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Operatives Denken und Führen in der Bundeswehr auf dem Weg zur Einsatzarmee

von Christian Millotat

Kurzfassung

◄ Sowohl bei einem Kampfeinsatz als auch bei einer Operation im Rahmen eines Friedensmissionseinsatzes ist klassische operative Führung in moderner Ausprägung erforderlich. Operative Führung ist die Ebene militärischer Führung, die politische Absichten und militärstrategische Vorgaben in Weisungen und Aufträge an die unterstellte Führung umsetzt. Sie definiert operative Ziele, entwickelt Handlungsmöglichkeiten, fasst diese in Konzepte und Pläne und koordiniert die Gesamtheit der dazu erforderlichen Maßnahmen auf dem Schauplatz militärischer Handlungen. Sie ist an keine Führungsebene und an keinen bestimmten Kräfteumfang gebunden. Diese Definition macht deutlich, dass die früheren Bindungen an Führungsebenen und Kräfteumfänge entfallen sind. Eine operative Führungsebene ist dann vorhanden, wenn politische und militärstrategische Vorgaben umzusetzen sind.

Bei der Krisenbewältigung im erweiterten Aufgabenspektrum der Bundeswehr, also bei Friedensmissionseinsätzen und beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus, regelt das operative Konzept das Bereitstellen der Kräfte, die nach dem "Task Force"-Prinzip modular und auftragsgerecht gegliedert werden. Ihr Umfang sowie ihre Fähigkeiten sind das Ergebnis internationaler Verhandlungen. Das operative Konzept regelt die Verlegung, die Durchhaltefähigkeit, die Rückverlegung und das Wiederherstellen der Einsatzfähigkeit dieser Kräfte, nicht jedoch ihre Verwendung im Einsatzgebiet, die unter die "Operational Control" eines internationalen Kommandeurs fällt.

Die veränderten Anforderungen, wie heute Raum, Kräfte und Informationen das Planen und Führen operativer Führer bestimmen, ist in den Führungsvorschriften und Reglements der Bundeswehr modern und detailliert dargestellt worden. Anleitungen, wie Maßnahmen zum Wiederaufbau eines Einsatzgebietes, das so genannte "Nation Building", das von Weisungen der politisch-strategischen Ebene ausgelöst und auf den darunter liegenden Ebenen umgesetzt werden muss, fehlen bislang.

Beim Einsatz im Kosovo standen die Kommandeure vor dem Problem, oft zugleich oder nacheinander auf der politisch-strategischen, militärstrategischen, operativen und taktischen Ebene handeln zu müssen. So mussten sie beispielsweise bei Kontakten mit Politikern im Kosovo, in Mazedonien und Albanien auf der politisch-strategischen Ebene, beim Erarbeiten von neuen Strukturen der Kosovo Force auf der militärstrategischen und operativen Ebene und bei der Kontrolle der multinationalen Brigaden auf der taktischen Ebene tätig werden. Erschwerend kam dazu, dass die taktische Ebene im Kosovo beim "Nation Building" ohne operatives Konzept handeln musste, wodurch viele dieser Aktivitäten einem wirklichen Aufbau der Provinz nicht zustatten kamen.

Erfolgreiche operative Führung bedarf geistiger Freiheit, des Willens zum Handeln und der Flexibilität, Aushilfen zu finden und überraschende Lagen flexibel zu meistern. Operative Führung kann aber ihre Aufgabe als Scharnier zwischen der militärstrategischen und taktischen Ebene nur leisten, wenn sie ständig weiterentwickelt und an neue Gegebenheiten angepasst wird. ►


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Operatives Denken und Führen in der Bundeswehr auf dem Weg zur Einsatzarmee

Die U.S. Army und die deutsche Bundeswehr sowie ihre Vorgänger haben seit langem in militärischen Dienstvorschriften eine professionelle, intellektuelle Grundlage für die Ebenen der operativen Führung und der Taktik geschaffen: in Deutschland in operativen Leitlinien, v.a. aber in der Heeresdienstvorschriftenreihe HDv 100, in der US-Armee in den Field Manuals 100/5, "Operations", die seit 2001 als "Field Manual 3-0" bezeichnet werden. Die HDv 100/100, "Truppenführung 2000", und das "Field Manual 3-0" von 2002 wurden in enger Abstimmung der deutschen und amerikanischen Seite entwickelt. Die Streitkräfte der Niederlande haben die deutschen Einsatzgrundsätze der HDv 100/100, "Truppenführung 2000", übernommen, die der anderen NATO-Streitkräfte sind mit ihnen weit gehend identisch.

Die Einsatzgrundsätze des "Field Manual 3-0" von 2002 haben sich bei den amerikanischen Friedensmissionseinsätzen des vergangenen Jahrzehnts, beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan und in der ersten Phase des Irakkriegs von 2003 bewährt. Allerdings ist der politische und militärische Aufbau des Irak, der ihr hätte folgen sollen, noch immer nicht zustande gekommen. Die militärischen Einsätze der amerikanischen Streitkräfte der zurückliegenden Jahre haben indirekt die fast identischen deutschen Einsatzgrundsätze bestätigt, auch wenn die Bundeswehr nicht am Irakeinsatz teilnimmt.

