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Aspekte einer militärischen Tradition für Europa

von Eberhard Birk

Kurzfassung

◄ Dass militärische Traditionen in erster Linie nationale Traditionen sind, versteht sich von selbst, ebenso, dass die Frage der Traditionsbildung einen enormen politischen Stellenwert hat. Die Haltung des Militärs zur Traditionsfrage ist immer auch eine nach dem Geschichtsbild und Politikverständnis des Militärs: Das Traditionsverständnis des Militärs ist ein Indikator dafür, wie sich Armeen zu den politischen Gemeinwesen stellen, die sie zu verteidigen haben.

Grundsätzlich unterscheidet man zwei Ansätze zur Traditionsbildung; der eine beruht auf dem unausgesprochenen Mythos der Kontinuität, der andere auf einem zeitkontextualen Politikverständnis. Bei Ersterem stammt die "Weisheit" aus unvordenklichen Zeiten und besitzt zeitlose Gültigkeit, bei Letzterem - mit ‘Gegenwartsbezug’ - wird die Bedeutung des Aspektes der Identitätsstiftung postuliert.

Es gibt jede Menge Literatur zu diesem Thema, ohne dass eine Definition - eine analysierende Unterscheidung innerhalb des Komplexes Geschichte-Tradition-Brauchtum-Tugenden - vorgenommen worden wäre: Diese sind verschiedenartige Dinge, wodurch der Traditionsbegriff ‘schwierig’ wird. Gleichwohl ist das Traditionsverständnis, ganz gleich welcher Armee, ein ideales Konstrukt, in dem die politischen Leitvorstellungen eines Gemeinwesens sich auch in der diesem Gemeinwesen dienenden bewaffneten Macht ihre Abbildung finden müssen.

Im Fall der deutschen Bundeswehr hat sich im letzten Jahrzehnt ein beinahe schon klassisch zu bezeichnendes ‘Drei-Säulen-Modell’ herauskristallisiert, das auf den Elementen preußische Heeresreform mit den Reformern um Scharnhorst und Gneisenau, Tapferkeit der Männer und Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowie der nunmehr fast 50-jährigen eigenen Geschichte der Bundeswehr beruht. Wichtigstes Charakteristikum dieses Traditionsverständnisses ist der ‘Staatsbürger in Uniform’, der als freier Mensch, vollwertiger Staatsbürger und motivierter Soldat den demokratischen Staat bewusst bejaht: Schreitet man zur Auslotung eines potenziellen Traditionsverständnisses für Europa, wird man um Werte und Normen wie Menschenrechte oder Verfassungsstaat - geschützte Freiheit -, auf die man sich täglich beruft, als traditionswürdige Elemente nicht herumkommen.

Wichtig dabei ist, dass die nationalen Traditionen nicht durch eine einheitliche europäische Tradition ersetzt, sondern in einer Gesamtschau überwölbt werden sollen. Die militärischen Traditionen müssen auf der Grundlage eines freiheitlichen demokratischen Staats- und Gesellschaftsverständnisses entwickelt werden. Die tief reichenden Wurzeln Europas sind mit Demokratie, Christentum und Herrschaft des Römischen Rechts hinreichend bekannt. Ihre Grundlegungen werden durch die neuzeitlichen Entwicklungen Humanismus und Aufklärung, wissenschaftlich-technischen Fortschritt und wirtschaftliche Prosperität ergänzt und transformiert. Das Streben nach Freiheit und Demokratie, nach Selbstbestimmung auf der Basis des Rechts, die Auflehnung gegen Absolutismus, totalitäre Ideologien und Tyrannei bilden ein gesamteuropäisches Erbe, das von allen Europäern geteilt werden kann. ►


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Aspekte einer militärischen Tradition für Europa

Eine essayistische Betrachtung

"Wenn wir uns vorstellen, wir sollten lediglich mit dem leben, was wir als Angehörige einer einzelnen Nation sind (...), dann werden wir bestürzt erkennen, wie unmöglich eine solche Existenz ist: Vier Fünftel unseres geistigen Besitzes sind europäisches Gemeingut." (Ortega y Gasset) "Eine Tradition selber zu schaffen, ist viel schwieriger, aber auch großartiger, als sie in den Resten und Formen verjährter Gesinnung zu suchen und zu pflegen." (Theodor Heuss) Was Theodor Heuss, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, der im Entstehen begriffenen Bundeswehr als Ratschlag mit auf den Weg gab, könnte als Leitmotiv dienen, eine neue Perspektive für eine europäische Traditionsbildung als Diskussionsgrundlage anzubieten. Zwar ist offensichtlich, dass Soldaten in der Armee eines souveränen Nationalstaates dienen, der seine Staatsbürger schützt - diese Betrachtung ist legitim, aber zusehends in Erosion begriffen. Der Nationalstaat wurde politisch "gemacht" und war - auch als "imagined community"(Fußnote 1/FN1) - ein historischer Sonderweg zur Bewältigung sozialer Herausforderungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Spätestens angesichts des säkularen Globalisierungsprozesses und des grenzüberschreitenden Charakters neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen wird deutlich, dass die Aufgabenstellung der Zukunft einen größeren europäischen Rahmen benötigt - in sozial-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Hinsicht wie auch sicherheits- und verteidigungspolitischer Aspekte wegen.

Nationale Sicherheits- und Verteidigungspolitiken im Zuge der Globalisierung zu präferieren verkennt die objektive Tatsache, dass auch nationale Sicherheit in Europa heute nur als Ableitungsfunktion gesamteuropäischer Sicherheit denkbar ist. Dies alles erfordert ein grundsätzliches Umdenken, das in militärischer Hinsicht sich auch der aufkommenden Gretchenfrage - wie hältst du es mit dem "Euro-Soldaten"?(FN2) - nicht entziehen darf. Dabei geht es nicht um die Delegitimierung und sofortige Abschaffung nationaler Streitkräfte. Sicherlich werden die EU-Staaten für eine Übergangszeit nationale Streitkräfte behalten wollen. Aber dass es nun gilt, die EU zu einem strategisch autonomen Akteur vor, während und nach Krisen weiterzuentwickeln, ist evident. Dazu gehören natürlich à la longue auch europäische Streitkräfte.

Eine geistige "Wurzel", die über die militärische Professionalität hinaus notwendig ist, werden auch sie benötigen. Dann wird sich nicht nur die Legitimationsfrage nach dem "Warum", sondern auch jene nach dem geistigen Fundament, dem "Woher", stellen. Dass das Militär anders als die meisten Berufsgruppen ein stärker ausgeprägtes Kontinuitätsmuster - Tradition in weitestem Sinne - verlangt, ist legitim. In Zeiten des Umbruchs und der Auflösung kollektiver Erinnerungskulturen durch sozioökonomische und gesellschaftliche Veränderungen - insbesondere auch heute im Zuge der Globalisierung - geben Traditionen ein gewisses Maß an Orientierung und Sicherheit, mentaler Stabilität und Gewissheit. Das Bestreben, sich auf jahrzehnte- und jahrhundertelange identitätsstiftende Kontinuitätslinien zu berufen, ist unübersehbar. Nicht selten wird für das Spannungsfeld Militär und Tradition eine Metapher bemüht, wonach Armeen ohne Tradition Bäumen ohne Wurzeln gleichen.(FN3) Traditionen wie Wurzeln bieten Verankerung und Stabilität als Schutz vor den Unbilden des Ungewissen.

Tradition in Europa ist aber nicht gleich bedeutend mit europäischer Tradition. Militärische Traditionen sind in erster Linie nationale Traditionen. So wird niemand bestreiten, dass die Armeen Großbritanniens und Frankreichs sich mit Stolz auf jahrhundertealte, vermeintlich ungebrochene Kontinuitätsstränge beziehen. Ganz anders aber verhält es sich, wenn es um militärische Traditionen der deutschen Armeen des 20. Jahrhunderts geht: Die Existenz von königlichen Heeren der Kontingentsarmee des Kaiserreiches, der Reichswehr, Wehrmacht, NVA und Bundeswehr machen die "Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten" (FN4) für die Belange der Traditionsbildung der Bundeswehr, einer Armee in einer Republik vor dem Hintergrund diffiziler historischer (Dis-)Kontinuitäten, zu einer geistigen Herausforderung. Letztlich geht es jedoch vor allem darum, Traditionsbestände zu formulieren, die europafähig sind. In einem Umfeld zunehmender Europäisierung wird diese Komponente von Tradition einen Grad an Dringlichkeit gewinnen, der der Vorüberlegung bedarf. Diese Studie soll dazu dienen, sich näher mit einem Thema der Militärgeschichte zu befassen, das oftmals ausgeblendet oder nur dilatorisch behandelt wird, auf Grund seiner Relevanz jedoch von Bedeutung ist.

