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Europäische Optionen der Intervention für internationale Sicherheit - die ESVP-Krisenreaktion vor der Bewährung

von Lothar Rühl

Kurzfassung

◄ Intervention zur Krisenbeherrschung und Konfliktbeendigung steht seit einem Jahrzehnt auf der Agenda der Weltpolitik; "Präemption" ist nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 als vorauseilende und vorgreifende Verhinderung überfallartiger Angriffe hinzugekommen. Spästestens seit 1993 sind die EU-Staaten mit dem Problem Intervention / Gegenproliferation konfrontiert; die drei Balkankriege seither haben Europa militärisch, aber auch politisch überfordert und bestätigt, dass ohne die USA Sicherheit selbst an den Grenzen der EU im Krisenfall nicht bewahrt oder wiederhergestellt werden kann. Das Europa der EU hat weder die strategische Reichweite noch die militärischen Interventionskräfte für einen über den Balkan hinaus ausgeweiteten Aktionsradius der Krisenbeherrschung und damit nicht die Mittel zur Deckung seiner politischen Ambitionen.

Drei Optionen bieten sich Europa unter diesen Voraussetzungen: 1. Es kann seine politischen Zielsetzungen auf Europa selbst mit der griechischen Ägäis und Zypern als militärischer Außengrenze der EU im östlichen Mittelmeer begrenzen.

2. Es kann eine Aufrüstung in der EU und NATO durch Optimierung der Rüstungsausgaben und militärischen Strukturen mit einer gemeinsamen Rüstungs- und Streitkräfteplanung im Rahmen der ESVP betreiben, was zwar planerisch durchaus realistisch wäre, aber fortgesetzter politischer und finanzieller Unterstützungbe bedürfte.

3. Es kann alle Anstrengungen und Kräfte auf ein möglichst enges Zusammenwirken NATO-EU mit einem Vorrang für NATO-Einsätze und einem Schwerpunkt auf gemeinsame militärische Befehls- und Streitkräftestrukturen zu Lande, zur See und in der Luft mit starken US-Anteilen unter der politischen Autorität des Nordatlantikrates nach den Modellen unternehmen, was Kräfte und Mittel sparen, das Verhältnis EU zur NATO und den USA entlasten, die Beziehungen zur Türkei, zu Norwegen und außerhalb der Allianz auch zur Ukraine und zu Russland für deren Mitwirkung vereinfachen würde.

Das Grundgesetz der Intervention ist die Eskalation. Im Falle des Konfliktes in Bosnien stellte sich für Europa das Thema Intervention nicht, schon weil es an einer europäischen Eskalationsfähigkeit fehlte. Das vom Ost-West-Konflikt mit der nuklearen Großmacht Sowjetunion geprägte Ultima Ratio-Denken in Europa war von der Strategie der nuklearen Abschreckung bestimmt und insofern richtig, allerdings nicht auf Konflikte wie die im zerfallenden Jugoslawien übertragbar und damit ein Denkfehler, der aus Konfliktscheu begangen wurde. Die europäische Politik trug damit erheblich zu diesem Krieg, den in ihm begangenen Massenmorden und den Vertreibungen bei.

Externe Eskalation als Interventionsmethode bedarf des schnellen und nachhaltigen Eingreifens. Nur so kann die Intervention auf wesentliche und erreichbare strategische Ziele konzentriert, zugleich territorial und auf ein annehmbares Niveau des militärischen Engagements in Umfang und Intensität begrenzt werden Voraussetzung sind klare politische Zielsetzungen, eindeutige militärische Aufträge mit erreichbaren operativen Zielen, Einheit von Auftrag, militärischer Verantwortung und Befehlsgewalt, schließlich keine weiteren politischen Eingriffe in das militärische Geschehen, gilt zeitlos und überall für den Einsatz von Streitkräften, gleich für welchen politischen Zweck. Diese vier Prinzipien sind deshalb auch von der EU bei der Umsetzung der ESVP in militärisches Krisenhandeln unbedingt zu beachten.

Für EU-Operationen ist auf absehbare Zukunft Eskalationsdominanz nur mit Hilfe der NATO erreichbar, wenn es sich um Konflikte mit dem Einsatz von größeren Eingreifverbänden, etwa mehreren brigadestarken Kampfgruppen ("Battle Groups"), insbesondere in größerer Entfernung von Europa oder auch in Europa, vor allem im Falle einer Beteiligung der Türkei, handelt; bei Operationen zur See und bei Luftlande- und Luftangriffs-Operationen in größerem Maßstab ohnehin. Aber die EU braucht auf längere Sicht eine relativ autonome Interventionsfähigkeit zumindest zur Peripheriekontrolle im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. ►


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Europäische Optionen der Intervention für internationale Sicherheit - die ESVP-Krisenreaktion vor der Bewährung

Intervention zur Krisenbeherrschung und Konfliktbeendigung, als "Gegenproliferation" (counter-proliferation) zur Unterdrückung der Weiterverbreitung nuklearer Rüstungsmittel oder anderer Massenvernichtungswaffen und als Prävention von Aggression, steht seit einem Jahrzehnt auf der Agenda der Weltpolitik. "Präemption" ist nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 als vorauseilende und vorgreifende Verhinderung überfallartiger Angriffe hinzugekommen.