Seit der Beendigung des Kalten Krieges haben die NATO-Armeen Einsatzgrundsätze für Friedensmissionseinsätze für die operative Führung und die Taktik entwickelt, die neben jene der Landes- und Bündnisverteidigung getreten sind. Friedensmissionseinsätze sind in allen Streitkräften der NATO zur zweiten Kernaufgabe geworden und eröffnen der operativen Führung neue Dimensionen. Sie wurden in Dienstvorschriften niedergelegt, behandeln aber v.a. die nationalen Planungs- und Führungsstränge und bislang kaum den Sachverhalt, dass nationale Kontingente im Einsatz in multinationale Truppenkörper eingebunden und einem internationalen Offizier mit den Kompetenzen "Operational Control" unterstellt werden.

In den Golfkriegen von 1990/91 und 2003 sowie in den zurückliegenden und gegenwärtigen Friedensmissionen hat sich die Ebene der operativen Führung, angesiedelt zwischen politischer Zielsetzung und militärischer Umsetzung, unter Anwendung der Grundsätze moderner, freier Operationen und der neu entwickelten Einsatzgrundsätze für Friedensmissionen als unverzichtbar erwiesen. Dabei ist der operativen Führung ein neues Feld zugewachsen, nämlich das "Nation Building" nach Abschluss der militärischen Operationen in einem Einsatzgebiet. Weder im Kosovo noch im Irak hat die hierfür verantwortliche politisch-strategische Ebene hinreichende Vorgaben gemacht. Im Kosovo ist auch 2005 der Aufbau der Provinz nicht zustande gekommen, im Irak kostet dieses Versäumnis täglich Blut bei den Koalitionsstreitkräften und bei der Bevölkerung.

Auch aus dieser Erkenntnis heraus hat die Bundeswehr 2005 in Ulm ein "Kommando Operative Führung Eingreifkräfte" aufgestellt. Wenn es für einen Einsatz der EU im Petersberg-Spektrum oder gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags beauftragt werden sollte, würde es vom Generalinspekteur der Bundeswehr über das Einsatzführungskommando in Potsdam geführt. Das Einsatzführungskommando, normalerweise eine Kommandobehörde auf der Ebene der operativen Führung, würde in diesem Fall auf der militärstrategischen Ebene angesiedelt werden, während das Kommando Operative Führung Eingreifkräfte die Aufgaben der operativen Führung übernehmen würde. Auch die auf Johann Wolfgang von Goethe zurückgehende Erkenntnis, dass nur führen kann, wer klare Begriffe hat, gebietet diese Regelung. Das neue Kommando ist "Joint" und "Combined" gegliedert und so ausgestattet, dass es aus dem Stand heraus antreten kann. Mit seiner Aufstellung wird eine bislang in Deutschland bestehende Lücke geschlossen, die sich aufgetan hätte, wenn Deutschland von der EU oder der NATO beauftragt worden wäre, multinationale "Joint"- und "Combined"-strukturierte Bündnisstreitkräfte auf der Ebene der operativen Führung einzusetzen.

Im Folgenden wird zunächst die Entwicklung der operativen Führung und deren Bedeutung in früheren deutschen Streitkräften und der Bundeswehr bis zum Ende des Kalten Krieges skizziert. Danach wird behandelt, wie in unserer Zeit die Ziele der politisch-strategischen Führung zum Einsatz von Streitkräften die militärstrategische und operative Führung in klassischen Operationen und Friedensmissionen aus deutscher Sicht beeinflussen. Dann wird auf der Grundlage gültiger und zukünftiger Dokumente und Dienstvorschriften das Verständnis von operativer Führung in der Bundeswehr vor dem Hintergrund ihrer Auslandseinsätze vorgestellt. Meine 13-monatigen Erfahrungen im Kosovo sind dabei Grundlage beim Aufzeigen von Problemfeldern.

Entwicklung der operativen Führung in Deutschland bis zum Ende des Kalten Krieges

Carl von Clausewitz unterteilte in seinem Werk "Vom Kriege" die militärische Führung unterhalb der politischen Ebene in Strategie und Taktik. Clausewitz sah zu seiner Zeit nicht die Notwendigkeit einer dritten Ebene zwischen Strategie und Taktik. Er verstand unter "Strategie", was wir heute als "Militärstrategie" bezeichnen. Im Werk des Generalfeldmarschalls Graf Helmuth von Moltke sucht man vergeblich nach einer Definition von operativer Führung. Autoren haben immer wieder behauptet, man könne sie dort finden. Den Aufmarsch einer Armee ordnete er dieser Ebene zu. Das Operieren aus dem Dispositiv eines Aufmarsches oder vor dessen Abschluss aus der Bewegung heraus, "die kriegerische Verwendung der bereitgestellten Mittel", fasste er unter dem Begriff "Operationen" zusammen.