Damit geht es indes nicht um die Initialzündung zu einer "L’art pour l’art"-Diskussion. Die Frage der Traditionsbildung hat einen enormen politischen Stellenwert. Die Relevanz des Themas ergibt sich daraus, dass die Haltung des Militärs zur Traditionsfrage immer die Frage nach dem Geschichtsbild und Politikverständnis des Militärs ist und das Spannungsfeld von Integration und Desintegration umreißt: Das Traditionsverständnis des Militärs ist ein Indikator dafür, wie sich Armeen zu den politischen Gemeinwesen stellen, die sie zu verteidigen haben. Die Frage nach der Tradition ist ein dauerhaft schwieriges, im Grunde jedoch einfaches Problem: Welchen Freiraum kann ein politisches Gemeinwesen seinen Streitkräften bei der Gestaltung des Traditionsverständnisses lassen? Verstehen diese sich als integraler Bestandteil des Staates oder lehnen sie das Staatswesen ab? Wie stark sind sie mit ihren demokratisch regierten Staaten verklammert? Die Antwort darauf bietet die Grundlage für weiterführende Fragestellungen: Welche neuen Perspektiven ergeben sich vor dem Hintergrund verstärkter militärischer Kooperations- bzw. Integrationsmodelle und insbesondere der Diskussionen um den Vertragsentwurf für eine Verfassung für Europa in Hinblick auf eine mögliche Traditionsbildung für das europäische Militär? Welcher Traditionsbegriff ist adäquat, wenn europäische Soldaten als "EU-Bürger in Uniform" in ihrem erweiterten Auftragsspektrum im Rahmen der UNO, der NATO und in Kürze der EU unter einer Fahne gemeinsam an der europäischen Peripherie oder anderswo für Frieden, Sicherheit und Stabilität einzustehen haben? Welches geistige Rüstzeug wird ihren Hintergrund bilden?

Um zu fundierten Einsichten zu gelangen, ist es zunächst unumgänglich, sich des Begriffes der Tradition zu vergewissern. Im Anschluss daran soll der Traditionsbegriff an einem bereits bestehenden Traditionsmodell - dem Traditionsverständnis der deutschen Bundeswehr - erläutert werden, um dann über eine Transformation zu einer Option einer möglichen Traditionsbildung für europäische Streitkräfte der Gegenwart und Zukunft zu gelangen. Dabei ist wissenschaftstheoretisches und historisch-politisches Neuland zu betreten, ist doch der Traditionsbegriff bisher ausschließlich unter nationalspezifischer Perspektive betrachtet worden - ein europäischer Ansatz ist ein Desiderat.(FN5)

Der Begriff der Tradition

Die Redlichkeit und Verständlichkeit der folgenden Argumentation hat sich zunächst dem Traditionsbegriff zuzuwenden, der, um Missverständnisse zu vermeiden, zudem einer Abgrenzung zu den Begriffen Geschichte, militärisches Brauchtum und soldatische Tugenden bedarf. Grundsätzlich gibt es - neben verschiedenen weiterführenden Modellen - für die Traditionsbildung zwei gegensätzliche Ansätze. Beide Modelle gehen davon aus, dass eine Kontinuitätsstiftung von Motiven, Ideen und Topoi konstruiert wird.(FN6) Der Unterschied besteht jedoch darin, dass der erste - vormoderne - Ansatz der Traditionsbildung davon ausgeht, dass aus Interessen der Legitimation aus einer retrospektiven Beobachterperspektive die Vergangenheit als Normenquelle hypostasiert wird,(FN7) womit das Ewige im Vergänglichen durch einen grundsätzlich festgelegten Weg, der ohne Modifikation weiter zu tradieren ist, dauernde Geltung erlangt. Dieser Modus spiegelt den alten Bedeutungsinhalt des Begriffes "tradere" wider, der im römischen Erbrecht seinen Ursprung hat und seinen Wesenskern in der unveränderten Weitergabe des Erbes findet. Grundsätzlich beruht diese Form der Tradition "auf einem (...) unausgesprochenen Mythos der Kontinuität: Weisheit stammt aus unvordenklichen Zeiten und besitzt zeitlose Gültigkeit. Selbst wenn die äußeren Umstände sich ändern, wird sie als kostbares Erbe von Generation zu Generation weitergegeben." (FN8) Der Prozess des Tradierens erfolgt dabei weniger kritisch-reflexiv als vielmehr unter der Zielsetzung der Kontinuitäts- und Legitimationsstiftung durch die Weitergabe vermeintlich überzeitlicher (Welt-) Anschauungen, "innerer" und "äußerer" Größen - Normen und Formen - von einer Generation an die nächstfolgende -, verstanden als eine kulturelle Strategie der Dauer. Hier manifestiert sich die Auffassung, dass dieser Ursprung mit einem Richtungspfeil versehen war und ist, also wegweisend und verbindlich sein soll. Ein Verlassen des Weges, der Überlieferung, wäre demnach gleichbedeutend mit dem Verlust des richtigen Weges. Der Veränderung und der Kritik ist damit der Boden entzogen. Eine Einflussnahme auf Inhalte und Formen bleibt verwehrt, da nicht erwünscht - Überzeugungen und Taten religiöser Stifter und nationaler politischer und militärischer "Überväter" genießen sakrosankten Status. Die strenge Überlieferung wurde zur Pflicht, und die Form bzw. das Ritual wurde - mit der Tendenz zum "Götzendienst" -, allen Widrigkeiten und Veränderungen des Umfeldes zum Trotz, sukzessive wichtiger als die Inhalte - ungeachtet der Tatsache, dass auch die einmal grundgelegten Inhalte zeitabhängig waren und damit ohne Betrachtung der historischen Rahmenbedingungen und Zusammenhänge nunmehr eine systemimmanente Logik tradierten, ohne in Wechselwirkung mit dem Traditionsübernehmenden zu treten. Die Möglichkeit einer "historischen Kommunikation" zwischen den Generationen wurde verweigert und hiermit unterbunden; der Traditionsgeber verpflichtete den Traditionsübernehmenden absolut.

Diesem "Ewigkeitsanspruch" steht der "Gegenwartsbezug" der Traditionsbildung gegenüber. Dieser Ansatz postuliert die Bedeutung des Aspektes der Identitätsstiftung. Der Ausgangspunkt der Betrachtung der Geschichte ist dabei abhängig vom aktuellen, zeitkontextualen Politikverständnis. Aus diesem Ansatz heraus werden das gegenwärtige aktuelle Politik- und Weltbild sowie die gesellschaftlichen Werte- und Ordnungsvorstellungen zu Grunde gelegt. Bei der Betrachtung der Geschichte wird diese Form der Traditionsbildung zur historischen Tiefendimension, die, orientiert an der Geschichte, den gegenwärtigen Standpunkt bewusst in eine Linie stellt: Der Richtungspfeil wird umgedreht. Dabei werden geistige Werte, Haltungen und Ereignisse in der Geschichte gesucht, die, wenn auch zum Teil unter veränderten Rahmenbedingungen, eine Brücke zur Gegenwart bzw. vice versa erlauben. Dieser Ansatz kann dabei die Wahrnehmungen von Diskontinuitäten nicht ausschließen, da die in der jeweiligen Gegenwart gültigen Werte durch historische Veränderungen des Menschen- und Gesellschaftsbildes nicht zu jeder historischen Zeit mit den heutigen Vorstellungen identisch waren. Der Vorwurf, dies habe den Charakter eklektizistischer Willkürlichkeit, geht deshalb in die Leere, da der Bezug zum Wertekonsens der Gegenwart keinen Zugriff auf Bausteine, die diesem Ansatz diametral entgegengesetzt sind, erlaubt. Durch das sich wandelnde Politikverständnis der Gegenwart wird diese Form der Traditionsbildung zu einem dynamischen Prozess, wodurch sich Tradition mit Gegenwartsbezug vom statischen Charakter des ersten Begriffes unterscheidet.