Die neue amerikanische "Strategie der Nationalen Sicherheit der USA" (National Security Strategy) vom September 2002 sieht "präemptive" neben "präventiven" militärischen Aktionen zur über die Ozeane auf fremde Kontinente ausgreifenden vorauseilenden Vorwärtsverteidigung Amerikas und von dessen Überseepositionen, Verbündeten und Schutzklienten oder anderer vitaler Sicherheitsinteressen vor. Solche bewaffneten oder technischen Interventionen sollen sowohl der Beseitigung von Aggressionsgefahren mit "Massenvernichtungsmitteln" (ABC-Waffen) dienen als auch allgemein der "pro-aktiven" Terrorbekämpfung im Unterschied zur früheren "reaktiven" und zur Abschreckung durch Drohung mit Gewalt. Obwohl nach dieser Doktrin nicht in jedem Fall "präemptiv" gehandelt oder überhaupt bewaffnete Gewalt angewendet werden soll, bedeutet sie doch eine Stärkung der militärischen Intervention (zu der auch die technische zur Lähmung der Fernmeldeverbindungen, elektronischen Steuerung und Informationsverbreitung, z.B. durch elektromagnetische Effekte, treten kann) als Mittel der Strategie und der internationalen Politik einer Großmacht.

Erstmals hatte 1984 der damalige amerikanische Außenminister George Shultz nach dem Terrorangriff auf die US-Botschaft in Beirut und das Feldlager der U.S. Marines in der Nähe der Stadt von der Notwendigkeit einer neuen Kombination von "Präemption, proaktiver Aktion und Prävention" gesprochen, also von einer ausgreifenden Vorwärtsverteidigung in Übersee mit den verschiedenen Mitteln der militärischen und technischen Intervention als Ergänzung der Abschreckungsstrategie.

Nach seiner Wahl zum Präsidenten nahm Bill Clinton das Thema wieder auf und praktizierte 1993-2000 eine punktuelle Interventionspolitik der militärischen Prävention gegen die Terror-Infrastruktur in Afghanistan, im Sudan und in Somalia, gegen die Flugabwehr im Irak zur Verhinderung von Beschuss der anglo-amerikanischen Luftraumkontrolle im Auftrag der UNO zur Durchsetzung der Waffenstillstandsbedingungen von 1991 und zum Schutze von Kurden und Schiiten des Irak. Hinzu kamen 1995 die Luftangriffe gegen die serbischen Truppen in Bosnien und 1999 der Interventionskrieg mit Luftangriffen gegen Serbien-Montenegro und auf das Kosovo zur Beendigung der serbischen Repression der albanischen Bevölkerung.

Mit den beiden Interventionskriegen in Afghanistan und im Irak 2001 und 2003 sowie in der zur See und im Luftraum agierenden "pro-aktiven" Strategie zur Bekämpfung von Terroristen zwischen Pakistan und Ostafrika kulminierte die neue Interventionspolitik. Die Fortsetzung der bewaffneten Gewalttätigkeiten in beiden Ländern nach den erfolgreich verlaufenen Feldzügen in einem faktischen Kriegszustand weist auf die tatsächlichen Dimensionen, Risiken und Folgen der militärischen Intervention als Mittel der Politik. Dies gilt in anderer Weise und mit überwiegend positiven Resultaten auch für die militärisch bei geringen Verlusten für die Bevölkerung und ohne landesweite Zerstörungen gelungenen Interventionen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo zwischen 1995 und 1999.

Militärische Intervention - ob reaktiv, präventiv oder präemptiv- kann die Situation grundlegend verändern und so die ersten Voraussetzungen für eine Konfliktbeendigung, sogar für eine politische Lösung der gestellten Probleme schaffen, wie dies bei aller Unvollkommenheit in Bosnien der Fall ist. Als präemptive Gegenproliferation zur Beseitigung einer drohenden Gefahr von Überfällen mit Massenvernichtungsmitteln oder zur pro-aktiven Terrorabwehr kann sie momentan und punktuell, im besten Fall sogar definitiv und umfassend, wirken. Der Beweis für solchen nachhaltigen Erfolg steht in den beiden Fällen Afghanistan und Irak allerdings noch aus.

Die Defizite der EU für die militärische Krisenreaktion

Seit der Clinton-Präsidentschaft und deren Initiativen ab 1993, zehn Jahre vor Präsident George W. Bushs Golfkrieg gegen den Irak, ist Europa also von Washington gewarnt gewesen. Seither sind die europäischen Verbündeten der USA und die im selben Jahr 1993, in dem der Maastrichter Vertrag von 1991 in Kraft trat, auch die von diesem begründete EU mit dem Problem Intervention/Gegenproliferation konfrontiert: Zwar ist Nordkorea, das im selben Jahr 1993 mit der Umgehung des internationalen Kernwaffensperrvertrags NPT für eine verdeckte Atomrüstung begann, fern von Europa. Doch der Irak, wo Saddam Hussein bis zum Golfkrieg von 1990/91 ein schon fortgeschrittenes Kernwaffenprogramm samt der Herstellung chemischer Kampfstoffe und geheime Experimente mit biologischen Waffen betrieb, und der Iran, der seit Mitte der 1990er-Jahre die Option auf Atomrüstung mit seinem Kernkraftprogramm vorbereitet hat, sind Europa nahe. Beide besitzen große Teile der Golfölquellen und damit die wirtschaftliche Grundlage für ein industrielles Rüstungspotenzial und die Ressourcen für ein großes Finanzvolumen zum Kauf von Technologie und Waffen. Das Problem ist für Europa also nicht abstrakt oder hypothetisch gestellt, sondern konkret.