Vor diesem Hintergrund kann man Moltkes getrennten Aufmarsch von drei Armeen, aus dem heraus beinahe die Einschließung der österreichischen Nordarmee unter dem Kommando des Feldzeugmeisters Ludwig Ritter von Benedek gelungen wäre, oder den Aufmarsch des deutschen Reichsheeres bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 im Westen als Leistung der operativen Führung kennzeichnen. In meinem Aufsatz "Operative Führung aus deutscher Sicht"(Fußnote 1/FN1) habe ich die Entwicklung der operativen Führung in Deutschland detailliert dargestellt.

Die politischen, strategischen und militärstrategischen Rahmenbedingungen im NATO-Bündnis waren bis zum Ende des Kalten Krieges anders als heute. Für Soldaten unserer Zeit ist zur bisherigen Landes- und Bündnisverteidigung nach den taktischen Grundsätzen des Gefechts der verbundenen Waffen der Einsatz der verbundenen Kräfte zur Krisenbewältigung in Friedensmissionen, Rettungs- und Evakuierungseinsätzen sowie bei Hilfeleistungen hinzugekommen. Der seit 2001 erstarkende internationale Terrorismus, eine weitere Herausforderung in unserer Zeit, erfordert das Entwickeln neuer Einsatzgrundsätze und Kampfmethoden. Er hat bewirkt, dass kaum noch zwischen innerer und äußerer Sicherheit unterschieden werden kann, und einen Prozess in Gang gesetzt, der neue Formen der Zusammenarbeit von Streitkräften, Polizei und Organisationen, die für Einsätze bei Katastrophen vorgesehen sind, erforderlich macht.

In den Jahrzehnten des Kalten Krieges galt es, in der Zentralregion im Rahmen der damaligen Militärstrategie der flexiblen Antwort (flexible response), die im NATO-Dokument MC 14/3 beschrieben war, im integrierten Dispositiv von Korps der Verbündeten entlang der innerdeutschen Grenze bei einem Angriff des Warschauer Paktes die Verteidigung grenznah aufzunehmen, die Unversehrtheit des Bündnisterritoriums zu erhalten und dieses bei einem Verlust wiederzugewinnen. Das aus der Militärstrategie der flexiblen Antwort abgeleitete operative Konzept der Vorneverteidigung war detailliert im "General Defense Plan" des Commander-in-Chief Allied Forces Central Europe (CINCENT) ausgeplant. Die dem CINCENT nachgeordneten Bereiche, zwei Armeegruppen und zwei Luftflotten, entwickelten auf der Grundlage des "General Defense Plan" eigene Operationspläne. Das militärstrategische und operative Konzept der NATO jener Jahre beruhte auf der operativen Idee, die zahlenmäßige eigene Unterlegenheit an konventionellen Kräften notfalls durch den Einsatz amerikanischer und britischer Nuklearwaffen auszugleichen. Damit wurde jede militärische Handlung des Warschauer Paktes gegen die NATO für ihn zum unkalkulierbaren Risiko. Der Gegner konnte und sollte den Zeitpunkt des Einsatzes von Nuklearwaffen der NATO und ihre Stärke nicht voraussehen können. Die Einbindung der französischen Nuklearwaffen in dieses Konzept ist damals nicht gelungen.

Das operative Konzept der Vorneverteidigung, seine Planung und die von ihm beeinflusste Übungstätigkeit der NATO-Armeen richtete damals das Denken der militärischen Führung der Bundeswehr v.a. auf taktische Probleme, die beim Umsetzen ihrer Operationspläne zu bewältigen waren. Das operative Konzept der Vorneverteidigung, wie es von vielen militärischen Führern damals verstanden wurde, schränkte die Gestaltung von Kräften, Zeit und v.a. des Raums für die Streitkräfte ein. Im integrierten Dispositiv von nationalen Korpsgefechtsstreifen jener Zeit hätte die wesentliche Leistung der Truppenführer bei der Entscheidung über den richtigen Einsatz ihrer Reserven und beim Gewinnen neuer Reserven aus ungebundenen Kräften gelegen.

Auch wenn damals in der Bundeswehr v.a. die Inspekteure des Heeres immer wieder versuchten, aus diesen engen Bindungen auszubrechen, wurden Übungen allzu häufig nach einem durch die Abläufe der Vorneverteidigung geprägten Schnittmuster gestaltet: Verzögerung über geringe Tiefe, danach Verteidigung mit starken Kräften und schließlich Gegenangriff mit Reserven, die oft die Stärke von einem Drittel der Kräfte hatten, die in der Verteidigung eingesetzt waren. Das Hauptaugenmerk der Truppenführer lag dabei auf dem Bewältigen der Anforderungen der ersten Schlacht. Das ungleich schwierigere Operieren in der zweiten Schlacht mit zurückgeworfenen Kräften aus der ersten Schlacht, mit dort erfolglos eingesetzten angeschlagenen Reserven des CINCENT und der beiden damaligen Heeresgruppen und eingetroffenen Verstärkungen aus Nordamerika wurde kaum geübt. Die operative Führung trat damals hinter die Taktik zurück.

