opfer stand bereits seit Dezember 1976 fest. Damals fiel dem Bundeskriminalamt (BKA) ein Papier in die Hände, auf dem vermerkt war: "H. M. auschecken, big money diskutieren, wo den Typ bunkern?" Am 5. September 1977 lüftete sich das Geheimnis um H. M.: Hanns-Martin Schleyer, ein geradezu prototypisches Opfer. Seine persönliche Biografie vom SS-Mann zum erfolgreichen Wirtschafter stand als Sinnbild für die nahezu ungebrochene Kontinuität Deutschlands vom NS-Staat zur Demokratie. Als Vorstandsmitglied bei Daimler-Benz war er eine einflussreiche Größe im so genannten industriell-militärischen Komplex. Als Arbeitgeberpräsident schließlich verkörperte er als "Boss der Ausbeuter" aus RAF-Sicht den Kapitalismus schlechthin. Von einem fünfköpfigen Terrorkommando wurde Schleyer in Köln entführt, sein Chauffeur sowie drei in einem zivilen Polizeiwagen folgende Beamte wurden erschossen. Die RAF meldete sich einen Tag nach der Entführung bei der Bundesregierung. Die Terroristen wollten elf Gesinnungsgenossen freipressen und eine Million D-Mark. Dazu händigten die Terroristen eine handschriftliche Notiz Schleyers aus: "Mir geht es soweit gut." Noch am Entführungsabend rief SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt die Spitzenrepräsentanten aller im Bundestag vertretenen Parteien zu sich. Dazu zählten die Partei- und Fraktionsvorsitzenden sowie die Ministerpräsidenten jener Länder, in denen die Terroristen, die auf der RAF-Wunschliste standen, inhaftiert waren. Man verständigte sich auf drei Ziele: Schleyer lebend zu befreien, die Geiseln nicht auszutauschen und die Häftlinge nicht freizulassen. Für Bundeskanzler Helmut Schmidt kam ein Gefangenenaustausch nie in Frage. In einer Fernsehansprache kurz nach der Entführung sagte er: "Der Staat wird mit aller Härte antworten. Alle Polizei- und Sicherheitsorgane [...] haben die uneingeschränkte Unterstützung der Bundesregierung und ebenso meine sehr persönliche Rückendeckung." Die harte Linie war mit CDU-Chef Helmut Kohl abgesprochen.

Der Staat macht mobil

Der damalige Bundesinnenminister Genscher ließ angesichts dessen den Apparat von Polizei und Geheimdiensten ausbauen. Unter ihrem Chef, Horst Herold, entwickelte das BKA ein computergestütztes, umfassendes Fahndungsnetz. 4,7 Mio. Namen wurden gespeichert. So wurden zudem Wohnungen durchsucht, Telefone abgehört und sogar ein Eisenbahnzug gestoppt. Der Staat produzierte immer schärfere Gesetze im Zuge der Terrorfahndung. Das Wort RAF war verpönt. Wer RAF auf Türen oder Hausmauern sprühte, machte sich strafbar. - Es herrschte ein "übergesetzlicher" Ausnahmezustand im Lande. So wie es die RAF ausgedrückt hatte, behandelte die Bonner Demokratie Legalität als Machtfrage.(FN8) Bonns Strategie hieß in den nächsten Wochen nach der Ent-führung von Schleyer "Zeitverzögerung". Man hoffte durch Fahndungserkenntnisse auf die Spur der Täter zu kommen. Die Sicherheitsbehörden waren überall in Deutschland präsent. Das Stichwort lautete Ringfahndung. Der entscheidende Hinweis auf die Entführer-Wohnung wurde freilich verschlampt. Für die im Gefängnis sitzenden Verbrecher wurde eine rechtlich umstrittene Kontaktsperre verhängt. Später wurde bekannt, dass ein Fahnder Schleyers Versteck, ein Hochhaus-Appartement in Erfstadt-Liblar, so gut wie eruiert hatte. Doch das Fernschreiben mit dem brisanten Hinweis war aus ungeklärten Gründen nie im BKA eingelangt. Anstatt die Situation mit der durchaus möglich gewesenen Befreiung Schleyers in den Griff zu bekommen, eskalierte sie am 13. Oktober.

Die Entführer verstärkten den Druck auf die Bundesregierung. Schleyer beklagte sich eine Woche nach der Entführung bei seinem persönlichen Freund Helmut Kohl bitter: "Die Situation, in der ich mich befinde, ist auch politisch nicht mehr verständlich." Aber Bonn blieb bei seinem Nein. Bis zum 13. Oktober wurden immer wieder Forderungen und Reaktionen zwischen RAF und Regierung ausgetauscht. An diesem Tag entführten vier arabische Terroristen die Lufthansa-Maschine Landshut mit 86 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern. Zwischen beiden Entführungen bestand ein Zusammenhang. Helmut Schmidt zeigte Härte und Durchsetzungsvermögen, indem er am 18. Oktober einer Sondereinheit des Bundesgrenzschutzes (GSG-9) befahl, die Maschine zu stürmen und die Geiseln zu befreien. Mit Erfolg, denn alle Geiseln überlebten. Daraufhin begingen die führenden Mitglieder der RAF Selbstmord in ihren Gefängniszellen. Aber auch der entführte Hanns-Martin Schleyer wurde einen Tag später tot aufgefunden. Schmidt übernahm daraufhin die Verantwortung für den Tod Schleyers.

Rückblickend stellte Schmidt fest, dass der Bonner Rechtsstaat im Kampf gegen den Terror "bis an die Grenzen" gegangen sei.(FN9) Die sozial-liberale Koa-lition unter Schmidt verhängte im Anti-Terror-Kampf eine Nachrichtensperre, auch wurden Standrecht oder Todesstrafe als etwaige scharfe Reaktionen des Staates zumindest andiskutiert, um dann wieder verworfen zu werden. Nur einmal hatte Schmidt sich einem Ultimatum gebeugt. Es war 1975, als der Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz entführt wurde. "Den Terroristen musste jedoch mal gezeigt werden, dass es einen Willen gibt, der stärker ist als ihrer", so Helmut Schmidt damals.