Die nach der Konsolidierung des Nachkriegszustands in Bosnien von der EU übernommene Verantwortung für die Sicherheit und Befriedung des zwischen Volksgruppen zerrissenen Landes und die vorbeugende Truppenstationierung in Mazedonien zur Verhütung eines zeitweilig drohenden Bürgerkrieges markieren den Übergang der EU-Sicherheitspolitik auf das weite und ungeordnete Feld der "kollektiven Sicherheit". Doch beide militärischen Unternehmungen zur "Friedensunterstützung" finden in Europa statt. Für das Kosovo wird eine EU-Friedenstruppe noch nicht in Aussicht genommen. Die Kräfte für eine Ablösung der NATO stehen noch nicht bereit, und Europa kann amerikanische Truppen selbst auf dem Balkan erst dann ersetzen, wenn keine Eskalationsgefahr in Krieg oder Bürgerkrieg mehr besteht.

"Die Stunde Europas", von der 1991 bei Beginn des jugoslawischen Zerfallskonflikts der damalige luxemburgische Außenminister Poos als Inhaber der EG-Präsidentschaft sprach, um europäische Alleinverantwortung für die notwendige Krisenbeherrschung zu fordern, hat auch heute - anderthalb Jahrzehnte später - noch immer nicht geschlagen. Die drei Balkankriege seither haben das Europa der EG/EU militärisch, aber auch politisch überfordert und bestätigt, dass ohne die USA Sicherheit selbst an den Grenzen der EU im Krisenfall nicht bewahrt oder wiederhergestellt werden kann. Die Lektion der noch immer andauernden Balkankrise ist für Europa bitter, vor allem aber herb für die EU und deren ESVP: Wenn es ernst wird, werden die USA mit der NATO gebraucht wie 1993 zur Luftunterstützung der am Boden allein hilflosen UNO-Schutztruppe in Bosnien, 1995 zur Erzwingung eines allgemeinen Waffenstillstands durch ein Eingreifen mit Kampfflugzeugen gegen serbische Stellungen und ab 1996 für eine militärische Besetzung Bosnien-Herzegowinas bis 2003, schließlich 1999 zum Krieg gegen Serbien-Montenegro um das Kosovo, seither mit einer salvatorischen Besetzung dieses Gebietes, um sowohl dessen im Innern gefährdete Autonomie als auch das zerschlissene, von offener Abspaltung bedrohte Band zu Belgrad notdürftig zu erhalten.

Die begrenzte, bisher nur unter günstigen Umständen erwiesene Fähigkeit der EU zu selbstständigem Krisenhandeln würde sofort als impotent bloßgestellt, wenn der Ernstfall nicht in Europa selbst, sondern etwa in Nordafrika oder im Mittleren Osten einträte und den Einsatz militärischer Mittel erforderte. Dies ist eines der Hauptmerkmale des türkischen Beitrittsproblems für Europa wie der Probleme der EU-Sicherheitspolitik im Nahen Osten zwischen Israel und den arabischen Staaten, insbesondere Syrien oder für eine Absicherung demokratischer Reformen im Libanon, wiederum im Verhältnis zu Syrien, aber auch zu den militanten islamischen Kräften. Mit einer Aufnahme der Türkei in die EU würde die Krisenhandlungsfähigkeit, so wie sie heute und nach der militärischen Kräfteplanung bis wenigstens 2010 noch begrenzt ist, nicht ausreichen, den erweiterten Verantwortungsbereich für die Sicherheit Europas vom Kaukasus über die Grenze zu Iran, Irak und Syrien bis zum Nahen Osten mit Israel, Palästina und Ägypten auch mit militärischen Einsatzmitteln auszufüllen. Das Europa der EU hat weder die strategische Reichweite noch die militärischen Interventionskräfte für einen über den Balkan hinaus ausgeweiteten Aktionsradius der Krisenbeherrschung und damit nicht die Mittel zur Deckung seiner politischen Ambitionen, geschweige denn für die deklarierten "strategischen Partnerschaften" der EU mit fernen Ländern wie Japan, Indien oder Brasilien, von Mächten wie Russland und China im globalstrategischen Rahmen ganz abgesehen. Dies gilt außerhalb der NATO natürlich auch für das Verhältnis zu den USA und zu Kanada.

Die militärischen Fähigkeiten zu erfolgreichem Krisenhandeln auch am "oberen Ende" der 1992 in den Amsterdamer Unionsvertrag der EU eingeschriebenen "Petersberg-Aufgaben" (damals für die in die EU integrierte, aber dort als Unterorganisation fortbestehende WEU beschlossen im Sinne der UNO-"Agenda für den Frieden" desselben Jahres) im Bereich der Truppen sollen bis Ende 2010 hergestellt sein. Sie sind vom Helsinki Headline Goal umschrieben und in einigen Details auch ausbuchstabiert. Doch darüber hinaus bestehen Defizite im strategischen Potenzial, vor allem für Einsätze über große Entfernungen mit größeren Eingreifverbänden: strategische Aufklärung und Raumkontrolle, insbesondere satellitengestützte Radarsysteme, strategischer (Langstrecken-) Lufttransport, luft-bewegliche Kampftruppen mit mittelschwerem luftverladbaren Gerät, luftbetankbare Einsatzflugzeuge mit Nachtkampffähigkeit, hochseegängige Landungsschiffe für amphibische Operationen; im taktischen Potenzial vor allem Mehrzweck-Kampfhelikopter und leicht gepanzerte Transporthubschrauber für den Gefechtsfeldeinsatz; zur Führung und Unterstützung mobile Befehls- und Fernmeldesysteme, die für alle beteiligten Kontingente einer europäischen Krisenreaktion interoperabel nach einheitlichen technisch-operationellen Standards sein müssen. Das Ganze bedeutet eine Umschichtung der Rüstungsprioritäten und der Budgets, in jedem Fall große nationale, europäisch koordinierte Anstrengungen, deren Resultat aber auch Interoperabilität und damit militärische Koalitionsfähigkeit mit amerikanischen Streitkräftekomponenten sein sollte. Dies ist eine der Grundvoraussetzungen für europäische Interventionsfähigkeit. Für Stabilisierungsaufgaben sind die bestehenden europäischen Armeen dagegen besser geeignet.