Tradition ist also "weder Dogma noch Rezept (...) Tradition ist ein schöpferischer Vorgang, den wir alle mitgestalten müssen (...) Er setzt Geschichtswissen und Geschichtsbewusstsein voraus. Er erfordert staatsbürgerliches Bewusstsein. Und er erfordert Kenntnis der Zusammenhänge von Geschichte und aktuellem Geschehen (...) Daraus ergibt sich, dass unsere Tradition kein leerer, feststehender Begriff ist, sondern, dass sie fortzuentwickeln ist, dass ihre Gestaltung zu geistiger Auseinandersetzung zwingt." (FN9) Diese Grundüberlegungen bedürfen nun einer Anwendung auf den militärischen Traditionsbegriff. Der Begriff der Tradition ist einfach und schwierig zugleich. Einfach deshalb, weil man ihm gewöhnlich die Bedeutung einer nicht hinterfragten, legitimierenden Überlieferung des Herkommens mit einem fließenden Übergang zum Brauchtum, zur Konvention, zur Gewohnheit, zur Gepflogenheit beimisst. Diese umgangssprachliche Unschärfe ist der Grund dafür, dass es über militärische Tradition viele Bücher gibt, ohne dass eine Definition - eine analysierende Unterscheidung innerhalb des Komplexes Geschichte-Tradition-Brauchtum-Tugenden - vorgenommen worden wäre: Diese sind verschiedenartige Dinge, dadurch wird der Traditionsbegriff schwierig.

Zunächst zur Abgrenzung zur Geschichte: Die Bezugnahme zur "Negativfolie Geschichte" ist die unverzichtbare Grundlage jeder Traditionsbildung. Neben unzähligen Theorien über Geschichte, ihre Subdisziplinen sowie deren Spann- und Tragweiten mag hier als Arbeitsbegriff genügen, sie als die geistige Form, in der eine Kultur oder Nation sich Rechenschaft über ihre Vergangenheit gibt (Huizinga), zu verstehen, womit sie sich wieder von der unterschiedslosen Ansammlung von "Vergangenheit" unterscheidet. Die Vergangenheit ist ein unumkehrbarer und abgeschlossener Prozess; die Geschichte ist eine geistig durchdrungene (Re-)Konstruktion derselben. Durch die fortschreitende Forschung ist die kritisch-reflexive Betrachtung der Geschichte Wandlungen unterworfen - mit Auswirkungen auf die "Geschichtspolitik", die in der Öffentlichkeit unterschiedlich rezipiert wird.(FN10) Dies hat auch Folgen für die Traditionsbildung.

Das militärische Brauchtum, zum Teil gewonnen aus vor- oder gar dezidiert antidemokratischer Zeit, bietet durch die Konstruktion und Kontinuität militärischer Gepflogenheiten, deren Ursprung, Sinn und Bedeutungsinhalt gelegentlich in Vergessenheit geraten sind, eine generationenübergreifende Verhaltens- und Orientierungssicherheit. Da in ihnen oftmals das Bleibende im Wechsel gesehen wird, entstand der Eindruck, sie seien traditionsstiftend. Durch eine weitere (un)bewusste Begriffsunklarheit entstand das zweite verbreitete Missverständnis, die "soldatischen" Tugenden Tapferkeit, Disziplin, Gehorsam, Loyalität etc. seien militärische Tradition. Indes, diese Tugenden finden in jedem Organisationssystem ihre Verwendung - weder SS und Mafia noch Feuerwehr, Polizei und Streitkräfte in demokratischen Staaten können darauf verzichten. Die Transformation von Tugenden zu "soldatischen Werten" ermöglichte es den Soldaten, sich stets auf das "Unpolitische" zurückzuziehen. Damit existierte immer eine übergeordnete Verantwortungsinstanz, deren Befehle lediglich befolgt wurden; der Soldat konnte sich "professionell" auf sein vermeintlich einziges und "eigentliches" Metier, das Kämpfen, zurückziehen: Die Tugenden ersetzten die Werte, das "Wie?" wurde wichtiger als das "Wofür?"; die klassische Adjektiv-Kumulation (tapfer, diszipliniert, treu, gehorsam etc.) kann deshalb nicht traditionsstiftend sein. Die Tugenden bekommen ihren sittlichen Wert erst durch den Bezug auf einen Wertekanon, für den sie eingefordert werden; dieser wäre in unseren demokratisch legitimierten Staaten Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit.

Dabei gilt es, die generelle Sinnstiftungs- und Integrationsfunktion des Traditionsbegriffs zu beachten, der im Spannungsfeld von historischer Bildung und Politikverständnis beide Pole miteinander verbindet: Das Politikverständnis der Gegenwart stellt die Traditionsfrage an die Geschichte. Wir können also unsere Tradition - kritisch-reflexiv und unter ideellen Gesichtspunkten, orientiert an unseren gegenwärtigen Werten und Normen - frei und bewusst auswählen. Der Gegenwartsbezug des Politikverständnisses ist die Voraussetzung für den Spannungs- und Handlungsrahmen, der auf die Notwendigkeit der Freiheit als unabdingbares Grundprinzip für die Bildung von Tradition verweist. Damit wird die Auswahl von Tradition zu einem geistigen Akt einer selbst gewählten Kontinuitätslinie, die weit über militärische Zweckmäßigkeit oder die ritualisierte Reduktion innermilitärischer Verhaltensmuster hinausweist. Traditionsbildung wird zu einer in die Geschichte verlagerten und verlängerten Kontinuitätslinie, die über die Brücke der wertbezogenen Auswahl Maßstäbe der geistigen Orientierung für die Gegenwart bietet. Diese Brücke bleibt allerdings mit dem Wandel des Politikverständnisses flexibel. Ein neues Politikverständnis sucht sich stets neue Kontinuität und identitätsstiftende Traditionen. In anderen Worten: Tradition ist ein dynamischer Prozess und zeitbezogen begründungspflichtig. Was heute Traditionsbestand ist, muss morgen nicht mehr gültig sein. Tradition ist eben kein unreflektierter Rückgriff auf Wertvorstellungen der Vergangenheit; die Wertvorstellungen müssen in der Gegenwart des Betrachters zu Grunde gelegt sein, um von hier aus die "Verlängerung" in die Vergangenheit zu suchen - es geht um den unverzichtbaren normativen Werterahmen als Voraussetzung der Traditionsfindung.

Der Traditionsbegriff zielt folglich - nur scheinbar paradox - auf den Kopf und nicht auf die Seele des Soldaten, für den aus seiner subjektiven Sicht militärische Gepflogenheiten, die Länge der Liste der Regimentskommandeure, die Teilnahme seines Verbandes an Kriegen, Feldzügen und Schlachten, die Hinterlassenschaften von militärischen Führern genauso wie militärspezifische Lösungsansätze operativer und taktischer Probleme und das althergebrachte Zeremonielle in seinem Sinne und Berufsverständnis traditionswürdig sein mögen. Es ist zwar nur zu verständlich, dass dem Soldaten daran gelegen ist, soldatische Vorbilder aus der Vergangenheit als Leit- bzw. Vorbild für eigenes soldatisches Handeln zu kennen. Gleichwohl ist das Traditionsverständnis, ganz gleich welcher Armee, ein ideales Konstrukt, in dem die politischen Leitvorstellungen eines Gemeinwesens sich auch in der diesem Gemeinwesen dienenden bewaffneten Macht ihre Abbildung finden müssen. Die Werte, die eine Gesellschaft im Inneren zusammenhalten (sollen), dürfen der Armee nicht fremd sein, ist sie es doch, die den Geltungsbereich der Werte und die daraus resultierenden politischen Interessen dieses Gemeinwesens auch unter Einsatz von Menschenleben zu verteidigen hat. Hierfür existiert folglich ein Legitimitätsbedarf. Tradition ist deshalb auch keine nur innermilitärische Aufgabe.

Für die militärische Traditionsbildung ist nicht nur das Militär, sondern auch die Politik, die Öffentlichkeit - die Gesellschaft - zuständig. Wesentliche Impulse werden von außen empfangen.(FN11) Damit gilt es, explizit auf einen nicht unwesentlichen Punkt hinzuweisen: Die Tradition der Streitkräfte darf sich nicht - oder nur in Nuancen - von den Traditionen der Staaten unterscheiden: Streitkräfte in Demokratien führen kein Eigenleben, sie dienen ihrem Staatswesen. Deshalb ist für eine Großorganisation wie die Streitkräfte eine Auswahl "traditionsstiftender" Personen und Handlungen auf individueller Basis einzelner Soldaten nicht möglich. Es kommt daher darauf an, das meist unkritische "Traditionsbedürfnis" der Truppe mit den richtigen Inhalten zu versehen. Dabei geht es um das historisch-politische Selbstverständnis einer Armee. Traditionsbildung ist deshalb in erster Linie ein Politikum und in zweiter Linie ein ständiger erzieherischer Prozess, dem sich jeder militärische Vorgesetzte zu stellen hat.