Nach dem Mord an Schleyer flüchteten die RAF-Terroristen nach Paris und dann in den Nahen Osten. Einige sahen bald keinen Sinn mehr im Töten und stiegen aus. Zehn RAF-Leute setzten sich in die DDR ab - mit Hilfe des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Dort wurde ihnen unter anderem Namen eine neue und unauffällige Existenz geboten, bis sie nach dem Fall der Mauer schrittweise enttarnt wurden.

Der "Deutsche Herbst" war zu Ende, der Staat hatte den Kampf gegen den Terrorismus gewonnen. Zwar verübte die RAF nach dem Tod ihrer Anführer noch einige spektakuläre Anschläge, jedoch stellte sie nie mehr eine solche Bedrohung wie in den 70er-Jahren dar.

Der damalige Staatssekretär für Justiz, Klaus Kinkel, war schließlich mit Unterstützung von CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl mit den inhaftierten RAF-Mitgliedern um Aussöhnung bemüht. 1989 traf er auch mit Brigitte Mohnhaupt zusammen. Vor ihm begannen u.a. der Schriftsteller Martin Walser und die Pastorin Antje Vollmer den Dialog mit den Terroristen. Kinkel stellte für einige die vorzeitige Entlassung in Aussicht, um eine neue Welle von Gewalt durch eine nächste Generation von Kampfeswilligen zu verhindern. Über eine Nachrichtenagentur reagierte die RAF auf Kinkels Bemühungen - Zitat: "Wir haben uns entschieden, dass wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen." Nach dem Schusswechsel der Polizei mit dem RAF-Terroristen Wolfgang Grams, in dessen Folge nach neuestem Erkenntnisstand der schwer verletzte Grams am Ende sich offenbar selber erschoss, und der Verhaftung seiner Komplizin Birgit Hogefeld am Bahnhof in Bad Kleinen in Mecklenburg 1993, verlief die "Front" für die RAF und ihre Häftlinge nicht mehr durch "Westeuropa", wie einst, sondern zwischen den Zellen. Die RAF beschäftigte sich seither nicht mehr mit der "Weltrevolution", sondern in erster Linie mit sich selbst. Das endgültige Aus kam aber erst im März 1998. "Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte", so ein veröffentlichtes kurzes Statement der Gruppe.(FN10) 20 Jahre nach dem "Deutschen Herbst" waren mittlerweile ehemalige RAF-Mitglieder aus der Haft entlassen, wurden zu großen Podiumsdiskussionen geladen, traten in Talkshows auf und standen prominenten Interviewern Rede und Antwort. Sie sprachen von ihren sozialrevolutionären Utopien, von der Pervertierung des Klassenkampfes, von ihrem Aufenthalt in der DDR, die manchem Kämpfer ein sicheres Exil bot, bis die Mauer fiel.

"Der Staat hat am Ende sein Gewaltmonopol erfolgreich verteidigt und die RAF überwunden, ohne die rechtsstaatlichen Prinzipien zu verletzen", so Hans-Jochen Vogel, Bundesjustizminister von 1974-1981. Vogels Rückblick auf diese Zeit ist symptomatisch für all jene, die gewissermaßen an vorderster Front den Rechtsstaat zu verteidigen hatten: "Die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus hat in meinem Leben in den siebziger Jahren eine wesentliche Rolle gespielt. Beruflich und persönlich, weil nicht nur ich, sondern auch meine Frau und vorübergehend auch meine Kinder von 1974 bis 1991 unter mehr oder weniger intensivem Polizeischutz standen." (FN11) Dennoch meldeten sich Kritiker zu Wort, die jenseits des erlittenen Leids all jener, die diesem Terror zum Opfer gefallen sind, die persönlichen Freiheiten des Bürgers im demokratischen Gemeinwesen weiter eingeschränkt sahen und sehen - besonders nach dem erklärten Ende der RAF 1998. So seien die Anti-RAF-Gesetze nicht genügend überprüft und gegebenenfalls revidiert worden, hieß es. Denn was gewissermaßen als Notstandsrecht gegen die RAF eingesetzt wurde, wurde mit der Zeit zum strafrechtlichen Standard, so die Kritik: Das Kontaktsperregesetz, mit dem die Verbindung von Gefangenen zur Außenwelt und untereinander verhindert wurde, trat in Kraft. Man erweiterte die Gründe für den Ausschluss eines Verteidigers, erleichterte die Bestimmungen für Wohnungsdurchsuchungen und führte Telefonüberwachung, Raster- sowie Schleppnetzfahndung ein. Spätestens seit dem 11. September 2001 und der Bedrohung durch den weltweiten islamistischen Terror ist die Debatte über verschärfte Anti-Terrormaßnahmen des Bundes und der Länder erst recht nicht verstummt. Die Abwehr der Bedrohung macht jedoch eine internationale Zusammenarbeit notwendig, die im Informationsaustausch und in der gegenseitigen Amtshilfe weit über das bislang Übliche hinausgeht. Die Staaten müssen, wo immer möglich, unter Federführung oder zumindest unter Beteiligung der UNO auch ihre Machtmittel zur Ergreifung der Täter und zur Verhinderung neuer Anschläge sinnvoll einsetzen. Die rechtsstaatlichen Grundsätze müssen aber in jedem Falle beachtet bleiben, meinen Experten.

Von Allah zum Terror - das Terrornetzwerk Al Qaida

Um über das islamistische Terrornetzwerk Al Qaida unter ihrem Chef Osama bin Laden zu schreiben, müssen unbedingt einige Vorbemerkungen gemacht werden, die das Entstehen des politisch-religiösen Islam als die islamische Spielart des religiösen Fundamentalismus zumindest skizzieren.