Die politischen Optionen der EU für militärische Krisenreaktionsfähigkeit

Es gibt drei mögliche, in sich schlüssige Antworten auf die Frage, was für Europa unter diesen Voraussetzungen zu tun sei: 1. Begrenzung der politischen Zielsetzungen auf Europa selbst mit der griechischen Ägäis und Zypern als der auch militärischen Außengrenze der EU im östlichen Mittelmeer ohne Mitgliedschaft der Türkei, bei möglicher Beteiligung des türkischen NATO-Verbündeten als eines "strategischen" oder "privilegierten Partners" der EU. Das Letztere würde eine hochgradige Autonomie Ankaras von Brüssel in allen Angelegenheiten der Nahostpolitik und auch der Schwarzmeer- und Kaukasuspolitik nötig machen, um die besonderen Interessen der Türkei als Regionalmacht in ihrer orientalischen Nachbarschaft zu berücksichtigen und europäisches Engagement außerhalb der NATO, also ohne Amerika, nicht zu überdehnen.

Iran, Irak und Syrien bezeichnen diese besondere türkische Interessenlage mit dem im Kern noch immer unbewältigten Kurdenproblem wie auch iranische Optionen auf Nuklearwaffenrüstung und - positiv - die Erdölleitung zwischen dem Kaspischen Becken und dem Mittelmeer über den türkischen Hafen Ceyhan an der Levante, in den auch eine irakische Ölleitung mündet. Die irakischen Komplikationen der Beziehungen Washington-Ankara 2002/2003 vor dem dritten Golfkrieg und seither um eine Art türkischer Protektion der turkmenischen Minderheit im Nordirak und über kurdische Autonomie im Irak, aber auch wegen des amerikanisch-britischen Interventionskrieges gegen den Irak als ein muslimisches Land weisen auf die Tiefe und Weite der regionalen Problematik auch für das Verhältnis der Türkei zu Europa hin. Diese wird von der beiderseitigen Abhängigkeit vom mittelöstlichen Erdöl und von der internationalen Rohölpreissteigerung (jedenfalls konsolidiert mittel- bis langfristig auf 40 bis 50 USD pro Fass) noch kompliziert.

Gemeinsame Interessen zu bestimmen wird in jedem Fall äußerst schwierig werden, gleichgültig, ob die Türkei EU-Mitglied oder nur "privilegierter Partner" wird. Davon aber wird abhängen, ob das Europa der EU in der Türkei und über die Türkei im engeren oder im weiteren Mittleren Osten eine geostrategische Sicherheitsmarge erlangen und seine südöstliche Peripherie kontrollieren kann. Der anhaltende Konflikt über Zypern mit der EU weist auf den harten Kern türkischer Interessenwahrung. Die ESVP der EU ist deshalb hohen Risiken in der Türkei und mit der Türkei in deren Umgebung ausgesetzt.

2. Eine europäische Aufrüstung in der EU und NATO durch Optimierung der Rüstungsausgaben und militärischen Strukturen mit einer gemeinsamen Rüstungs- und Streitkräfteplanung im Rahmen der ESVP, um die ausgegebenen Finanzmittel und die Nutzung des vorhandenen oder zu beschaffenden Materials wie die der knappen Ressourcen und Mannschaftsbestände für eine Steigerung der militärischen Fähigkeiten.

Könnte wirklich ein Reservoir von 100.000 einsatzfähigen Soldaten der Landstreitkräfte mit einer Verfügungsmasse von 60.000 für etwa zwanzig "Kampfgruppen" in Brigadestärke geschaffen werden, dazu eine dauernde einsatzfähige Bereitstellung von bis zu 300 Kampfflugzeugen mit Luftbetankungs- und Nachtkampffähigkeit für Angriffe auf verteidigte Bodenziele, dazu Langstrecken-Luftaufklärung und -Lufttransport und etwa 200 Kriegsschiffe für Seeraumkontrolle und Seelandefähigkeit mit einem Aktionsradius von wenigstens 3.000 km von Nordwesteuropa aus, wie es im Sinne des "Helsinki-Streitkräfte-Ziels" ist, das im Prinzip im Jahre 2010 nach ungefähr zehnjähriger Aufbauzeit erreicht werden soll, dann könnte eine militärische Kriseninterventionsfähigkeit entstehen und die ESVP im Ernstfall wirksam werden. Ob dies wirklich so kommen wird, steht dahin.

Die zweite Option ist zwar planerisch durchaus realistisch, bedarf aber fortgesetzter politischer und finanzieller Unterstützung. Man darf annehmen, dass jedenfalls Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Schweden ihre gesetzten Planziele im Rahmen der EU um 2010 erreicht haben werden. Dasselbe gilt für ihre Beiträge zur NATO Response Force NRF für alliierte Kriseneinsätze als Speerspitze einer konzertierten Intervention mit schnellen Eingreifkräften, die nach kurzer Zeit von so genannten Konsolidierungskräften abgelöst würden.