Die Truppenführer jener Zeit wus­sten aber, dass bei einem Angriff des Warschauer Paktes bereits die erste Schlacht anders verlaufen wäre, als damals in den Operationsplänen vorgesehen war. Sie kannten die künstlichen Elemente des "General Defense Plan", die aus Bündnisrücksichten entstanden waren, und ihnen war bewusst, dass bei einem Angriff des Warschauer Paktes der Krieg seine Gesetze diktiert hätte, und die Operationen freier hätten geführt werden müssen, als es die Planungen vorsahen.

Als Inspekteur des Heeres leitete General Hans-Henning von Sandrart einen Prozess mit dem Ziel ein, die militärischen Führer des deutschen Heeres aus ihrer starken Fixierung auf die taktische Ebene und die Bedingungen der ersten Schlacht herauszuführen. Seine Operative Leitlinie von 1987 hat­te zum Ziel, sie zu befähigen, die Anforderungen der zweiten Schlacht zu durchdringen, diese als integralen Bestandteil der Gesamtoperation zur Verteidigung der Zentralregion zu begreifen und auf diese Weise die operative Führung wiederzubeleben.

In der HDv 100/100, "Truppenführung", von 1987 wurde die operative Führung auf der Grundlage der Operativen Leitlinie des Generals wie folgt definiert: "Die operative Führung umfasst die Handlungen oberer militärischer Führungsstäbe. Diese setzen die militärstrategischen Zielvorgaben in operativen Plänen und in Aufträge an die taktische Führung um." Zur operativen Führung gehörten damals kraft Definition die NATO-Kommandobehörden und im deutschen Heer die Korps, die Territorialkommandos und die Wehrbereichskommandos. In besonderen Fällen konnte auch eine Division operativ handeln.

Als CINCENT hat General von Sandrart seine als Inspekteur des Heeres entwickelten Vorstellungen von operativer Führung in "Operational Principles for the Employment of Land and Air Forces in Defense of the Central Region" (Kurzform: "CINCENT’s Operational Principles") vom September 1988 einfließen lassen. Der Sachverhalt, dass die Verbündeten die Vorstellungen Sandrarts übernahmen, zeigt, dass die deutsche Seite im Bereich der Wiederbelebung der operativen Führung damals führend war.

Politisch-strategische Ziele und ihr Einfluss auf die militärstrategische und operative Führung von heute

In der Zeit des Kalten Krieges war bekannt, wo der Gegner angreifen würde. Heute ist unklar, wo sich eine Aggression im NATO-Vertragsgebiet oder in anderen Teilen der Welt, in denen NATO-Streitkräfte eingesetzt werden sollen, entwickeln kann. Planungen sind in unserer Zeit daher erst möglich, wenn sich eine Bedrohung abzeichnet.

Unverändert gilt, dass die politisch-strategische Führung das Ziel eines militärischen Einsatzes, seinen "political endstate", festlegt und unmittelbar oder über Bündnisstrukturen den Auftrag zu einem militärischen Einsatz erteilt. Die militärstrategische Führung definiert das zu erreichende militärische Ziel, den "military endstate", und plant, koordiniert und führt den militärischen Einsatz so, dass das von der politisch-strategischen Führung bestimmte Ziel erreicht wird. Die operative Führung regelt und befiehlt in ihrem operativen Konzept, wie die taktische Führung im Gefecht der verbundenen Waffen durch Kampf oder Einsatz der verbundenen Kräfte ohne Kampf die erteilte militärstrategische Weisung durchführt.

Die NATO stellte im "Alliance’s Strategic Concept" von 1991 die Veränderungen heraus, die nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes stattgefunden hatten und sich damals abzeichneten. Sie formulierte eine neue Militärstrategie, die an die Stelle der flexiblen Antwort trat. Im April 1999 verabschiedete sie ein neues strategisches Konzept auf dieser Grundlage. Die neue Strategie der NATO wurde in den Dokumenten MC 400 von 1991 und MC 400/1 von 1996 vom "Supreme Allied Commander Europe" (SACEUR) in militärstrategische Weisungen umgesetzt, nach denen die Streitkräfte des Bündnisses ihre Konzepte, Pläne und Streitkräfte ausrichteten. Die wichtigste Regelung der MC 400/1 für die Landes- und Bündnisverteidigung in Zentraleuropa und bei großen Operationen zur Friedenserzwingung, wo immer auf der Welt, ist das militärstrategische Prinzip der Gegenkonzentration, an dessen Entwicklung der deutsche General Klaus Naumann als "Chairman of the Military Committee" großen Anteil hatte. Wo Kräfte der NATO in eine militärstrategische Gegenkonzentration geführt werden, ist, wie gesagt, nicht mehr vorhersehbar. Daher werden die Kräfte dort aufmarschieren, wo sich eine Bedrohung abzeichnet, der Bündnisstreitkräfte begegnen sollen. Ein Gegner soll erkennen, dass Streitkräfte der NATO eingesetzt werden, wenn er seine Bedrohung nicht einstellt.