Mit dem ägyptischen Staatspräsidenten Gamal abd el-Nasser war spätestens seit seiner offiziellen Bestätigung im Amt durch freie Wahlen am 23. Juni 1956 für die kommenden Jahrzehnte eine politisch-nationale Strömung verbunden, die weit über Ägyptens Grenzen hinaus in die islamische Welt hinein wirkte: der ägyptische Nasserismus - eine Mischung aus arabischem Nationalismus, Sozialismus und antiwestlicher Politik. Nach der empfindlichen militärischen Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 gegen Israel begann Nassers Einfluss in den islamischen Ländern abzunehmen. Mit seinem Tod 1970 verblassten jene säkularen islamisch-nationalistischen Ideologien zusehends. An ihre Stelle trat Schritt um Schritt eine Renaissance des Islam in der Gestalt des islamischen Fundamentalismus, der alles Nicht-Islamische (vorwiegend Westliche) geißelte, aber auch jene Regime in islamischen Ländern, die mit dem Westen kooperierten, als "Verräter" brandmarkte.

Die Al Qaida-Organisation des Terror-Paten bin Laden gilt als Quantensprung in der Geschichte des internationalen Terrorismus. An die Stelle von einzelnen, zum Teil miteinander rivalisierenden antiwestlichen und antiisraelischen Gruppen ist ein weltweit operierendes Geflecht von gewalttätigen islamistischen Organisationen getreten.

Der Charakter der Aktivitäten von Al Qaida - arabisch für "die Basis" - ist vielfältig: politisch, religiös, finanziell und militärisch. Gegründet wurde das Netzwerk 1988 im Sudan. Al Qaida ist ein Produkt der Moslembruderschaft, die in Ägypten die Organisationen Al Dschihad Islamija und Al Dschamaa al Islamija unterhält - geleitet von Aiman al-Zawahiri und Rifai Achmed Taha. Al Qaida unterhielt Kontakte zu Abdullah Azzam. (Azzam selbst gründete in Algerien die Terrorgruppe Maktab al Khidimat lil Mudschedin al Arab.) Prinz Turki bin Faisal bin Abdulaziz (Leiter des zivilen Geheimdienstes von Saudi-Arabien, Gegenspieler der eher pro-westlichen Prinzen) war angeblich Geldgeber für diese Organisationen.

Neben bin Laden war auch Azzam einer der Mitbegründer des Terrornetzwerks Al Qaida im Jahr 1988. In den darauf folgenden Jahren wurde Al Qaida in locker kooperierende 24 Abteilungen zusammengefasst. Unter der Leitung besteht ein Beratungsgremium (genannt Schura Madschlis), in der es vier Stabsabteilungen für militärische (auch terroristische), religiös-relevante, finanzielle und Medien-Angelegenheiten gibt. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem Beginn des von US-Präsident George W. Bush ausgerufenen "Krieges gegen den Terror" hat sich Al Qaida zunehmend dezentralisiert und agiert auf Grund autonom handelnder "Schläferzellen" auch in den verschiedensten westlichen Ländern.

Den personellen Grundstock bildeten so genannte "arabische Afghanen" - muslimische Guerilleros aus dem Nahen Osten, die in Afghanistan gegen die Sowjetunion gekämpft hatten. Bin Laden war damals ihr Feldkommandeur und Ausbilder.

Sein ererbtes Vermögen von mindestens 300 Mio. USD, das aus den Geschäften seiner milliardenschweren saudischen Bauunternehmer-Familie stammte, stellte die finanzielle Basis für Al Qaida dar. Inzwischen unterhält das Terrornetz in 20 Staaten Stützpunkte. Ihre Ausbildungslager lagen bis zur gewaltsamen Vertreibung des Taliban-Regimes v.a. in Afghanistan, jetzt insbesondere aber im Nordosten Pakistans, wo heute bin Laden sein vermutetes Versteck haben dürfte, und neuerdings im Unruheherd Somalia.

Die Organisation verdiente Geld u.a. mit Plantagen und Baufirmen im Sudan, Fischereibetrieben in Kenia, Holzgeschäften in der Türkei, Diamantenhandel in Afrika oder mit Farmen in Tadschikistan und mit Drogenhandel. Internationale Fahnder haben alle Mühe, das geheime Geflecht von Unternehmen und Konten der Organisation zu entwirren.

Terroristisch trat Al Qaida 1992 in Erscheinung, zunächst mit Anschlägen gegen US-Einrichtungen in Saudi-Arabien, Somalia und Jemen. 1998 rief bin Laden die "Internationale islamische Front für den Heiligen Krieg gegen Juden und Kreuzritter" aus, eine Dachorganisation, die weit gehend deckungsgleich mit Al Qaida ist. Die verheerenden Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania 1998 gingen mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Konto Al Qaidas, so Experten.

Der Kern des Bin-Laden-Netzwerks wird auf 5.000 aktive Mitglieder geschätzt. Al Qaida ist auch Koordinationszentrum für eine ganze Reihe von militanten islamistischen Gruppen, die aber nicht unbedingt deckungsgleiche Ziele verfolgen. Dazu zählen v.a. die ägyptische Dschamaa Islamija, Hisbollah und Dschihad im Nahen Osten, die Nationale Islamfront im Sudan sowie kaschmirische Separatisten.

Die 1987 aus der Moslembruderschaft hervorgegangene Dschamaa el Islamija (Islamische Gruppe) ist die größte radikale Moslem-Gruppe in Ägypten. Sie bekämpfte von 1992-1997 die Regierung in Kairo mit dem Ziel, einen rein islamischen Staat zu gründen. Mehr als 1.200 Ägypter sowie zahlreiche westliche Touristen fielen den gewalttätigen Auseinandersetzungen zum Opfer. Im März 1998 riefen die Anführer der Gruppe nach Verhaftungen und Tötungen zahlreicher Mitglieder und wegen finanzieller Schwierigkeiten einen Waffenstillstand aus. Viele Dschamaa-Mitglieder sollen anschließend von bin Laden rekrutiert worden sein und sich seiner anti-amerikanischen Gruppe angeschlossen haben.