Das Traditionsverständnis der deutschen Bundeswehr

Dies musste auch der Ausgangspunkt für die ersten Überlegungen eines neu zu begründenden Traditionsverständnisses bundesdeutscher Streitkräfte im Zuge der Wiederaufstellung des Militärs sein. Eine wesentliche Grundlage und Grundvoraussetzung für das Traditionsverständnis der Bundeswehr formulierte bereits die Himmeroder Denkschrift vom Oktober 1950; es sollte "ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht heute grundlegend Neues" (FN12) geschaffen werden - ein angekündigter Paradigmenwechsel!(FN13) Mit neuen deutschen Streitkräften unter fundamental geänderten sicherheits- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen musste auch ein fundamental geändertes Traditionsbewusstsein einhergehen - Primat der Politik. Die neue Armee konnte nicht auf alte Traditionen zurückgreifen. Für die deutschen militärischen und politischen Konstanten lässt sich in diesem Zusammenhang - freilich etwas überzeichnet - festhalten, dass sie sich seit dem Prozess der Reichsgründung und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundsätzlich dadurch charakterisieren lassen, dass sie in erster Linie aggressiv imperialistisch, nationalistisch und expansionistisch waren, was die außenpolitische Dimension anbelangt; im Inneren waren sie geprägt von antidemokratischen und antirepublikanischen Geisteshaltungen.(FN14) Sie standen und stehen damit diametral dem Auftrag und Selbstverständnis der Bundeswehr entgegen - ein "Traditionsbruch" ohnegleichen!

Die Bundeswehr wurde von Beginn an als Bündnisarmee im westeuropäisch-nordatlantischen Rahmen konzipiert. Die Ziele des NATO-Bündnisses wurden in der Präambel formuliert: "Die Parteien (...) sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten." (FN15) Eine sich auf die freiheitlichen Werte des Westens begründende Bundesrepublik Deutschland konnte dem wertungebundenen Katalog der "militärischen Sekundärtugenden", die - mit der Zielsetzung, eine Integration der Streitkräfte in das neue demokratische Gemeinwesen zu verhindern - für die Reichswehr, der ersten deutschen Armee in einer Demokratie, als überlieferungswürdiges Gut per se galten, keine traditionsbildende Kraft zukommen lassen.

Eine Kontinuitätslinie zur Wehrmacht als Institution verbot sich ohnehin.(FN16) Im Klartext: Mit dem politischen Generalthema einer dauerhaften Einbindung der jungen Bundesrepublik in den "Westen" war und ist ein mental nach "Osten" marschierendes Traditionsverständnis unvereinbar. Dass die am Aufbau der Bundeswehr beteiligten Soldaten der ehemaligen Wehrmacht ihr Traditionsverständnis am eigenen Erfahrungsschatz aus der Reichswehr und der Wehrmacht festmachten, ist aus deren subjektivem Blickwinkel mit Abstrichen historisch erklärbar. Das "Kriegshandwerk"(FN17) - die Erinnerung an siegreiche Schlachten, Feldzüge und Kriege, die Konzentration auf innermilitärische Kontinuitätslinien, auf hervorragende soldatisch-militärische Leistungen, auf eine zeitenthobene Fixierung des rein "Soldatischen", auf den im "entpolitisierten Raum" seinen Dienst verrichtenden Soldaten sui generis, sollte es ihn tatsächlich je gegeben haben - konnte aber dann nicht mehr ausreichen, wenn auch die außermilitärischen Einflussgrößen - die Staatskunst - eben auf die (gebrochenen?) Kontinuitätslinien verweisen.

Die objektiven "Irrungen und Wirrungen" preußisch-deutscher Militärgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts lassen rückblickend kaum mehr nachvollziehen, weshalb der erste Traditionserlass der Bundeswehr von 1965 diese Komplexität der Zusammenhänge für die preußisch-deutsche Militärgeschichte behaupten wollte: "Politisches Mitdenken und Mitverantwortung gehören seit den preußischen Reformen zur guten Tradition deutschen Soldatentums." (FN18) Wie - diese Frage muss dann erlaubt sein - konnte es dann zu den beiden Katastrophen des 20. Jahrhunderts kommen? Erst die "Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr", der "Traditionserlass" vom 20. September 1982, stellte die noch immer gültige Maxime auf: "Tradition ist die Überlieferung von Werten und Normen. Sie bildet sich in einem Prozess wertorientierter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (...) Sie setzt Verständnis für historische, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge voraus (...) Maßstab für Traditionsverständnis und Traditionspflege in der Bundeswehr sind das Grundgesetz und die der Bundeswehr übertragenen Aufgaben und Pflichten (...) Die Darstellung der Wertgebundenheit der Streitkräfte und ihres demokratischen Selbstverständnisses ist die Grundlage der Traditionspflege der Bundeswehr." (FN19) Für das derzeit aktuelle Traditionsverständnis der Bundeswehr hat sich im letzten Jahrzehnt vor diesem Hintergrund ein beinahe schon kanonisiertes "Drei-Säulen-Modell" herauskristallisiert.

Diese Säulen sind die preußische Heeresreform mit den Reformern um Scharnhorst und Gneisenau, die "Tapferkeit der Männer und Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus" (FN20) sowie die nunmehr bald 50-jährige eigene Geschichte der Bundeswehr. Bei der Betrachtung der einzelnen Säulen unter der Perspektive der Traditionsbildung wird man zu den jeweils folgenden Ergebnissen kommen: Die Delegitimation des absolutistischen Staates und Heeres nach der in ihren Auswirkungen vernichtenden Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 - eine "Standesarmee" wurde durch eine "Nationalarmee" besiegt - verlangte in einer "Revolution von oben" auf der Basis der staatsbürgerlichen Idee die Vereinigung von Staat, Nation und Armee; sinnbildlich veranschaulicht durch die Einsicht Gneisenaus: "Aber es ist billig und staatsklug zugleich, dass man den Völkern ein Vaterland gebe, wenn sie ein Vaterland kräftig verteidigen sollen." (FN21) Hierzu war die Einbeziehung des Bürgertums als "Vertreter von Besitz, Bildung und Modernität" (FN22) in den neuen Staat und der Wehrpflicht - verstanden als Wehrrecht - in die neue Armee unerlässlich; der Bürger sollte, so die zentrale Forderung Scharnhorsts, als Soldat geborener Verteidiger seines ihm Rechte einräumenden "Vaterlandes" sein. Dies, nicht die Wehrpflicht an sich, ist der Wesenskern der Traditionsstiftung der Gesamtheit des preußischen Reformwerkes.

Betrachten wir die traditionsstiftende "Tapferkeit der Männer und Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus" unter dem militärhistorischen Aspekt - hier etwas verkürzt auf die verfolgten Ziele mit dem von Oberst Graf von Stauffenberg durchgeführten Attentat.(FN23) Die militärischen und zivilen Verschwörer des 20. Juli 1944 wollten eine Diktatur stürzen, keine errichten. Natürlich verfolgten die Widerstandskämpfer nicht alle Pläne, die automatisch zu einer Bundesrepublik Deutschland hingeführt hätten - wie auch? Dies zu kritisieren, hieße deren Sozialisation außer Acht zu lassen. Alle Kritik an den Widerstandskämpfern übersieht doch eines: Wer den Teufel tötet, muss kein Engel sein. Es ging um die Ermöglichung von Politik und die "Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts",(FN24) wenn man dies in dieser Überhöhung so formulieren darf. Zivilisten aus den verschiedenen Widerstandsgruppen konnten Ideen liefern, politische Konzeptionen entwerfen und vielleicht Kontakt zu den Massen herstellen. Um dahin zu gelangen, war es aber unbedingt notwendig geworden, Hitler zu beseitigen - schon der Eidproblematik wegen.