Der Ablauf einer militärstrategischen Gegenkonzentration verläuft in der Regel folgendermaßen: Sofort verfügbare Kräfte werden zusammengeführt und marschieren auf. Die in der Krisenregion stationierten Kräfte werden zur Einsatzbereitschaft gebracht. Das Zusammenführen aller Kräfte in der Krisenregion, also ihr Aufmarsch in ein Dispositiv einer militärstrategischen Gegenkonzentration, ist die erste Aufgabe der operativen Führung. Ihre Beteiligung an Krisenmanagementaufgaben unter der Leitung der politisch-strategischen und militärstrategischen Führung mit dem Ziel, um es mit Clausewitz zu formulieren, den moralischen Mut des Aggressors zu schlagen, ist ihre zweite Aufgabe. Das Planen und Führen der zur Verfügung stehenden Kräfte durch Kampf oder durch Besetzung des Krisengebietes ist ihre dritte Aufgabe, die Rückführung der Kräfte nach erfolgreichem Einsatz oder nach Abbruch der Operation ihre vierte und das Wiederherstellen ihrer Einsatzbereitschaft ihre fünfte Aufgabe. In der militärstrategischen Weisung an den verantwortlichen Truppenführer im Einsatzgebiet - er gehört zur Ebene der operativen Führung - muss festgelegt sein, ob er einen Aggressor durch defensive oder offensive Operationen schlagen oder wie er ihn durch andere Maßnahmen zur Aufgabe seiner Absichten zwingen soll. Bei einem Kampfeinsatz, auch bei einer Operation zur Friedenserzwingung im Rahmen eines Friedensmissionseinsatzes, ist klassische operative Führung in moderner Ausprägung erforderlich. Truppenführer der operativen Ebene setzen hierbei das militärstrategische Prinzip der Gegenkonzentration durch das Ausrichten aller ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel auf das befohlene militärische Ziel, den "military endstate", durch Führungskunst beim Realisieren des operativen Konzepts um. Die ihnen nachgeordneten Führer planen, handeln und führen für ihre Führungsebenen entsprechend nach dem Prinzip der Auftragstaktik.

Grundlagen für die operative Führung in der heutigen Bundeswehr

Der Friedensmissionseinsatz in Somalia im Jahre 1993, an dem sich deutsche Soldaten beteiligten, und die Bestätigung des Bundesverfassungsgerichts von 1994, dass deutsche Streitkräfte im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme grundsätzlich weltweit eingesetzt werden können, machten es erforderlich, die bisherige Definition von operativer Führung und deren Aufgaben neu zu durchdenken. V.a. war zu prüfen, ob und wie die Grundsätze der operativen Führung für die bisherige Landes- und Bündnisverteidigung in Friedensmissionseinsätzen gelten sollten.

1994 gab der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Helge Hansen, eine "Vorläufige Leitlinie für die operative Führung von Kräften des Heeres" heraus, in der vor dem Hintergrund der neuen dargestellten Entwicklungen die operative Führung wie folgt definiert wurde: "Operative Führung setzt politische Absichten und militärstrategische Vorgaben in Weisungen oder Aufträge an die taktische Führung um. Sie definiert operative Ziele, entwickelt Vorstellungen vom Handeln, fasst diese in Konzepte und Pläne und koordiniert die Gesamtheit der dazu erforderlichen Maßnahmen auf einem Schauplatz militärischer Handlungen. Operative Führung ist nicht an eine bestimmte Führungsebene und nicht an einen bestimmten Kräfteumfang gebunden. Operative Führung wirkt grundsätzlich teilstreitkraftgemeinsam und in der Regel multinational im gesamten Aufgabenspektrum des Heeres." Im Jahre 1999 erließ der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Hans Peter von Kirchbach, erstmals eine "Operative Leitlinie für Einsätze der Streitkräfte". Dort wird in der Nr. 209 operative Führung wie folgt definiert: "Operative Führung ist die Ebene militärischer Führung, die politische Absichten und militärstrategische Vorgaben in Weisungen und Aufträge an die unterstellte Führung umsetzt. Sie definiert operative Ziele, entwickelt Handlungsmöglichkeiten, fasst diese in Konzepte und Pläne und koordiniert die Gesamtheit der dazu erforderlichen Maßnahmen auf dem Schauplatz militärischer Handlungen. Sie ist an keine Führungsebene und an keinen bestimmten Kräfteumfang gebunden…. Zentrales Merkmal operativer Führung ist die Umsetzung politischer Absichten und militärstrategischer Vorgaben, also ihre Funktion als Bindeglied zwischen militärstrategischer und taktischer Ebene (Scharnierfunktion). Dabei sind der Verbundene Einsatz der Streitkräfte ("Joint Operations") und Multinationalität die besonderen Kennzeichen operativer Führung." Und die Nr. 213 lautet: "Operative Führung steuert alle militärischen Maßnahmen durch Synchronisation der unterstellten Kräfte und stimmt die Durchführung - wo notwendig - mit nationalen und internationalen Organisationen im Einsatzgebiet ab. Darüber hinaus bestimmt sie, mit welchem Ziel militärische Operationen wie, wann und mit welchen Kräften durchzuführen sind." Es sei wiederholt: Diesen neuen Definitionen von operativer Führung ist gemeinsam, dass die früheren Bindungen an Führungsebenen und Kräfteumfänge entfallen sind. Eine operative Führungsebene ist dann vorhanden, wenn politische und militärstrategische Vorgaben umzusetzen sind. Oder anders ausgedrückt: Dort, wo politische Absichten und militärstrategische Vorgaben umgesetzt werden müssen, wirkt operative Führung. Diese neue Definition gilt für alle Einsätze der Bundeswehr, die Landes- und Bündnisverteidigung und für Friedensmissionseinsätze in allen ihren Ausprägungen. Diese werden vom Generalinspekteur der Bundeswehr als Angehörigem der militärstrategischen Ebene über das Einsatzführungskommando durch das Kommando Operative Führung Eingreifkräfte dann geführt, wenn dieses mit der Planung und Durchführung eines solchen Einsatzes beauftragt ist. In der NATO sind die "Regional Commands" Ebenen der operativen Führung.