Die inhaftierten Führer der Dschamaa Islamija hatten bereits 1999 in einer Art gemeinsamem Manifest dem Terrorismus und insbesondere dem radikalen islamistisch-fundamentalistischen Terror abgeschworen. Sie entschuldigten sich für die Terroropfer ihrer Anschläge - u.a. auf den damaligen ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat 1981. Die Führung der Dschamaa Islamija verbot deshalb auch jegliche Verbindung ihrer Mitglieder zum Al Qaida-Netzwerk. Es gelte künftig vielmehr, am politischen Leben im ägyptischen Staat friedlich teilzunehmen. Doch im sozial unzufriedenen Untergrund bildeten sich neue, autonom agierende Terrorzellen, die Anschläge auf ägyptische Tourismusorte etwa auf der Sinaihalbinsel am Roten Meer verübten.

Bin Ladens Kampf gegen den Westen

Bin Laden hatte von 1991-1996 im Sudan gelebt, bevor er seine Aktivitäten nach Afghanistan verlagerte. Seit dem Golfkrieg hatten die USA Militärbasen im saudischen Königreich - ein Affront für moslemische Dschihadisten wie Osama bin Laden. Im Zuge dessen bot bin Laden den Saudis mehr oder weniger direkt (militärische) Hilfe durch seine Afghanistan-Kämpfer gegenüber einem irakischen Gegner an. Damit wollte er vermeiden, dass weitere westliche "Kreuzfahrer" auf den heiligen Boden der arabischen Halbinsel kämen; als das saudische Königshaus ablehnte, begann er die saudische Machtelite als "Verräter" an der Sache des Islam zu brandmarken und sagte ihr den Kampf an. Einige verheerende Anschläge von Dschihadisten in Saudi-Arabien (etwa am 8. November 2003) folgten, wobei die saudischen Sicherheitskräfte nach und nach die Gefahr erkannten und nunmehr verstärkt gegen den Terror auch im eigenen Land vorgehen.

Überall sollten nunmehr die gläubigen Moslems den "westlichen Kreuzfahrern" und den einheimischen Regierungen, die diese unterstützen, den "Heiligen Krieg" erklären, um ein neues "Kalifat" auf moslemischem Boden zu gründen, so der Traum der Dschihadisten. Letztlich ist Al Qaida eine Art "Vorhut" eines rückwärts gewandten, feudal anmutenden islamistischen Fundamentalismus, dem schließlich auch der "verdorbene und ungläubige" Westen einverleibt werden müsse, glauben manche politische Beobachter. Der Westen solle gewissermaßen "von innen her" ausgehöhlt werden, um wie ein reifer Apfel in den Schoß des fundamentalistischen Islam zu fallen, in dessen Machtstrukturen wahrscheinlich religiöse Toleranz nur auf Basis der Scharia Geltung hätte.

Der 11. September 2001 sollte aus der Sicht bin Ladens und seiner fanatisierten Anhänger zu einem "Donnerschlag" werden, der die Welt in die gewünschte Richtung der islamistischen Hoffnungsträger verändern sollte. "9/11" hat die Welt verändert; die Anschläge auf das World Trade Center, das schon einmal Anfang der 1990er-Jahre zum Ziel eines missglückten Anschlages wurde, und auf das Pentagon waren ein Inferno. Doch über die Nachhaltigkeit dieser Terrorakte lässt sich streiten. Nachhaltig wurden jedenfalls die US- und die internationale Wirtschaft nicht getroffen. Nachhaltig jedoch hat sich der umfangreiche Wille und Einsatz zur Terrorabwehr in der internationalen Staatenwelt geformt. Die USA antworteten auf diese terroristische Herausforderung mit dem von US-Präsident George W. Bush ausgerufenen weltweiten "Krieg gegen den Terror", der zuerst das Taliban-Regime in Afghanistan ins Visier nahm. Das Taliban-Regime wurde gewaltsam gestürzt, doch scheinen sich Reste bis heute v.a. an der Grenze zu Pakistan irgendwie zu halten. Die militärische Invasion der USA und seiner westlichen Verbündeten im Irak führte 2003 zum raschen Zusammenbruch des diktatorischen Regimes von Saddam Hussein, aber bis heute nicht zu Frieden und Wohlstand. Im Gegenteil: Der Nachkriegsirak stellte sich zunehmend als ein El Dorado für den Dschihadismus dar, um insbesondere die westliche Führungsmacht vor Ort durch massiven Terror zu bekämpfen. Der irakisch-nationalistische und islamistische Widerstand gegen den Westen fordert im täglichen Kleinkrieg von Chaos und Gewalt enormen Blutzoll - auf beiden Seiten. Anfang Juni 2006 wurde der aus Jordanien stammende Terrorpate im Irak, Abu Mussab al-Sarkawi, bei einem US-Luftangriff getötet. Osama bin Laden, von dem für längere Zeit kaum etwas zu hören war, lobte al-Sarkawi für sein blutiges Werk. In einer zweiten Audio-Botschaft kurz danach drohte bin Laden erstmals auch den irakischen Schiiten massiv. In der Audionachricht hieß es wörtlich: "Die schiitischen Regionen im Süden des Iraks sollen nicht sicher sein, wenn die Liquidierung der Sunniten nicht aufhört." Die Schiiten müssten bestraft werden, da sie gemeinsam mit den USA und deren Verbündeten sunnitische Städte wie Mossul, Falludscha und Ramadi angriffen. Bin Ladens Stellvertreter an der Spitze von Al Qaida, Eiman Zawahiri, hatte den nunmehr getöteten Anführer der Al Qaida-Zellen im Irak, Abu Mussab al-Sarkawi, erst einige Monate zuvor gewarnt, mit Anschlägen gegen die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak eine zusätzliche Front zu eröffnen. - Ein Widerspruch in sich, der zeigt, wie verworren die Lage im Nachkriegsirak ist. Als erster Schritt hin zu Stabilität im Irak müssten laut bin Laden die ausländischen Truppen mit Waffengewalt aus dem Land vertrieben werden. Dann müssten die Angehörigen der politischen Parteien bestraft werden, die "das Volk angelogen haben, indem sie ihm versprochen haben, durch die Beteiligung am politischen Prozess werde der Abzug der Kreuzfahrer-Truppen erreicht".(FN12) Nach und nach nahm Osama bin Laden spätestens seit den Terrorattacken in den USA für sich in Anspruch, für die Gesamtheit der Muslime in der Welt zu sprechen. Wie etwa Peter Heine in seinem Buch "Terror in Allahs Namen"(FN13) darlegt, wird bin Ladens Alleinvertretungsanspruch immer deutlicher, indem er sich der Ikonografie eines "Beherrschers der Gläubigen", also eines Kalifen, bedient. Dabei bezieht sich der Al Qaida-Chef mehr oder weniger direkt auf die Berichte über die ersten vier Kalifen, die von der moslemischen Tradition als die "Rechtgeleiteten" bezeichnet werden. Wie sie tritt er in einfacher Kleidung auf - aber bewaffnet. Die überregionalen politischen Ansprüche von Al Qaida und seinen Führern sind nur erfolgreich, weil die offenen Organisationsstrukturen und niedrigen Hierarchien regionalen Gruppen die Kooperation leicht machen.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden die Sicherheitsmaßnahmen in der Luftfahrt vehement verbessert. Deshalb ist es für terroristische Netzwerke wie Al Qaida immer schwieriger geworden, Angriffe mit gekaperten Flugzeugen gegen potenzielle Ziele zu unternehmen. Aus diesem Grunde haben die Terroristen ihre Strategie umgestellt. Bevorzugt werden seither wieder Terrorattacken mit selbst gebastelten LKW-Bomben mit hoher Zerstörungskraft. Ein Bericht des US-Heimatschutzministeriums und des FBI vom August 2004 warnte davor, dass es vermehrt Hinweise auf vorbereitende terroristische Aktivitäten in den USA gebe. So würden so genannte schlafende Terrorzellen wichtige Gebäude wie Großbanken, die Gebäude des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank ausspionieren, um Schwachstellen ausfindig zu machen. Terroristen setzten dabei angeblich modernstes Gerät wie Videokameras und GPS-Systeme ein.