3. Die Konzentration aller europäischen Anstrengungen und Kräfte auf ein möglichst enges Zusammenwirken NATO-EU mit einem Vorrang für NATO-Einsätze und einem Schwerpunkt auf gemeinsame militärische Befehls- und Streitkräftestrukturen zu Lande, zur See und in der Luft mit starken US-Anteilen unter der politischen Autorität des Nordatlantikrates nach den Modellen IFOR/SFOR in Bosnien, KFOR im Kosovo und ISAF in Afghanistan in NATO-Regie. Eine spätere Ablösung der NATO durch die EU wie in Bosnien bliebe dann die Option, sobald die Lage im Einsatzgebiet fest unter Kontrolle und die EU-Kräfte dafür ausreichend und nachhaltig aus dem europäischen Kräftereservoir unterstützt wären.

Die Grenzen "sanfter Macht" und der kontraproduktive Effekt von Sanktionen

Diese dritte Option würde Kräfte und Mittel sparen, das Verhältnis EU zur NATO und den USA entlasten, die Beziehungen zur Türkei, zu Norwegen und außerhalb der Allianz auch zur Ukraine und zu Russland für deren Mitwirkung vereinfachen. Für beide externen Partner sind die 1997 vereinbarten besonderen Beziehungen zu den USA und die Partnerschaft mit der NATO vor allem von einem politischen Prestigewert. Es liegt im Interesse der EU, diesen zu honorieren und aktiv zu nutzen.

Unabhängig davon, welche dieser drei Optionen die EU nutzt und welche politischen Prioritäten sie für ihre Aktionen setzt, muss sie sich den Aktionsbedingungen der Intervention beugen, weil sie weder deren Voraussetzungen noch deren Folgen ausweichen kann. Einfach gesagt heißt eingreifen stets durchgreifen, wenn der Eingriff Erfolg haben, der Erfolg gefestigt und genutzt werden soll. Dies ist in der Strategie, in der militärischen Aktion und in der Politik nicht anders als in der Medizin. Wer nicht durchgreifen kann oder will, sollte sich der Intervention enthalten und andere Mittel der Politik, etwa der "soft power" oder "sanften Macht" anwenden, falls und soweit diese Erfolg versprechen.

Allerdings können auch wirtschaftliche Sanktionen und politische Pressionen, wie im Falle des "containment" oder der "Eindämmung" des Irak zwischen 1991 nach dem zweiten Golfkrieg und 2002/2003, zu einer Eskalation des Konflikts bis in Krieg oder zu einer militärischen Konfrontation mit wiederholter Gewaltanwendung führen, wie das Beispiel der anglo-amerikanischen Luftangriffe auf militärische Ziele im Irak zwischen den beiden Kriegen zeigt.

Die Wahl solcher Sanktionen oder Pressionen wie auch der diplomatischen Isolierung eines Landes, etwa des Iran oder Nordkoreas wegen ihrer Nuklearprogramme und allgemeinen Politik oder wegen ihres Regimes, erspart nicht unbedingt per se den Rückgriff auf bewaffnete Gewalt oder schützt vor Aggression, wenn der so behandelte Staat sich dadurch diskriminiert und provoziert ansieht. Das klassische Beispiel in der Moderne bietet Japan 1941 mit der Kriegserwiderung auf das amerikanisch-britische Erdöl- und Stahl-Embargo gegen Japan wegen des japanischen Angriffskrieges in China und der Proklamation einer asiatischen Interessensphäre durch Tokio: Bedrohliche Situationen können durch Sanktionen noch bedrohlicher werden, ohne dass der Konflikt ohne militärische Gewalt beseitigt oder entschieden werden kann. Dies gilt für die Sanktionspolitik der UNO gegen Jugoslawien nach Beginn der Sezessionskriege ab 1991 ohne militärische Intervention, insbesondere in Bosnien und 1998/1999 im Kosovo, wie für die Sanktionen gegen den Irak seit 1990/1991 bis zum Krieg von 2003.

Eskalation als Grundgesetz der Intervention

Diese und andere Beispiele lehren auch, dass das Grundgesetz der Intervention die Eskalation ist. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht: erstens für die durch einen Eingriff von außen in einen Konflikt oder in eine Krise angestrebte Lageveränderung, zweitens für die Wirkung auf die örtlichen oder regionalen Konfliktparteien und deren Einstellung zur internationalen (oder europäischen) Politik - sei es eine Konfliktregelung, sei es nur eine Krisenbeherrschung oder eine "Stabilisierung" der politischen Verhältnisse -, drittens für die Politik der eingreifenden Staaten, Bündnisse oder internationalen Organisationen wie UNO, EU, NATO oder OSZE, viertens für die Unterstützung solcher Interventionspolitik durch die öffentliche Meinung, die Parlamente und Parteien in den an dem Eingriff beteiligten Ländern und fünftens für die Reaktionen anderer Länder, insbesondere von der Eskalation betroffener Nachbarn.

Alle diese Aspekte der Eskalation sind in den Krisengebieten und an den Interventionsfällen der vergangenen 15 Jahre seit dem Ende des Ost-West-Konflikts in Europa und der globalstrategischen Bipolarität wie an den gegenwärtigen Situationen zu beobachten.

In den meisten Konflikten seit 1991 war die allgemeine europäische Meinung, dass jede Eskalation vermieden und der jeweilige Krisenzustand "stabilisiert" werden müsse, um eine Ausbreitung und besonders das Überschlagen der Krise auf andere Länder zu verhüten. Die Steigerung der Gewalttätigkeiten im Krisengebiet wurde dabei in Kauf genommen wie 1991-1995 in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina und danach im Kosovo. Ein Beispiel dafür bot der damalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe im Sommer 1995, als die Kämpfe in der dalmatinischen Krajina und in Bosnien nach serbischen Offensiven eskalierten und die bosnischen Serben rund 70% Bosniens kontrollierten. Rühe erklärte, "das Wichtigste" sei es, "eine Eskalation zu vermeiden". Rühe sprach dabei eine externe Eskalation durch Intervention an, die er befürchtete. Die schon rapide in Gang gekommene innere Eskalation mit der vor der Vollendung stehenden Eroberung und der serbischen Einschließung der Stadt Bihac an der Grenze zu Kroatien, einer Schlüsselposition, meinte der deutsche Minister nicht. Die Regierungen der EU-Länder nahmen auch kein militärisches Eingreifen zur Konfliktbeendigung in Aussicht, und die EU selber war nahezu handlungsunfähig.