Aber auch der Führer eines Einsatzverbandes oder Gefechtsverbandes ist Führer der Ebene der operativen Führung, falls deren heutige Kriterien für ihn zutreffen.

Wenn ein deutscher Truppenführer zugleich Nationaler Befehlshaber im Einsatzgebiet ist, gehört er bis zur Übernahme seines Kontingents durch einen internationalen Befehlshaber zur Ebene der operativen Führung. Wenn der internationale Befehlshaber ein deutsches Kontingent mit der Kompetenz "Operational Control" übernommen hat, wird der Führer eines deutschen Kontingents einer der taktischen Führer einer multinational strukturierten Truppe. Nur auf dem nationalen Befehlsstrang bleibt er dann Führer der Ebene der operativen Führung. Er trägt dann zwei "Hüte". Auf dabei noch immer auftretende Konfliktfelder wird später eingegangen.

Die Operative Leitlinie des Generalinspekteurs der Bundeswehr, das soll festgehalten werden, ist das erste Dokument zur Führung deutscher Streitkräfte, in dem ein für alle Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche gemeinsames Verständnis von operativer Führung festgelegt ist. Operative Führung ist damit nicht mehr gleichbedeutend mit Operationsführung. Operationen werden vor, während und nach Schlachten und Gefechten geführt. Sie sind in unserer Zeit Handlungen der operativen und taktischen Ebene.

Die Operative Leitlinie des Generalinspekteurs von 1999 orientiert sich v.a. an den Anforderungen der Einsatzpraxis. Die Verbindung von Militärstrategie und Taktik findet in der operativen Idee ihren ersten Ausdruck. Diese wird im Rahmen des darauf folgenden Planungsprozesses zu einem operativen Konzept weiterentwickelt und führt zum Operationsplan. Zur Entwicklung des operativen Konzepts müssen folgende Fragen beantwortet werden: Wie lautet das vorgegebene Ziel des militärischen Einsatzes?

Welche militärischen Bedingungen müssen erfüllt sein, um das Ziel der politisch-strategischen Ebene zu erreichen?

Welche Folge von militärischen Handlungen ist am besten geeignet, diese Bedingungen zu erreichen?

Welche Handlungsfreiheit gibt es für den verantwortlichen militärischen Führer und an welche Auflagen aus politischen Vorgaben, des Einsatzrechts und der Einsatzregeln ("Rules of Engagement") ist er gebunden?

Unter welchen Bedingungen ist ein Einsatz als erfolgreich zu beenden bzw. als gescheitert abzubrechen und auf welche Art und Weise wird der eigene Einsatz beendet?

Bei der Krisenbewältigung im erweiterten Aufgabenspektrum der Bundeswehr, also bei Friedensmissionseinsätzen und beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus, regelt das operative Konzept das Bereitstellen der Kräfte, die nach dem "Task Force"-Prinzip modular und auftragsgerecht gegliedert werden. Ihr Umfang sowie ihre Fähigkeiten sind das Ergebnis internationaler Verhandlungen. Das operative Konzept regelt die Verlegung, die Durchhaltefähigkeit, die Rückverlegung und das Wiederherstellen der Einsatzfähigkeit dieser Kräfte, nicht jedoch ihre Verwendung im Einsatzgebiet unter "Operational Control" eines internationalen Kommandeurs. Auch dieser Sachverhalt kann im Einsatz zu Konflikten führen, worauf noch näher eingegangen wird.