Die Bombenanschläge von Madrid im März 2004 und von London im Juli 2005 belegen einmal mehr das Auftauchen des Dschihad-Terrorismus in Europa. Es steht unzweifelhaft fest, dass die Handschrift des Terrornetzwerkes Al Qaida hinter den Anschlägen von Madrid und London zu erkennen ist. Al Qaida rekrutiert u.a. ihr Personal unter den jungen moslemischen Immigranten in Europa, um es für die Sache des Dschihad-Terrorismus oft gegen das jeweilige Unterkunftsland einzusetzen. Es sind häufig gut situierte und scheinbar an die westlichen Lebensgewohnheiten angepasste Muslime dabei, die sich dann als Dschihad-Kämpfer entpuppen.

Der Islam lehnt die Trennung zwischen Politik und Religion bis heute ab. Das westlich-abendländische Demokratiemodell wird nicht zuletzt deshalb insbesondere durch die Dschihadisten verworfen. Jungen Rekruten des islamistischen Terrors wird deren Integration in die Gesellschaft der jeweiligen Gastgeberländer untersagt. Diese westlichen Gesellschaften gilt es vielmehr zu zerstören, da es wie im Falle Spaniens und Großbritanniens zwei Länder von "Ungläubigen" betrifft, die die verhassten USA in Afghanistan und im Irak unterstützt haben.

Nun geht es darum, die islamische Welt auch im weltweiten "Krieg gegen den Terror" nicht zurückzuweisen, sondern sie im Gegenteil verstärkt - trotz aller Schwierigkeiten - größtmöglich politisch und ökonomisch einzubinden. Neben dem diffizilen Fall Türkei sei insbesondere Marokko erwähnt. Die USA unterstützen nicht zuletzt deshalb die Europäische Nachbarschaftspolitik der EU, um in den moslemischen Nachbarländern der Union Stabilität und Frieden zu stärken, damit u.a. dem Dschihad-Terrorismus der Nährboden entzogen wird.

Welche Ideologie steckt hinter Al Qaida?