Also stellte sich für Europa das Thema Intervention nicht, schon weil es an einer europäischen Eskalationsfähigkeit gegenüber dem Krieg in Bosnien (und umso mehr im zerfallenden Jugoslawien) fehlte.

Der Krieg wurde im selben Jahr von der amerikanisch geführten NATO-Intervention beendet, die eine externe Eskalation des Konflikts darstellte und die militärische wie die politische Lage fundamental zum Vorteil der bosnischen Regierungsarmee und der Kroaten veränderte, damit den Konflikt entschied. Es folgte eine bewaffnete Vermittlung, die zunächst einen allgemeinen Waffenstillstand, danach in Dayton ein Friedensabkommen erwirkte, aus dem später in Paris ein völkerrechtlicher Friedensvertrag resultierte, an dem Jugoslawien beteiligt war. Die äußere Eskalation hatte die innere überwältigt und deren Resultate in einem Verhandlungskompromiss erheblich korrigiert, damit eine neue politische Basis für die Stabilisierung Bosniens als Staat und für einen Frieden zwischen Kroatien und dem serbisch-montenegrinischen Rumpf-Jugoslawien geschaffen: Die internationale Intervention mit Eskalation des Konflikts stabilisierte nicht die vorgefundene Situation und die serbischen Gewinne, sondern das von einer definitiven Niederlage bedrohte Bosnien, dessen Kontrolle durch die bis dahin von den Serben belagerte Regierung in Sarajevo und den Frieden auf dem Balkan. Mit einer gewichtigen Ausnahme: Kosovo.

Die nächste Intervention, 1999 im Kosovo, war wiederum eine notwendige und im Ansatz erfolgreiche äußere Eskalation eines Konflikts in den Grenzen Serbiens, der von einer rasanten inneren Eskalation schon mit einer massiven Flüchtlingsbewegung über die Grenzen getrieben wurde und den Charakter einer ethnischen Säuberung - wie zuvor in Bosnien - angenommen hatte. Wieder griff die externe Eskalation in die interne ein und überrollte diese mit dem angestrebten Erfolg der Verteidigung der albanisch-muslimischen Mehrheit für eine gesicherte Autonomie. Ohne die beiden auf äußerer Eskalation des Konflikts mit Steigerung der militärischen Gewaltanwendung beruhenden salvatorischen Interventionen hätte die neue - wenngleich auch nach Jahren noch unvollkommene und prekäre - Stabilität nicht hergestellt werden können.

In beiden Fällen konnte die innere Eskalationsdynamik des Konflikts, das Krisenmomentum, nur dank der Eskalation von außen mit der Folge der notwendigen Umkehr der Kräfteverhältnisse gebrochen werden.

Die irreführende Doktrin von der Ultima Ratio

Diese Wirkung bestimmt auch die Geltung des Satzes von der Ultima Ratio des Rückgriffs auf bewaffnete Gewalt, in diesen Fällen auf militärische Intervention. Die Devise "ultima ratio regis" auf den Kanonen des Königs von Frankreich (vom Preußenkönig Friedrich II. später kopiert) bedeutete nicht etwa "letztes Mittel" nach Erschöpfung aller anderen und im äußersten Notstand der Monarchie, sondern im Gegenteil "des Königs letztes Wort" im Sinne der königlichen Entscheidungsgewalt, die jeweils zeitgerecht auszuüben war - und nicht etwa erst dann, wenn Frankreich oder der Thron schon fast verloren wären. Die europäischen Regierungen der 1980/1990er-Jahre interpretierten Ultima Ratio der Waffengewalt sinnwidrig in umgekehrter Lesart: Erst wenn keine anderen Mittel mehr taugten, dürfte Waffengewalt angewendet werden. Ihre erklärte und tatsächliche Eskalationsscheu in der Krise kostete allein Bosnien zwischen 1992 und 1995 wenigstens hunderttausend (wahrscheinlich eine noch größere Zahl) Todesopfer in der bosnischen Bevölkerung. Dasselbe gilt für die Interventionsscheu und Eskalationsunfähigkeit der UNO in Bosnien. Das Ultima-Ratio-Denken in Europa war vom Ost-West-Konflikt mit der nuklearen Großmacht Sowjetunion und von der Strategie der nuklearen Abschreckung bestimmt und insofern richtig.