Das ging seit 1934 nur noch mit militärischer Gewalt. Aber gegen den eigenen Kriegsherrn und die eigene Regierung vorzugehen hatten die deutschen Feldmarschälle, die Generale und Generalstabsoffiziere nie gelernt. Ihre Aufgabe war es, den Krieg zu planen und zu führen.(FN25) Alles andere widersprach ihrem Traditionsverständnis: "Preußische Feldmarschälle meutern nicht", so Manstein.(FN26) Aber, waren nicht auch die Worte des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelms I. preußische Tradition: "Der preußische Offizier schuldet Gehorsam, es sei denn, es geht gegen seine Ehre" ?(FN27) Oder die Worte des Prinzen Karl Friedrich von Preußen: "Herr, dazu hat Sie der König von Preußen zum Stabsoffizier gemacht, damit Sie wissen, wann Sie einen Befehl nicht zu befolgen haben" ?(FN28) Die Traditionen Alt-Preußens waren längst nicht mehr die Traditionen der preußisch-deutschen Armeen des 19. und 20. Jahrhunderts. Disziplin, Gehorsam und das Ergötzen an den taktischen und operativen Gesichtspunkten militärischer Landkriegführung unter Ausblendung verschiedenster Einbindung und Zusammenhänge traten an deren Stelle. Bei der Betrachtung dieser Sozialisation des Militärs war kaum daran zu denken, dass sich die Wehrmacht der Diktatur Hitlers entgegensetzen würde. Dass der "Erlösungsversuch" des 20. Juli - viele zuvor geplante Attentate waren bereits gescheitert - viel zu spät kam und wahrscheinlich scheitern würde, war insbesondere Generalmajor v. Tresckow bewusst: "Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig." (FN29) Dieser "Aufstand des Gewissens" (FN30) war denn auch eine moralische Grundlage, die die Tat als Teil der Biografie der Widerstandskämpfer des 20. Juli und insbesondere ihre Motive zu einer wesentlichen Traditionssäule der Bundeswehr werden ließen.(FN31) Mit der Bindung des Militärs an verfassungsrechtliche Grundsätze, i.e. das Grundgesetz, der Einführung eines Soldatengesetzes, der parlamentarischen Kontrolle durch Haushaltsgesetzgebung, einem zivilen Verteidigungsminister und einem nur dem Parlament verantwortlichen Wehrbeauftragten - dem "Primat der Politik" über die Bundeswehr - wurde als Konsequenz die bewaffnete Macht dezidiert der zivilen politischen Führung untergeordnet: "Damit ist das Problem soldatischen Widerstands endgültig gelöst, denn der Soldat als Bürger hat denselben Prinzipien zu dienen wie der Bürger, der Zivilist ist." (FN32) Die beiden vorgenannten Traditionssäulen hängen eng und ursächlich mit der dritten, deren Gravitationszentrum sich mit der Konzeption der Inneren Führung ermitteln lässt, zusammen.(FN33) Ihr bekanntester geistiger Vater war Wolf Graf von Baudissin, für den die letztlich an der Restauration gescheiterte preußische Heeresreform und der militärische Widerstand die historische Tiefendimension des "Staatsbürgers in Uniform", der freier Mensch, vollwertiger Staatsbürger und motivierter Soldat ist, bildeten. Dieses historisch-politische Grundverständnis lässt den "Staatsbürger in Uniform" den demokratischen Staat bewusst bejahen: "Der Nur-Soldat, der im Stil eines Condottiere in jedem politischen System Verwendung finden könnte, hat in der Bundeswehr keinen Platz. Der Soldat der Bundeswehr kann vielmehr den ihm auferlegten treuen Dienst überhaupt nur dann erfüllen, wenn er ein sauberes Verhältnis zu den Grundlagen unserer Verfassungsordnung hat, die auf ganz bestimmten, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Vorstellungen von der menschlichen Gemeinschaft basiert",(FN34) so der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maizière, ein Mitstreiter Baudissins. Damit wird die Verbindung des Militärs mit dem Staatswesen deutlich.

Für die Bundeswehr, die Armee der Bundesrepublik Deutschland, ist dieses Traditionsverständnis ohne Zweifel angemessen.(FN35) Denn mit der Gesamtheit der Zielsetzungen der zivilen preußischen Reformen unter Stein, Hardenberg und Humboldt, den Motiven der zivilen politischen, kirchlichen und gewerkschaftlichen Widerstandskreise im Dritten Reich, aus denen sich viele Gründungsväter der Bundesrepublik rekrutierten, sowie der eigenen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist es deckungsgleich mit dem historisch-politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik. Somit ist mit dem Traditionsverständnis der Bundeswehr ein Idealfall der Kompatibilität von militärischer und ziviler politischer Tradition gegeben. Geradezu folgerichtig spiegelt sich dieses politisch und militärisch kongruente Traditionsverständnis auch im Inhalt der im Eid festgehaltenen vornehmsten Soldatenpflicht wider, nämlich "der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen". (FN36)

Bausteine einer europäischen Tradition

Mit dem annus mirabilis 1989, den Freiheitsrevolutionen in Mittel-(Ost-)Europa, der sich vertiefenden Integration in Westeuropa sowie dem sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel des letzten Jahrzehnts veränderten sich die politischen und militärischen Rahmenbedingungen. Der Prozess der europäischen Integration erscheint als unumkehrbar und dynamisch. Die EU stellt sich nach der Verwirklichung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion der Herausforderung der Herausbildung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI)(FN37) - wenngleich dieser Begriff seine offizielle Verortung noch in der NATO findet. Als globaler Akteur wird die EU zur Durchsetzung ihrer Interessen nicht vor der Bereitstellung von Streitkräften Halt machen können - es ist an der Zeit, sich zum Ziel der Schaffung einer "Stehenden Europäischen Armee" (Standing Armed Forces Europe - SAFE) zu bekennen. Vor dem Hintergrund eines Verfassungsentwurfes für Europa und angesichts der zunehmenden Vernetzung sicherheits- und verteidigungspolitischer Entscheidungs- und Handlungsstrukturen eröffnet sich damit auch die Möglichkeit, die noch-nationalen Traditionslinien in Europa anzunähern - eine "Europäische Tradition" wird zum Desiderat. Bevor jedoch eine mögliche Traditionslinie europäischer Streitkräfte avisiert werden kann, ist es unumgänglich, sich in Form einiger Vorbemerkungen Gewissheit über Ausgangssituation und Zielsetzung zu verschaffen, um dann vor dem Hintergrund eines reichhaltigen Fundus der europäischen Geschichte Ansatzpunkte für ein einigendes, gemeinsames Band zu finden, die einen Traditionsvorschlag ermöglichen. Die Zeit für eine übernationale Perspektive scheint reif zu sein. Vor dem Hintergrund der Geschichte Europas - und hier insbesondere des 20. Jahrhunderts - erweist sich dies als nicht selbstverständlich und einfach.

Angesichts der beiden Weltkriege und der nachfolgenden Phase einer strikten ideologischen Konfrontation scheint es schwierig, eine gemeinsame Traditionsbasis zu finden. Und dennoch zeigte der fortschreitende Integrationsprozess im Westen Europas, dass die Enge der Nationalstaaten überwindbar war und ist.

Wie also könnte ein sinn- und integrationsstiftender Traditionsbegriff des europäischen Militärs, aufbauend auf den weiter mental prägenden nationalen Traditionslinien, aussehen? Worauf können bzw. müssen sich die Europäer in ihrer (überwiegenden) Gesamtheit berufen? Der "Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa" bietet hierfür eine überzeugende Antwort,(FN38) wenn er sich in seiner Präambel auf die "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in seiner Gesellschaft" bezieht sowie "Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft" postuliert. Es müssen also, dies als Prämisse, weiterhin Werte und Normen sein, sinnbildlich gestützt auf einen einheitlichen gesamteuropäischen historischen Erfahrungshorizont.