Für die Dschihadisten geht es darum, die islamische Kultur und Tradition für sich und ihre radikalisierten Ziele zu missbrauchen und quasi als "Kriegsmaschinerie" einzusetzen, die im Dienste des "Heiligen Krieges" steht. Zu diesem Zweck müssen die ganze bisherige Weltsicht umgekrempelt und die westliche Art zu denken vollkommen aufgegeben werden. Die Ideologen Al Qaidas wollen ein neues Denkgebäude, eine Art "geistiges Universum" errichten, in dem der Bezug auf die heiligen Texte, so wie sie diese verstehen, das zentrale Kriterium darstellt. Darin wiederum kommt dem Dschihad die wichtigste Rolle zu: Er ist das eigentliche Lebensziel, das Selbstmordattentat wird als höchstes menschliches Streben dargestellt. Dabei argumentieren die Qaida-Ideologen in erster Linie gegen die anderen Muslime; so soll vorrangig ein Krieg innerhalb der muslimischen Gemeinschaft legitimiert werden. Al Qaida versucht auf diese Weise eine Deutungshoheit, eine Hegemonie über die anderen Strömungen in der islamischen Welt zu erlangen.(FN14) Der Kern der Al Qaida-Ideologie besteht darin, ihren Anhängern zu erklären, dass es kein wichtigeres Ziel gibt als den bewaffneten Dschihad, und dass Al Qaida mit Hilfe dieses Dschihad nicht nur die als dekadent angesehene westliche Welt zerstören, sondern v.a. die Macht in den islamischen Ländern erobern und die "vom Islam abgefallenen" Regierungen stürzen wird. Schließlich wolle Al Qaida in den islamischen Ländern ein ihr eigenes Verständnis von Religion durchsetzen, das sich unmissverständlich von dem der anderen islamischen Strömungen abhebt. Im Geständnisvideo Al Qaidas nach den Bombenanschlägen von Madrid im März 2004 heißt es: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod, und deshalb werden wir siegen." Das Hauptargument, aus dem sich bin Ladens Hass gegen den Westen und Israel als "Stachel im arabisch-islamischen Fleisch" speist, lautet: "Ihr trennt die Religion vom Staat und widersprecht damit der reinen Natur, die dem Herrn, eurem Schöpfer, absolute Autorität zuspricht." Verschiedene politische Beobachter sprechen deshalb vom "Islamofaschismus" als einer neuen Spielart einer totalitären Ideologie.(FN15) Bin Laden geht wie seine Anhänger von der Tatsache aus, dass der (radikalisierte, fundamentalistische) Islam bei einem weltumfassenden Zusammenstoß der Kulturen als Sieger hervorgehen wird. Die äußerst hohe Gewaltbereitschaft der Dschihadisten begünstigt damit ein solches Szenario - ja es wird sogar von ihnen herbeigesehnt. Die Aussagen und Schriften des Al Qaida-Chefideologen Zawahiri weisen, obwohl in der Sprache des Islams verpackt, große Ähnlichkeiten etwa mit der RAF-Ideologie auf: Wenn Zawahiri etwa erklärt, dass die muslimischen Massen "eingeschlafen" seien, und dass man sie durch spektakuläre Gewaltakte "aufwecken" und ihnen zeigen müsse, dass der "Feind" schwach sei und dass man ihn zerstören könne, und wenn er argumentiert, dass sich Massen auf solche Weise mobilisieren ließen, dann erinnert dies sehr stark an die Art und Weise, wie etwa Andreas Baader in den 1970er-Jahren die Ermordung von Hanns-Martin Schleyer legitimiert hat, meint etwa Gilles Kepel in einem Interview.(FN16) Die Ideologen von Al Qaida gehen davon aus, dass der bewaffnete Widerstand ab Mitte der 1990er-Jahre in Algerien, Bosnien und Herzegowina sowie in anderen Ländern im Prinzip gescheitert ist und deshalb eine neue Strategie ausgearbeitet werden muss. Diese besteht nach den Worten bin Ladens darin, den "Kampf gegen den weit entfernten Feind" aufzunehmen. Damit meint er in erster Linie die USA. Sie sollen angegriffen werden - nicht in der Hoffnung auf einen kurzfristigen Sieg, sondern um auf diese Weise die Schwäche der Supermacht zu demonstrieren, welche die wichtigste Stütze der "ungläubigen" arabischen Regime ist. Auf solche Weise hofft Al Qaida die arabischen Massen mobilisieren zu können. In dieser Strategie spielen die Medien und v.a. spektakuläre Bilder eine zentrale Rolle. Zawahiri geht unmissverständlich davon aus, dass Al Qaida die "Schlacht in den Medien" gewinnen müsse. In diesem Sinn ist Al Qaida eine sehr moderne Bewegung, die genau weiß, wie die heutigen Medien funktionieren. Die Al Qaida-Ideologen sind sich bewusst, dass bei ihrem Kampf nicht eine bestimmte Argumentationsweise entscheidend ist, sondern die Produktion von Bildern und Emotionen, die weltweit Aufmerksamkeit und Betroffenheit erregen können.(FN17) Das wachsende Zerstörungspotenzial, die medial gesteigerten Schockeffekte, die zunehmende Fähigkeit zur Planung komplexer Operationen und der Westen bzw. die USA als primäres Feindbild - hängen mit der Entwicklung des transnationalen, islamistischen Terrorismus zusammen. Diese "neue" Form des Terrorismus unterscheidet sich signifikant von herkömmlichen Varianten in einer Reihe von Aspekten - in seiner Zielsetzung und Ideologie, in der Zusammensetzung seiner Mitglieder und Anhänger, in seinen Netzwerkstrukturen, in seinem Zerstörungspotenzial sowie im Umfang und der Reichweite seiner Infrastruktur.

Diese Unterschiede und ihre Konsequenzen für die Terrorismusbekämpfung herauszuarbeiten und zu analysieren steht u.a. im Zentrum des 2006 erschienenen Buches des SWP-Mitarbeiters Ulrich Schneckener.(FN18) Sein Urteil über den laufenden "Krieg gegen den Terror" ist ernüchternd. So würde die US-Strategie keine angemessene Reaktion auf die Herausforderungen durch den transnationalen Terrorismus bieten. Doktrin und Praxis des globalen "Kriegs gegen den Terror" haben bisher nicht die erhofften Wirkungen mit sich gebracht. Oft hat dieser Anti-Terror-Krieg globale und regionale "Kollateralschäden" zur Folge, die das Terrornetzwerk Al Qaida als Bestätigung seiner Eskalationsstrategie versteht. Es bedarf laut Schneckener vielmehr einer analytischen De- und Rekonstruktion der Netzwerke, ihrer Bestandteile, ihrer Charakteristika und ihrer Infrastruktur, um flexible, situations- und akteursabhängige Gegenstrategien zu entwickeln.

In diesen Zusammenhang fällt auch das strittige Thema Migration. Während die einen in verschärften Einwanderungsbestimmungen ihr Heil suchen, fordern andere vielmehr einen neuen und offeneren Umgang mit diesem überbordenden Problem. Am Beispiel Europa geht etwa Corinna Milborn(FN19) davon aus, dass sich Europa als Einwanderungskontinent neu definieren müsse. Statt Schlagworte wie Terror, Kriminalität, Menschenhandel und Parallelgesellschaft mit Einwanderung zu verknüpfen, meint sie, müssten die vielen positiven Seiten der Migration für Europa herausgestrichen werden. Statt Segregation müsse Gemischtheit angestrebt werden, um Ghetto-Bildungen im Ansatz zu verhindern.