Doch die Übertragung auf Konflikte wie die im zerfallenden Jugoslawien war ein Denkfehler, der aber vor allem aus Konfliktscheu begangen wurde. Es stand hinter dieser Politik der Passivität keine durchdachte, in sich schlüssige Strategie. Dies wird deutlich an der rhetorischen Intervention in die jugoslawischen Krisen seit dem Jahre 1992 durch die deklaratorische Politik und die diplomatischen Initiativen der EG-Staaten mit ihrer "Europäischen Politischen Zusammenarbeit" (EPZ), die für die Anerkennung neuer unabhängiger Staaten auf dem Gebiet Jugoslawiens bestimmte Bedingungen setzte und u.a. von Mehrheitsentscheidungen der Bevölkerungen abhängig machte. Die EU setzte ab 1993 diese rhetorische Interventionspolitik fort und trug so zur inneren Eskalation der Konflikte bei, ohne selber eine Eskalationsfähigkeit durch Interventionsmacht anwenden zu können oder auch nur zu wollen: Die Forderung der EPZ nach einem Referendum in Bosnien-Herzegowina rief die Weigerung der bosnischen Serben, sich von der bosniakisch-kroatischen Mehrheit überstimmen zu lassen, und nach der Verweigerung eines Anschlusses des serbischen Siedlungsgebietes an Serbien den Bürgerkrieg hervor, der zwischen den drei Bevölkerungsgruppen um die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas oder dessen Aufteilung zwischen Serbien und Kroatien über knapp vier Jahre mit "ethnischen Säuberungen" (amtlicher serbischer Begriff) ausgekämpft wurde, bis die NATO ihn 1995 beendete.

Kontrollierte Eskalation und das Risiko des graduellen Engagements in Krisen und Konflikten

Die europäische Politik trug damit erheblich zu diesem Krieg, den in ihm begangenen Massenmorden und den Vertreibungen bei. Sie hatte ihre erklärten Ziele vollständig verfehlt und war auf der ganzen Linie gescheitert, als die USA mit der NATO eingriffen. Die politische Intervention mit Diplomatie, internationalen Sanktionen, Isolierung Jugoslawiens und politischem Druck auf die Kontrahenten ohne glaubhafte Gewaltandrohung und ohne militärische Eskalationsfähigkeit in der Krise hatte sich als gefährliche, Land und Leute zerstörende und die Balkanregion destabilisierende Illusion erwiesen. Die Politik der Ultima Ratio führte in ein blutiges Fiasko, indem der Konflikt der destruktiven inneren Eskalationsdynamik überlassen wurde.

Externe Eskalation als Interventionsmethode bedarf des schnellen und nachhaltigen Eingreifens. Nur so kann die Intervention auf wesentliche und erreichbare strategische Ziele konzentriert, zugleich territorial und auf ein annehmbares Niveau des militärischen Engagements in Umfang und Intensität begrenzt werden. Nur so lassen sich auch nachteilige Folgen ausschließen oder kontrollieren, wie sich 2003/2005 im Irak negativ erwies, weil der amerikanische Kräfteansatz für eine wirksame Kontrolle des großen Landes von Anfang an nicht ausreichte und weil bei Ende des erfolgreichen Feldzugs gravierende Fehler und Unterlassungen begangen wurden.

Wie vor Beginn des amerikanischen Interventionskrieges von 1991 der damalige Chef des US-Oberkommandos, General Colin Powell, Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs, 1990 bei Beginn der amerikanischen Truppenstationierung in Saudi-Arabien für das defensive Unternehmen "Wüstenschild" erklärte, muss Krieg mit überwältigender Übermacht und Nachhaltigkeit geführt werden, um Erfolg zu versprechen. Er muss mit dem Willen geführt werden, den Feind nicht nur zu schlagen, sondern zu vernichten ("to kill the enemy"). Diese, später "Powell-Doktrin" genannte Forderung wurde dann aber in der folgenden gegenoffensiven Operation "Wüstensturm" zur Befreiung Kuwaits nur unvollkommen und halbherzig befolgt: Der Krieg wurde aus wohl erwogenen Gründen mit Rücksicht auf die UNO, die kein Mandat für einen Angriff auf den Irak erteilt hatte, auf die arabischen und europäischen Verbündeten der USA, die eine Invasion des Irak ablehnten, und wegen der unabsehbaren Folgen einer fremden Besetzung des Landes mit Regimesturz Ende Februar 1991 schon auf irakischem Boden abgebrochen. Präsident George Walker Bush sen. fürchtete auch weiteres Blutvergießen und insbesondere größere amerikanische Verluste. Alle Verbündeten der internationalen Koalition fürchteten einen Zerfall des Irak mit der Folge einer Abspaltung der Schiiten des Südens mit Anschluss an den Iran und der Kurden im Norden für ein unabhängiges Kurdistan, das auch den Südosten der Türkei bedrohen könnte.

Diese Gründe waren richtig, wie auch die Folgen des späteren Interventionskrieges gegen den Irak von 2003 gezeigt haben, aber der halbe Sieg mit einem nur halben politischen Erfolg in Kuwait löste das Problem Irak nicht, obwohl Saddam Husseins Staat kritisch geschwächt, im Wesentlichen entwaffnet und kriegsunfähig gemacht wurde (was sich wiederum zwölf Jahre später 2003 bestätigte). Präsident Bush sen. rief nach Abbruch der Invasion 1991 die innere Opposition gegen das Baath-Regime zur Revolution auf, ermutigte Schiiten und Kurden zum Aufstand, ohne ihnen wirksam zu helfen, und löste damit eine neuerliche massive Repression im Irak aus, die wenigstens hunderttausend Todesopfer forderte.

Die begrenzte Intervention am Golf, die eine notwendige Verteidigung Saudi-Arabiens und eine Befreiung Kuwaits mit einem Schutz aller arabischen Golfküstenstaaten und mit einer präventiven Gegenproliferation zur Verhinderung der eingeleiteten irakischen Atomrüstung, dazu mit einer Abschirmung des schon von irakischen Raketen angegriffenen Israel und mit der weltwirtschaftlich zwingenden Sicherung des freien Zugangs zum Golföl verband, erreichte zwar ihre erklärten Ziele. Doch sie konnte weder die Region stabilisieren noch den Irak wirksam isolieren und das Regime in Bagdad entmachten.