Die Werte und Normen sind nur scheinbar abstrakt: durch den demokratischen Verfassungsstaat gesicherte und einklagbare, personengebundene und damit unveräußerliche Freiheitsrechte. Allerdings darf Tradition nicht in Form eines Oktroi vorgegeben werden; dies wäre dem Leitbild der mündigen Bürger in Uniform nicht gerecht. Aber wie könnte man Werte und Normen wie Menschenrechte, Verfassungsstaat - geschützte Freiheit -, auf die man sich täglich beruft, nicht als traditionswürdig betrachten? Ein Traditionsbild, umrahmt von Pulverdampf, Schlachtenszenen und Operationen in der Tiefe des Raumes, begründet auf Sekundärtugenden wie Disziplin, Gehorsam und Tapferkeit allein, ist schon lange nicht mehr adäquat - es hat vielmehr musealen Charakter. Den Maßstab für ein europäisches Traditionsverständnis wird dann eine europäische Verfassung bilden, an die der Eid europäischer Soldaten zu knüpfen wäre, dessen wesentliche Inhalte "Einigkeit und Recht und Freiheit" auf den Grundsätzen der Demokratie beruhen: die Einigkeit des immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker, die Herrschaft des Rechts und die Freiheit der Person. Hierzu bedarf es jedoch eines gewissen Maßes an historischer und politischer sowie gegebenenfalls rechtsphilosophischer Bildung. Auf diese Dimension wies bewusst oder unbewusst der deutsche Traditionserlass von 1965 mit seinem Punkt 18 hin: "Geistige Bildung gehört zum besten Erbe europäischen Soldatentums. Sie befreit den Soldaten zu geistiger und politischer Mündigkeit und befähigt ihn, der vielschichtigen Wirklichkeit gerecht zu werden, in der er handeln muss. Ohne Bildung bleibt Tüchtigkeit blind." (FN39) Ein Konzept für eine mögliche europäische Traditionsbildung hat von einigen Voraussetzungen auszugehen, um einen Integrationsrahmen nicht nur für die EU-Staaten aufzuzeigen, sondern auch um seine Integrationswirkung hinsichtlich der anstehenden neuen Partner Mittel- und Osteuropas entfalten zu können. Es kann keineswegs darum gehen, nationale Traditionsmuster in ein Korsett der Zwangskollektivierung von Weltanschauungen und Wertgefügen zu pressen. Die nationalen Traditionen sollen - unter Beibehaltung der Möglichkeit zur Weiterentwicklung - nicht durch eine einheitliche europäische Tradition ersetzt, sondern in einer Gesamtschau überwölbt werden. Letztere muss darauf bedacht sein, die gemeinsamen Werte zu etablieren, ohne dabei - die Erziehung zur interkulturellen Kompetenz mahnt hierzu - nationale und historisch-kulturelle Eigenheiten zu desavouieren und einen grundsätzlichen Kanon vor eine Zerreißprobe zu stellen. Es kommt darauf an, die Unterschiedlichkeit nationaler Entwicklungsstränge als gleichwertig zu betrachten, solange sie sich an einem Normenkatalog der Grundrechte orientieren. Gleichzeitig muss ein Traditionskonzept auf Grund der vielseitig zu beleuchtenden Aspekte auf mehreren Säulen beruhen. Dies eröffnet für die Traditionsbildung neue Perspektiven. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten. Was Graf von Baudissin feststellte, darf sich für eine europäische Tradition nicht bewahrheiten: "Unter dem Banner der Tradition fliehen die einen vor den Pflichten der Gegenwart in die Vergangenheit; die anderen entweichen den Forderungen der Überlieferung durch die Flucht in das Aktuelle, in das Heute - wenn nicht gar in das unverbindliche Morgen." (FN40) Die Reise darf nicht in das "unverbindliche Morgen" gehen.

Vielmehr sollen neue, europäische Perspektiven die nationalen Betrachtungsweisen von Tradition erweitern, um in europäischem Rahmen das alte, allen Gemeinsame erneuernd zu bewahren.

Die tief reichenden Wurzeln Europas sind hinreichend bekannt: Die drei Hügel Europas heißen Akropolis (Demokratie), Golgatha (Christentum) und Kapitol (Herrschaft des Römischen Rechts). Deren Grundlegungen werden ergänzt und transformiert durch die neuzeitlichen Entwicklungen Humanismus und Aufklärung, wissenschaftlich-technischer Fortschritt und wirtschaftliche Prosperität. Sie bedürfen - neben der Weiterentwicklung der Philosophie, des technischen Rationalismus sowie der Natur- und Geisteswissenschaften vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes der Wechselwirkungen von Natur und Geist - jedoch der Anerkennung des inneren Kerns: der unverwechselbaren Einzigartigkeit des menschlichen Individuums und seiner Fähigkeit, sein eigenes Leben und - als zoon politikon - jenes seiner Gemeinschaft(en) auf der Grundlage dieser Erkenntnis zu ordnen. Es geht um die historische Tiefendimension unserer europäischen Werteordnung. Diese Grundeinsichten bedürfen jedoch eines konkretisierten Entwurfes eines an historischen Ereignissen oder Prozessen orientierten Geschichtsbildes, das sich mit dem Selbstverständnis der Staaten der Gegenwart verbinden lässt. In einem europäischen Traditionskonzept müssen sich die unverzichtbaren Elemente wiederfinden.

Gleichsam folgerichtig finden sich diese Basiselemente im Erfahrungshorizont der gesamteuropäischen Erhebung von 1848/49, dem Widerstand gegen den Totalitarismus und der Geschichte des europäischen Integrationsprozesses.

Alle drei hiermit vorgeschlagenen "europäischen Traditionssäulen" wären - verstanden als aktuelle, gleichwohl in Zukunft veränderbare Bestandsaufnahme - geeignet, neben dem westeuropäischen auch den mittel- und osteuropäischen historischen Erfahrungsschatz zu integrieren. Zur Begründung der zur Diskussion gestellten Säulen sei angemerkt: Die politische und soziale Erhebung, die in der Revolution von 1848/49 ihren Kulminationspunkt fand, war ein gesamteuropäischer Prozess.(FN41) Trotz des obrigkeitsstaatlichen Drucks, für den pars pro toto die Karlsbader Beschlüsse von 1819 stehen, blieben die Ideen von Nation, Liberalismus und Verfassungsstaat als politische Leitmotive des Vormärz, der Epoche vom Wiener Kongress bis zur Revolution 1848, virulent. Bis dahin bestimmten die monarchischen Prinzipien des "Systems Metternich" - Restauration, Legitimität und Solidarität - die innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen europäischer Politik. Nach dem Verlust der politischen Kontrolle der alten Mächte über die Geschehnisse, die Barrikadenkämpfe in Berlin, die Erhebungen in Frankreich, Österreich, Ungarn etc., sahen sich viele Kabinettsregierungen genötigt, Zugeständnisse - Verfassungen und Parlamente - zu geben. Die europäische Revolution war ein vielschichtiger Prozess mit vielfältig differenzierten Zielen unterschiedlichster Gruppierungen: bäuerliche Protestbewegungen, bürgerliche Verfassungsbewegung, Protestaktionen von Teilen der Unterschichten gegen die bestehende Sozialordnung und die nationalrevolutionären Bewegungen.(FN42) In der konkreten historischen Situation scheiterte diese Erhebung, "aber nicht umsonst war die Revolution, wenn wir an die Fernwirkungen denken (...) im Verfassungsdenken, in der Loyalität zur Republik, in der wir leben (...) Die Forderungen, das Volk zu bewaffnen, gaben der bewaffneten Gewalt eine neue, demokratische Legitimation." (FN43) Unter dieser Perspektive betrachtet wäre der dem Wehrdienst unterliegende Soldat zum Schutz des freien und sozialen Rechtsstaates verpflichtet. Die von den Revolutionären geteilte politische Grundüberzeugung war die Verwirklichung der nach dem Wiener Kongress von retardierenden Kräften verweigerten Partizipationsrechte am weiterhin im moderneren Gewande erscheinenden, im Wesenskern jedoch absolutistischen Staat.