Im Sinne einer dementsprechend umfassenden Deeskalationsstrategie muss auch die historisch bedingte, spannungsgeladene Beziehung etwa zwischen Islam und Christentum (aber auch u.a. zum Judentum) näher beleuchtet werden. Wie etwa die deutsche Islamwissenschafterin Ursula Spuler-Stegemann(FN20) schreibt, geht es zu allererst um die Schärfung des Realitätssinns in den wechselseitigen Begegnungen als Vorbereitung für einen Dialog - jenseits jeglicher religiöser fundamentalistischer Positionen. Dass der Islam sich über die Welt ausbreiten muss, ist nicht nur für Islamisten, sondern auch für orthodoxe gläubige Moslems zentraler Glaubenssatz. Christen gelten für viele unter ihnen noch immer als "Kreuzzügler". Ebenso gelte es laut Spuler-Stegemann auch, ein Ungleichgewicht im Dialog mit Muslimen, das auf Unkenntnis und Naivität der Christen beruht, aufzulösen.

Kritiker wie Hans-Peter Raddatz bleiben diesbezüglich äußerst skeptisch. Er spricht in seinem neuesten Buch(FN21) von einem Dialog mit dem Islam in Anführungszeichen. Es handle sich um einen von der EU-Spitze erzwungenen "Dialog", der den Europäern die Kultur des Islam als offenbar notwendigen und bereichernden Impuls für den Fortschritt vermitteln soll, obwohl durch gesteigerte Migration immer mehr islamische Konfliktpotenziale in Europa entstünden, schreibt Raddatz.(FN22) Der iranisch-stämmige Orientalist Navid Kermani bringt es auf den Punkt: Es sei wichtiger, ein guter Mensch zu sein als ein guter Muslim - in Anlehnung an das Prophetenwort. "Wenn Religionen gut sind, dann sind sie es nicht nur für den Gläubigen, sondern ebenso für die Menschen, die mit ihnen zu tun haben. Man müsse nicht fromm sein, um gut zu sein", so Kermani.(FN23) Zudem zeigt sich, dass die Zahl der gewaltfernen Islamisten in einer Reihe von islamischen Ländern - v.a. in Nordafrika, aber auch in der Türkei - deutlich im Zunehmen ist. Sie lehnen Gewaltanwendung ab und wollen nur ihre Religion auf die von ihnen als richtig angesehene Weise leben. In vielen Fällen werden sie daran unter Hinweis auf den internationalen Terrorismus gehindert. Dies führen sie zumindest teilweise auch auf die Aktivitäten von Al Qaida zurück. Auch wenn weiterhin mit Terrorattacken von Al Qaida zu rechnen ist, besteht zumindest die Hoffnung, dass nach Auffassung des französischen Islamwissenschaftlers Gilles Kepel der radikale Islam den Höhepunkt seines Einflusses zumindest überschritten haben dürfte.

Es gibt hoffnungsfrohe Anzeichen, dass eine grundlegende Reform des Islam in Bezug auf die Herausforderungen der Moderne nicht nur nötig, sondern auch möglich ist. Zu diesem Schluss kommen etwa muslimische wie nichtmuslimische Islamwissenschafter, Politologen, Soziologen und Publizisten - von Indonesien bis zu den USA - in einem jüngst erschienenen bemerkenswerten Sammelband, den Katajun Amirpur und Ludwig Ammann herausgeben haben.(FN24) Sie meinen, dass der Islam nicht grundsätzlich zu den Werten der Moderne im Widerspruch steht. Es geht dabei um den Koran und seine Auslegung, um Demokratie und Scharia, Islam in Europa, Frauen- und Menschenrechte. Der iranisch-stämmige Islamwissenschafter Reza Aslan unternimmt diesbezüglich eine kritische Bestandsaufnahme von Ursprung und Entwicklung des Islams - nicht nur eine Darstellung der gegenwärtigen innermuslimischen Auseinandersetzung um die Zukunft dieses doch oft missverstandenen Glaubens. Es ist v.a. ein Plädoyer für Reformen. Sein aktuelles Buch(FN25) ist eine Verteidigung des eigenen Glaubens - insbesondere gegen Ignoranz und Hass. "Es bedeutet keine Abkehr vom Islam, denn niemand könne für Gott sprechen - nicht einmal der Prophet (der über Gott spricht)", so Aslan.(FN26) Entgegen den Ausprägungen radikaler islamischer Fundamentalismen der Dschihadisten, die im Schwarz-Weiß-Denken verhaftet sind, wird hier ein differenziertes Bild der Vielfalt im Islam ausgedrückt, das es immer schon gab und gibt. Es ist nur verschüttet. Denn die starre Auslegung des Korans, wie sie von vielen radikalen Islamisten praktiziert wird, ist eher ein Phänomen der Moderne als eine geschichtliche Tradition.

Zusammenfassung

Der Terrorismus beider Akteure (RAF und Al Qaida) fand zwar unter anderen politischen und sozio-ökonomischen Vorzeichen in zeitlich verschobenen Zeitperioden statt; es zeigten sich aber bei der Untersuchung der jeweiligen ideologisch-politisch-religiösen Entwicklungs- und Handlungsmuster auch gewisse Gemeinsamkeiten und Überschneidungen - auch wenn Vergleiche immer hinken.

Was aber anhand beider Entwicklungen augenscheinlich ist, scheint die Notwendigkeit der Erhaltung der demokratischen rechtsstaatlichen Ordnung gerade in einer unruhigen See zu sein, die mit festem Willen allen autoritär auftretenden Herausforderungen entschlossen entgegentritt. Das ist es, was der Staatsrechtler und Publizist Martin Kriele gegen Ende der 1980er-Jahre mit "demokratischer Weltrevolution" meinte.(FN27) Es ist die Geschichte des Mündigwerdens des Menschen. An die Stelle des "Rechts des Stärkeren" tritt die Achtung vor der Gleichberechtigung des anderen, an die Stelle von Parteilichkeit die Rechtsidee der Unparteilichkeit, an die Stelle von Willkür der Rechtszustand, an die Stelle von Vormundschaft die Selbstbestimmung und an die Stelle der Despotie die rechtlich gesicherte Freiheit. Der Rechtszustand, der den Menschen und Völkern Freiheit zur Selbstgestaltung ihres Lebens gewährleistet und diese Freiheit zugleich so beschränkt, dass die anderen Menschen und Völker die gleiche Freiheit genießen, ist die der Natur des Menschen allein gemäße Gestalt des Zusammenlebens. Das ist auch der Grund, weshalb der demokratischen Revolution eine natürliche Tendenz auf universale Ausbreitung innewohnt: Sie ist die Weltrevolution schlechthin. Das schrieb Kriele damals über die totalitäre Herausforderung des Sowjetkommunismus im Kalten Krieg. - Und es steht auch stellvertretend für die Herausforderung des (west-)deutschen Staates durch die RAF. Krieles Worte scheinen zudem angesichts der neuen totalitären Herausforderung - durch den von manchen als "Islamofaschismus" bezeichneten religiös-islamischen Fundamentalismus - eine ebenso brandaktuelle Bedeutung zu haben wie damals, und sollten so manchen politischen Entscheidungsträgern unbedingt ans Herz gelegt werden.