Merkmale heutiger operativer Führung sind also immer teilstreitkräftegemeinsames Handeln und multinationales Zusammenwirken. Das Planen, Koordinieren und Führen von "Joint Operations" ist nur erfolgreich, wenn in den multinational gegliederten Stäben die Lage gemeinsam beurteilt wird und die Planungen so aufeinander abgestimmt sind, dass die Stärke der jeweiligen Truppe und Teilstreitkraft optimal zur Geltung kommt. Das Nutzen synergetischer Effekte, gemeinsame Kontrolle und gemeinsames Nachsteuern im Verlauf der Operationen gehören ebenfalls hierzu. Multinationale Strukturen erfordern das Harmonisieren von Doktrinen und v.a. Kompromisse aller Beteiligten. In solchen Strukturen eingesetzte Soldaten müssen gemeinsam aus- und weitergebildet werden. Kompatible Führungsmittel und eine möglichst multinationale Einsatzunterstützung sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche operative und taktische Führung.

Die veränderten Anforderungen, wie heute Raum, Kräfte und Informationen das Planen und Führen operativer Führer bestimmen, sind in den Führungsvorschriften und Reglements unserer Streitkräfte vorzüglich, modern und detailliert dargestellt worden. Anleitungen wie Maßnahmen zum Wiederaufbau eines Einsatzgebietes, das so genannte "Nation Building", das von Weisungen der politisch-strategischen Ebene ausgelöst und auf den darunter liegenden Ebenen umgesetzt werden muss, fehlen bislang. Das hat dazu geführt, dass beispielsweise im Kosovo der Aufbau dieser Provinz bisher ebenso wenig zustande gekommen ist wie im Irak, wo dieses Versäumnis täglich Blut von Soldaten der Koalition und der Zivilbevölkerung kostet. Die Anforderungen an die operative Führung beim Bekämpfen des internationalen Terrorismus sind derzeit noch unscharf. Sie müssen von den Bündnispartnern gemeinsam entwickelt und erprobt werden.

Operative Führung im Kosovo-Einsatz

Meine Aufgabenfelder im 13-monatigen Kosovo-Einsatz von 2001/2002 als Stellvertreter des Kommandeurs der Kosovo Force (KFOR), damals einer Truppe von 49.000 Soldaten aus 38 Nationen, umfassten das Halten und Ausgestalten der Kontakte mit der United Nations Interim Administration (UNMIK) sowie die Zusammenarbeit mit der 2002 entstandenen Regierung des Kosovo und mit dem russischen Kontingent. Hinzu kamen Aufgaben als Beauftragter des Kommandeurs der KFOR für Mitrovica sowie als Verantwortlicher aller Flugaktivitäten in der Provinz (Director of Kosovo Air Operations). Im Auftrag des Kommandeurs der KFOR führte ich häufig Kontrollen bei den multinational gegliederten Brigaden durch. In allen Fragen des Einsatzes und der Planungen der zukünftigen Struktur unserer Truppe war ich der erste Berater des Kommandeurs. Drei Monate lang habe ich die KFOR ganz alleine und ganz ohne fremde Hilfe und ganz ohne Rat von außen etc. geführt.

Das Hauptquartier der KFOR ist eigentlich ein Stab der Ebene der taktischen Führung. Die Resolution 1244 des UNO-Sicherheitsrates stellte aber die KFOR gleichrangig neben die UNMIK und wies ihr Aufgabenfelder auf der politisch-strategischen, militärstrategischen und der Ebene der operativen Führung zu. Vor diesem Hintergrund sind der Commander der KFOR und sein Stab auf der Ebene der operativen Führung anzusiedeln.

Bis zu meinem Dienstantritt in Pristina wurde das Hauptquartier von Korpsstäben, beispielsweise des Allied Rapid Reaction Corps oder des Eurokorps, gebildet, die nach sechs Monaten abgelöst wurden. Das hatte den Nachteil, dass wegen dieses zu raschen Wechsels die Arbeitsbeziehungen zur UNMIK-Administration zu locker blieben. Innerhalb der KFOR hatte dieses Verfahren zur Folge, dass den Kommandeuren der multinationalen Brigaden zu viel Selbstständigkeit zuwuchs und wichtige Aufgabenfelder zu wenig synchronisiert wurden. Die fünf multinationalen Brigaden hatten sich regelrecht zu "Königreichen" entwickelt, und mancher ihrer Kommandeure mischte sich allzu oft in die Angelegenheiten des Kommandeurs der KFOR, die über ihren Kompetenzen als Führer der taktischen Ebene lagen. V.a. deutsche Brigadekommandeure vermischten ihre Kompetenzen als Führer der Ebene der operativen Führung auf dem nationalen Befehlsstrang mit denen eines taktischen Führers dieser multinational strukturierten Truppe. Dieses Verhalten führte häufig zu Spannungen und Pannen, die oft negative Folgen zeitigten. Die aufgetretenen Probleme sollten durch ein nunmehr geschaffenes "Composite Headquarters" gemildert werden. Das neue Verfahren, das Hauptquartier im Kosovo zu belassen und nur sein Personal - je nach Verwendung - alle vier bis zwölf Monate auszutauschen, bewährte sich rasch. Es entstand ein Hauptquartier, in dem die ihm durch die Resolution 1244 zugewiesenen Aufgaben und die Zusammenarbeit mit der UNMIK-Administration besser durchgeführt und ausgestaltet werden konnten.