Dass politische Partizipationsrechte im totalitären Staat kein konstitutives Merkmal darstellen, ist evident. Die gesamteuropäische Erfahrung mit den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts war das stille Erdulden, der aktive Widerstand gegen denselben, sei es, um von außen die Befreiung zu erwirken, oder von innen - friedlich oder gewaltsam - die Überwindung des Totalitarismus zu erreichen. Im Kampf gegen den die Freiheits- und Bürgerrechte negierenden modernen totalen Moloch Staat, den "Leviathan" in seinen vielfältigen Erscheinungsformen - Sozialismus und Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus -, standen die Europäer das gesamte 20. Jahrhundert. Dabei nimmt ohne Zweifel der Kampf gegen das nationalsozialistische Dritte Reich einen prominenten Platz ein, aber auch die Erhebungen im kommunistischen Ostblock, wie zum Beispiel in der DDR 1953(FN44) oder in Ungarn 1956, wo dann im Sommer 1989 die trennende Systemgrenze im Herzen Europas geöffnet wurde. Dies alles setzte den fundamentalen Wandel der sicherheits- und gesellschaftspolitischen Strukturen von 1989/91 voraus. Er erfolgte in Mittel- und Osteuropa spontan, ungeordnet und von unerhörter Dramatik, weg von einer als trist empfundenen Vergangenheit und Resignation angesichts einer aussichtslosen Zukunft, hin zu dem, was sich der größte Teil der Bevölkerung erhoffte: Der Drang zur Selbstbestimmung der Nation, mehr Freiheit, mehr Demokratie und auch mehr Wohlstand - das waren die Forderungen, die sich in allen Manifesten und auf allen Bannern fanden, gleichviel, ob sie durch die Straßen Warschaus oder Prags, Leipzigs oder Budapests getragen wurden. Zum doppelten Dammbruch kam es, als der ungarische Außenminister Gyula Horn mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock am 27. Juni 1989 vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Loch in den "Eisernen Vorhang" schnitt, der Europa über Jahrzehnte getrennt hatte, bevor dann symbolisch und de facto am 9. November - natürlich noch spektakulärer - sich die Mauer in Berlin öffnete. Der frühere deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte einst: "Solange das Brandenburger Tor geschlossen ist, bleibt die deutsche Frage offen." Er hätte aber auch sagen können: "... bleibt die europäische Frage offen". Nun ist das Brandenburger Tor geöffnet, die deutsche Frage durch den 2+4-Vertrag gelöst und Mittel- und Osteuropa auf dem Weg nach Europa, zu dem es kulturell seit einem Jahrtausend gehört.

Mit der mittel- und osteuropäischen Erhebung in den Jahren 1989/1991 bot sich die Möglichkeit der Umsetzung der Vision eines "Europe whole and free" auch für den anderen Teil Europas. Dies war bekanntlich auch der Ansatz der europäischen Einigungsbewegung, die bereits im Zweiten Weltkrieg und danach im Schatten des Kalten Krieges herangewachsen war. Sie setzte sich eine gemeinsame europäische Regierung zum Ziel, die auch für eine gemeinsame Verteidigung zuständig sein sollte.(FN45) Hierin spiegelte sich nicht nur eine konzeptionelle Antwort auf die bellizistische Vergangenheit des Kontinents wider. Die europäische Einigungsbestrebung wurde vielmehr gleichzeitig "für die Dauer des Ost-West-Konfliktes notgedrungen zu einem funktionalen Bestandteil der westlichen Selbstbehauptung in diesem Konflikt". (FN46) Ihre zentrale geschichtsmächtige Organisationseinheit bildete die mit den - nomen est omen - Römischen Verträgen vom 25. März 1957 konstituierte EWG, die den größten politischen und wirtschaftlichen Schritt auf dem Weg zu einem "immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker" bildete und damit symbolisch die historische Tiefe und geografische Weite für ein unvergleichbares, gesamteuropäisches historisch-politisches Projekt aufzeigte. Damit bot dieser Zusammenschluss grundsätzlich die Möglichkeit eines Beitritts osteuropäischer Völker, denen damals die Teilnahme versagt blieb. Deren Aufnahme erst macht die EU zu einer "Union der europäischen Völker". Und bringen nicht gerade diese Staaten mit ihren gewaltlosen Freiheitsrevolutionen einen Traditionsbestand mit, der die beiden zuerst genannten Säulen - die gesamteuropäische Erhebung von 1848/49 und den Widerstand gegen den Totalitarismus - mit der dritten, dem Erfolg der europäischen Integration, verbindet?

Den alten und neuen europäischen Partnern bietet dieser Vorschlag eine Plattform der Integration. Das Streben nach Freiheit und Demokratie, nach Selbstbestimmung auf der Basis der Majestät des Rechts, die Auflehnung gegen Absolutismus, totalitäre Ideologien und Tyrannei bilden ein gesamteuropäisches Erbe, das von allen Europäern geteilt werden kann. Diese Werte und Normen spiegeln einen auf ganz Europa übertragbaren Ansatz wider, sind es doch auch die neuen Partner, die aus freien Stücken zu den Wertegemeinschaften EU und NATO gezogen werden. Dies bedeutet, dass die militärischen Traditionen auf der Grundlage eines freiheitlichen demokratischen Staats- und Gesellschaftsverständnisses entwickelt werden müssen. Ob sie sich dann an den an den Barrikadenkämpfen 1848 teilnehmenden Soldaten, preußischen Landwehroffizieren, militärischen Operationen des Zweiten Weltkrieges (z.B.: Invasion), dem militärischen Widerstand gegen das NS-Regime, den westeuropäischen Sicherheitsstrukturen resp. den Geschichten nationaler Armeen zu Zeiten des Kalten Krieges, dem Aufbau eigener militärischer europäischer Strukturen (z.B. Eurokorps u.a.) oder EU-Operationen der Zukunft orientieren, ist dabei zweitrangig. Klar ist jedoch: Europäische Streitkräfte müssen sich als ein Mittel für die Durchsetzung des Friedens in Freiheit als Grundvoraussetzung militärischen Dienens begreifen. Dieses in Vergangenheit und Gegenwart verwurzelte soldatische Ethos bietet Halt, Orientierung und Wertefestigkeit für die Aufgaben der Zukunft. Europäische Streitkräfte sind dazu da, diese erstrittenen Güter zu verteidigen und für ihren weiteren Bestand einzutreten, sind diese doch ihre Tradition.

ANMERKUNGEN:

(Fußnote 1/FN1) Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.

(FN2) Vgl. Birk, Eberhard: "Euro-Soldat" im Anmarsch? Pro-Position. In: Y. Magazin der Bundeswehr 8/2002, S.19.

(FN3) de Maizière, Ulrich: Die Bundeswehr - Neuschöpfung oder Fortsetzung früherer deutscher Armeen? In: Sicherung des Friedens. Überparteilicher Arbeitskreis von Christen zur Förderung von Frieden und Freiheit, April 1998, 18.Jg., Briefdienst II/98, S.1-8, hier S.8: "Es gibt keine Armee ohne Wurzeln. Aber die Wurzeln der Bundeswehr sind geprüft worden. Und nur diejenigen wurden genutzt und gehegt, die den Ansprüchen unserer demokratischen Wertordnung entsprechen und für die Erfüllung der heute zu lösenden Aufgaben hilfreich sind." (FN4) So der Untertitel von Abenheim, Donald: Bundeswehr und Tradition, München 1989.

(FN5) Der Verfasser hat eine erste Skizzierung vorgenommen, in der einige der hier weiter verfolgten Perspektiven umrissen wurden; vgl. Birk, Eberhard: Einigkeit und Recht und Freiheit. Gedanken und Vorüberlegungen für den Traditionsbegriff einer Bundeswehr mit europäischer Perspektive. In: Militärgeschichte 4/2001 (11. Jg.), S.64-72, und ders.: Neue Perspektiven. In: Y. Magazin der Bundeswehr 7/2002, S.70-71.

(FN6) Vgl. Assmann, Aleida: Zeit und Dauer. Kulturelle Strategien der Dauer (Beiträge zur Geschichtskultur Bd. 15), Köln-Weimar-Wien 1999, S.63.

(FN7) Ebenda, S.89.

(FN8) Alter, Robert: Scholem und die Moderne. In: Schäfer, Peter/Smith, Gary (Hg.): Gerhom Scholem. Zwischen den Disziplinen. Frankfurt 1995, S.167.

(FN9) So formulierte es der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wust, 1976 an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Die Rede ist abgedruckt in: Information für die Truppe, 11/1978, S.26-47, hier S.47.

(FN10) Vgl. Haase, Clemens-Peter/Vehviläinen, Olli (Hg.): Vom öffentlichen Umgang mit Geschichte. Tampere 1995; und für die aktuelle deutsche Diskussion Wolfrum, Edgar: "1968" in der gegenwärtigen deutschen Geschichtspolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B22-23/2001, S.28-36.

(FN11) Dass dieses "außen" gelegentlich etwas über das Ziel hinausschießt, muss im "herrschaftsfreien Diskurs" erlaubt sein; vgl. Giordano, Ralph: Die Traditionslüge. Vom Kriegerkult in der Bundeswehr. Köln 2000.

(FN12) Vorbemerkung. Das innere Gefüge. Die Denkschrift ist abgedruckt in: Militärgeschichtliche Mitteilungen (MGM) 21/1977.