ANMERKUNGEN:

(FN1) Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Sonderdruck. Erste Auflage 2006.

(FN2) Ebenda, S.16.

(FN3) Siehe dazu etwa: Gilles Kepel: Das Schwarzbuch des Dschihad - Aufstieg und Fall des Islamismus. Piper, München 2002. Hans-Peter Raddatz: Von Allah zum Terror? Herbig, München 2002. Walter Laqueur: Krieg dem Westen - Terrorismus im 21. Jahrhundert. Propyläen Verlag, Berlin 2003. Tariq Ali, Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung - Die Krisenherde unserer Zeit und ihre historischen Wurzeln. Diederichs Verlag, München 2002.

(FN4) Siehe dazu Klaus Stern/Jörg Herrmann: Andreas Baader - Das Leben eines Staatsfeindes, dtv, Jänner 2007.

(FN5) Vgl. Rafinfo.de - Die Webressource zur Roten Armee Fraktion: (http://www.rafinfo.de/hist/kap01.php).

(FN6) Siehe etwa Klaus Pflieger: Die Rote Armee Fraktion - RAF - 14.5.1970 bis 20.4.1998, Nomos Verlag, 2004.

(FN7) Caroline Fetscher: "Der Spaß hat aufgehört". "Wege in den Terror" - ein RBB-Film über Ulrike Meinhof in: Der Tagesspiegel, 8.5.2006, S.27.: (http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/08.05.2006/2516297.asp).

(FN8) Vgl. Susanne Stöffel: "Die Wechselwirkung von Terrorismus und innerer Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland der 70er-Jahre" - Magisterarbeit an der Eberhard Karls-Universität, Tübingen 2002, im Internet: (http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2004/1088/pdf/Magisterarbeit1_neu.pdf).

(FN9) Zum Vgl. dazu: Kanzler Helmut Schmidt wird im deutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" nach Mogadischu auf der Titelseite als "Der bewunderte Deutsche" bezeichnet. - In: Der Spiegel v. 24.10.1977.

(FN10) Siehe dazu Butz Peters: Der letzte Mythos der RAF - Das Desaster von Bad Kleinen, Berlin 2006, S.263.

(FN11) Hans-Jochen Vogel: "Die Gefahr ist heute um ein Vielfaches größer" - Essay zur Sicherheitsdebatte. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Juli 2004). Im Internet unter: (http://www.bpb.de/themen/LI3UZE,0,Die_Gefahr_ist_heute_um_ein_Vielfaches_gr%F6%DFer.html).

(FN12) Birgit Svensson: "Bin Laden droht Schiiten mit Rache", Die Welt v. 3.7.2006 im Internet: (http://www.welt.de/data/2006/07/03/942051.html).

(FN13) Peter Heine: Terror in Allahs Namen - Extremistische Kräfte im Islam, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2004.

(FN14) Gilles Kepel: Al-Kaida - Texte des Terrors, Piper-Verlag, München 2006.

(FN15) Siehe dazu Marwan Abou-Taam, Ruth Bigalke (Hrsg.): Die Reden des Osama Bin Laden. Diederichs Verlag, München 2006.

(FN16) Gilles Kepel im Interview in NZZ v. 22.5.2006, S.27.

(FN17) Ebenda.

(FN18) Ulrich Schneckener: Transnationaler Terrorismus - Charakter und Hintergründe des "neuen" Terrorismus, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006.

(FN19) Corinna Milborn: Gestürmte Festung Europa - Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto - Das Schwarzbuch. Styria Verlag, Wien-Graz-Klagenfurt 2006.

(FN20) Ursula Spuler-Stegemann: Feindbild Christentum im Islam - Eine Bestandsaufnahme, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2004.

(FN21) Hans-Peter Raddatz: Iran - Persische Hochkultur und irrationale Macht. Herbig Verlag, München 2006.

(FN22) Ebenda, S.13ff.

(FN23) Navid Kermani: "Es ist wichtiger, ein guter Mensch zu sein als ein guter Muslim" - Essay in der Feuilleton-Reihe "Was ist eine gute Religion?" in der NZZ v. 5.7.2006, S.25.

(FN24) Katajun Amirpur/Ludwig Ammann (Hg.): Der Islam am Wendepunkt - Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2006.

(FN25) Reza Aslan: Kein Gott außer Gott - Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2006.

(FN26) Ebenda, S.21.

(FN27) Siehe dazu Martin Kriele: Die demokratische Weltrevolution - Warum sich die Freiheit durchsetzen wird. Piper Verlag, München 1987.

Mag. Dr. Wolfgang Taus

Geb. 1964; 1984-1988 Studium Zeitgeschichte/Politologie (Diplom); 1989-1992 Doktoratsstudium zum Thema "Außen- und Sicherheitspolitik von BRD und DDR bis zur Vereinigung" an der Universität Wien; 1989-1992 Dokumentations-Redakteur im ORF; 1992-1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Strategische Forschung an der Landesverteidigungsakademie (LVAk) in Wien; 1993-1994 stv. Chefredakteur der ÖMZ; 1994-2004 Redakteur im ORF u.a. in der "Wochenschau"; seit 2004 freier Journalist und Lektor.



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