Immerhin war diese Intervention mit dem nötigen Kräfteansatz und, was die USA und Großbritannien betraf, auch mit dem nötigen Engagement erfolgt. Washington und London hatten das Risiko des "incrementalism" oder "Gradualismus", das zur selben Zeit die UNO auf dem Balkan und in Somalia lähmte, vermieden: Die scheibchenweise zögerliche Steigerung des Eingreifens in der Furcht vor einer Konfliktausweitung, immer unfreiwillig nach dem Motto "zu wenig und zu spät". Dieser Gradualismus führte in Somalia in die Katastrophe der UNO- und der US-Aktionen.

Die europäischen UNO-Kontingente bedeckten sich gleichfalls nicht mit Ruhm, verhielten sich passiv bei dieser "humanitären Intervention" und zogen dann aus den ihnen zugewiesenen Zonen in kampffreie Gebiete ab, wo das deutsche von vornherein unter italienischem Geleitschutz stationiert worden war, um ein indisches logistisch zu unterstützen, das nie in Marsch gesetzt wurde. UNO-Generalsekretär Boutros Ghali monierte diese Unbotmäßigkeiten mit Recht als Unilateralismus und Solidaritätsbruch und forderte für die Zukunft von allen Mitgliedstaaten, die einer UNO-Mission Truppen zustellten, die Einhaltung ihrer Pflichten bis zum Ende des Auftrags.

In Kroatien und Bosnien zeigten sich die Europäer 1991-95 und danach im IFOR-/SFOR-Verband in NATO-Regie wie auch in der KFOR im Kosovo und in Mazedonien dagegen auftragstreu bei empfindlichen Verlusten, die sich für Franzosen und Briten zusammen auf etwa einhundert getötete Soldaten in UNO-Diensten summierten. Auch die "Schnelle Alliierte Eingreiftruppe" aus Briten, Franzosen und Niederländern 1995 vor Sarajevo leistete als europäische Eigeninitiative bei ausreichendem Kräfteansatz und energischer Operationsführung außerhalb der UNO-Schutztruppe und ohne Mitwirkung der EU anerkannt gute Dienste.

Die Erfolge ab 1995 sind kein Geheimnis, sondern Resultate zielgerichteten Planens und Handelns: Ausreichender und nachhaltiger Kräfteansatz mit für den Auftrag gut qualifizierten, richtig aufgestellten, geführten und unterstützten Truppen in von der NATO oder nach NATO-Operationsverfahren angelegten und kontrollierten Einsätzen bei erreichbaren Zielen, keine Interessengegensätze zwischen den an der Aktion beteiligten Staaten und keine hemmende Einmischung internationaler Instanzen.

Eskalationsdominanz der Interventionsmacht und politische Kontrolle

Was die Alliierten Oberbefehlshaber in Europa, die die NATO-Operationen in Bosnien seit 1995 leiteten, die US-Generale Shalikashvili und Joulwan, später im Kosovo US-General Clark, von den alliierten Regierungen für den Einsatz alliierter Truppen forderten, nämlich klare politische Zielsetzungen, eindeutige militärische Aufträge mit erreichbaren operativen Zielen, Einheit von Auftrag, militärischer Verantwortung und Befehlsgewalt, schließlich keine weiteren politischen Eingriffe in das militärische Geschehen, gilt zeitlos und überall für den Einsatz von Streitkräften, gleich, für welchen politischen Zweck. Diese vier Prinzipien sind deshalb auch von der EU bei der Umsetzung der ESVP in militärisches Krisenhandeln, insbesondere bei der Intervention in Konflikte zu beachten, denn in ihnen liegt der Schlüssel zur richtigen Anwendung der Eingreifmethoden und zur Lenkung wie zur Begrenzung und Kontrolle der Operationen, damit der notwendigen Eskalation. Nur so kann auch im europäischen Rahmen für europäische Zwecke und im Dienste der UNO oder der OSZE von Streitkräften der EU wie der NATO die unerlässliche militärische Eskalationsdominanz unter der politischen Kontrolle durch die Regierungen und den Europäischen Rat (oder für die NATO den Nordatlantikrat) hergestellt und ausgeübt werden.

Für EU-Operationen ist auf absehbare Zukunft Eskalationsdominanz nur mit Hilfe der NATO erreichbar, wenn es sich um Konflikte mit dem Einsatz von größeren Eingreifverbänden, etwa mehreren brigadestarken Kampfgruppen ("Battle Groups"), insbesondere in größerer Entfernung von Europa oder auch in Europa, vor allem im Falle einer Beteiligung der Türkei, handelt; bei Operationen zur See und bei Luftlande- und Luftangriffs-Operationen in größerem Maßstab ohnehin. Aber die EU braucht auf längere Sicht eine relativ autonome Interventionsfähigkeit zumindest zur Peripheriekontrolle im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. Dafür werden vor allem amphibische, Luftlande- und luftbewegliche Eingreifkräfte, Luftraumkontrolle, Luft-Boden-Angriffsfähigkeit, bewegliche Logistik und Führungs-/Fernmeldesysteme und Luftaufklärung gebraucht. Flugkörperabwehr wird in einer Perspektive 2015/2020 notwendig werden. Eine europäische Orient- und Mittelmeerpolitik über die konventionelle, von der EWG übernommene Kooperation mit außereuropäischen Ländern hinaus ist unabdingbar für jeden sicherheitspolitischen Zweck. Intervention ist in diesen Rahmen zu stellen.

Prof. Dr. Lothar Rühl

Staatssekretär a.D. (ehemals im Bundesverteidigungsministerium, Bonn); Professor für Internationale Beziehungen am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät; Vorstandsmitglied der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen, und des SIPRI Stockholm.



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