(FN13) Es ist mittlerweile zu einem Gemeinplatz der Forschungsliteratur geworden, jede wahrgenommene Veränderung eines Umfeldes so zu bezeichnen. Tatsächlich aber ist der Begriff - versteht man ihn als analoge Übertragung von Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1967, mit generellen Aussagen über den Paradigmenwechsel - hier durchaus für den Bereich der Tradition anwendbar.

(FN14) Vgl. Kutz, Martin: Realitätsflucht und Aggression im deutschen Militär. Baden-Baden 1990, S.7-9.

(FN15) Präambel des Nordatlantikvertrages. Abgedruckt in: BGBl. 1955 II, S.289.

(FN16) Zur Problematik beider deutschen Armeen als eventuelles Traditionsreservoir für die Bundeswehr vgl. die Beiträge von Ernst Willi Hansen und Manfred Messerschmidt. In: Kodalle, Klaus-M. (Hg.): Tradition als Last. Köln 1981.

(FN17) Ritter, Gerhard: Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des Militarismus in Deutschland, 4 Bde., München 1954/1968.

(FN18) Der Traditionserlass vom 1. Juli 1965 ist abgedruckt in: Abenheim, a.a.O., S.225-229, hier Pkt.17.

(FN19) Der Traditionserlass vom 20. September 1982 ist abgedruckt bei ebenda, S.230-234. Die angeführten Zitate entstammen den Punkten 1 und 2.

(FN20) Vgl. Die Bundeswehr - sicher ins 21.Jahrhundert; Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf, Pkt.33. Dabei darf man sich aber nicht zu dem Trugschluss verleiten lassen, dass auch sozialistische und kommunistische Widerstandskämpfer für die Bundeswehr traditionsstiftend wären; ihre Werteüberzeugungen waren nicht jene, für die die Bundeswehr heute steht.

(FN21) So Gneisenau in einer Denkschrift an König Friedrich Wilhelm III. vom August 1808, abgedruckt in: Gneisenau (=Schriftenreihe Innere Führung, Beiheft 2/87 zur Information für die Truppe), hg. v. BMVg Fü S I 3, 1987, S.100.

(FN22) Bald, Detlef: Perspektiven der Militärgeschichte. Der Gegenwart Grundlagen geben (=SOWI-Arbeitspapier Nr.33), München 1990, S.8.

(FN23) Steinbach, Peter: Der 20. Juli 1944. In: Das Attentat in der Geschichte, hg. v. Alexander Demandt, Köln-Weimar-Wien 1996, S.361-391.

(FN24) So formulierte der Entwurf der vorgesehenen Regierungserklärung nach einem erfolgreichen Attentat und "Staatsstreich" einen wesentlichen Motivationsstrang des Widerstandes.

(FN25) Vgl. hierzu Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Stuttgart o.J., S.948f.

(FN26) Vgl. die Wiedergabe eines Gespräches in Gersdorff, Rudolf-Christoph Frhr. von: Soldat im Untergang. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1977, S.134ff.

(FN27) Zitat in Anlehnung an Prinz Friedrich Karl von Preußen in einem Essay über den Ehrbegriff des friderizianischen Offizierkorps vom 3. Januar 1860; abgedruckt in: Demeter, Karl: Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650-1945. Frankfurt/M. 1965, S.251-259, hier S.252.

(FN28) Schließlich war jedem höheren Offizier die Geschichte der Konvention von Tauroggen - einer Übereinkunft des preußischen Generals Yorck und des russischen Generals Diebitsch zur Neutralisierung eines preußischen Korps am 30. Dezember 1812 in der Poscheruner Mühle nahe Tauroggen - bekannt, die exemplarisch das Spannungsfeld von Gehorsam und Verantwortung aufzeigte. Vgl. den Beitrag des Autors: Die Konvention von Tauroggen am 30. Dezember 1812. In: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung 4/2003, S.14-17.

(FN29) Schlabrendorff, Fabian von: Offiziere gegen Hitler. Berlin 1984, S.109.

(FN30) Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945. Begleitband zur Wanderausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, hg. i. A. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) von Thomas Vogel, 5., völlig überarb. und erw. Aufl. Hamburg-Berlin-Bonn 2000.

(FN31) Das bedeutete nicht, dass dies von Anbeginn ohne Friktionen in der Bundeswehr generell bejaht wurde; vgl. Geilen, Stefan: Das Widerstandsbild in der Bundeswehr. In: Militärgeschichte, NF 6 (1996), S.63-71.

(FN32) Steinbach, Peter: Soldatischer Widerstand. Seine historische Bedeutung und heutige Bewertung. In: 50 Jahre Innere Führung. Von Himmerod (Eifel) nach Pristina (Kosovo). Geschichte, Probleme und Perspektiven einer Führungsphilosophie, hg. v. Eckart Opitz (=Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit e.V.), Band 17, Bremen 2001, S.43-49, hier S.44.

(FN33) Zudem dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht die weiteren Bausteine dieser Traditionssäule fehlen: Verteidigung im Bündnis, Bundeswehr als Parlamentsheer, Hilfestellung im Katastrophenfall und Armee der Einheit.

(FN34) Maizière, Ulrich de: Erziehung zum Staatsbürger in Uniform - eine Aufgabe der Bundeswehr, in: ders., Bekenntnis zum Soldaten. Militärische Führung in unserer Zeit, Hamburg 1971, S.57-75, hier: S.61.

(FN35) Zuletzt wurde von Vizeadmiral a. D. Frank, Hans: Rat und Hilfe in schwierigen Situationen. Welche Tradition hat und braucht die Bundeswehr? In: Truppenpraxis-Wehrausbildung 11/1999, S.746-750 eine summarische Bilanz dargelegt.

(FN36) So die Verpflichtung nach §7 des bundesdeutschen Soldatengesetzes.

(FN37) Vgl. Birk, Eberhard: Der Funktionswandel der Westeuropäischen Union (WEU) im europäischen Integrationsprozess (=Spektrum Politikwissenschaft Bd. 9), Würzburg 1999, S.155ff.

(FN38) http://european-convention.eu.int bzw. http://www.bundeskanzler.de/Europa vom 25.06.03.

(FN39) Vgl. Anmerkung 18, S.225-229.

(FN40) Baudissin, Wolf Graf von: Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine zeitgemäße Bundeswehr, hg. und eingeleitet von Peter v. Schubert, München 1969, S.79.

(FN41) Vgl. Botzenhart, Manfred: 1848/49: Europa im Umbruch. Paderborn-München-Wien-Zürich 1998.

(FN42) Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: 1848. Die ungewollte Revolution, Frankfurt/M. 2000, S.300.

(FN43) Hug, Wolfgang: Demokraten und Soldaten. Bewaffnete Gewalt in der Revolution von 1848/49 - aus südwestdeutscher Sicht. In: 1848. Epochenjahr für Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland, hg. v. Bernd Rill, München 1998, S.205-223, hier: S.222.

(FN44) Vgl. Diedrich, Torsten: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR, München 2003.

(FN45) Vgl. Lipgens, Walter: Die Bedeutung des EVG-Projekts für die europäische Einigungsbewegung. In: Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Stand und Probleme der Forschung, hg. v. MGFA, Boppard 1985, S.9-30, hier: S.9.

(FN46) Schwabe, Klaus: Der Stand der Bemühungen um Zusammenarbeit und Integration in Europa 1948-1950. In: Die westliche Sicherheitsgemeinschaft 1948-1950. Gemeinsame Probleme und gegensätzliche Nationalinteressen in der Gründungsphase der Nordatlantischen Allianz, i.A. des MGFA hg. v. Norbert Wiggershaus und Roland G. Foerster, Boppard 1988, S.25-36, hier: S.12.

Dr. Eberhard Birk

Geb. 1967; Major d.R der deutschen Bundeswehr, 1987-1993 Soldat auf Zeit, 1993-1997 Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Augsburg, Stipendiat der deutschen Studenten- und Graduiertenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 1999 Promotion zum Dr. phil., 1998-2000 Lehrbeauftragter an der Philosophischen Fakultät an der Universität Augsburg, seit 2000 Dozent für Militärgeschichte und Politische Bildung an der Offizierschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck.



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Das Traditionsverständnis der Bundeswehr.
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Die Werte Europas.
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Bausteine einer Traditionslinie für europäische Streitkräfte.
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