Mancher General und Abteilungsleiter tat sich anfangs schwer, oft zugleich oder nacheinander auf der politisch-strategischen, militärstrategischen, operativen und taktischen Ebene handlungssicher zu wirken. Dort muss beispielsweise bei Kontakten mit Politikern im Kosovo, in Mazedonien und Albanien auf der politisch-strategischen Ebene, beim Erarbeiten von neuen Strukturen der KFOR für die NATO auf der militärstrategischen und operativen Ebene und bei der Kontrolle der multinationalen Brigaden auf der taktischen Ebene gehandelt werden können.

Um unsere multinationalen Brigaden und unser Stabspersonal zu führungsebenengerechter Verhaltenssicherheit zu erziehen, wurde eine an die deutsche Dienstvorschrift HDv 100/200, "Führungsunterstützung im Heer", angelehnte Felddienstordnung erarbeitet, was rasch eine friktionsarme Stabsarbeit unter einem starken Chef des Stabes zur Folge hatte. Die Kommandeure der multinationalen Brigaden erhielten für die Bereiche gemeinsamer Operationen im Kosovo, die Informations- und Pressearbeit und die Kontaktpflege mit den Dienststellen der UNMIK-Administration in ihren Verantwortungsbereichen sowie die Kontaktpflege mit den kosovarischen Meinungsträgern klare Weisungen. Erfolgreich haben wir dagegen angekämpft, dass die Brigadekommandeure, wie in der Vergangenheit so häufig, nationale Positionen vorbrachten, wenn sie Aufträge des Kommandeurs der KFOR nicht oder nur mit halbem Herzen ausführen wollten. Dieser Erziehungsprozess war kräftezehrend, aber letztendlich erfolgreich, auch wenn zum Durchsetzen unserer Planungen, Weisungen und Befehle häufig die NATO-Vorgesetzten bis zum NATO-Generalsekretär bemüht werden mussten.

Im Oktober 2001 befahlen wir neue Wege, wie die zwischen unseren fünf multinationalen Brigaden entstandenen administrativen und mentalen Grenzen Zug um Zug abzubauen waren. Es sollten mehr gemeinsame Operationen im Kosovo durchgeführt werden. Die Bewachung statischer Objekte wurde an die internationale UNMIK-Polizei und den neu entstehenden "Kosovo Police Service" übertragen. Unser Handeln sollte deutlicher als bisher vom Werben um Verständnis für unseren Friedensmissionseinsatz bei der Bevölkerung getragen werden.

Im Bereich des "Nation Building" mittels der CIMIC-Kräfte, die uns zur Verfügung standen, sowie des politischen und wirtschaftlichen Aufbaus des Kosovo waren uns die Hände gebunden, und die internationale Gemeinschaft hat in diesem Bereich versagt.

Die Hauptursache für die verfahrene Lage im Kosovo liegt sicher in der Resolution 1244, dem Weisungsdokument der politisch-strategischen Ebene für den Kosovo-Einsatz von NATO und UNMIK. Dieses schuf die gleich berechtigten, auf enge Zusammenarbeit angewiesenen Handlungssäulen der KFOR und der zivilen Administration, forderte das Ermöglichen der ungehinderten Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen an jeden Ort ihrer Wahl und ordnete das Umgliedern der Befreiungsarmee des Kosovo in ein "Kosovo Protection Corps" an. Die KFOR hat den Auftrag, hierfür ein sicheres Umfeld zu schaffen. Sie enthält aber keine Richtlinien und Weisungen an die für die Friedensmission verantwortlichen Planungsgremien und den Commander der KFOR, so früh wie möglich Maßnahmen für einen von der Bevölkerung mitgestalteten wirtschaftlichen Aufbau der Provinz einzuleiten.

Solche "Post-conflict reconstruction"-Maßnahmen hätten darauf abzielen müssen, von der Truppe nach der Besetzung des Kosovo spontan eingeleitete Aufbaumaßnahmen an die allmählich entstehende UNMIK-Administration mit ihren "Pillars" "Judical", "Civil Administration", "Institution Building" und "Reconstruction" an die fünf eingesetzten "Regional Administrators" und an die internationale "UNMIK-Police" zu übertragen, um sie systematisch weiterzuführen und auszugestalten. Auch die NATO hat in ihren Weisungen und Befehlen diesen Mangel der Resolution 1244 nicht beseitigt. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Der psychologische und wirtschaftliche Aufbau des Kosovo ist noch immer nicht zustande gekommen.

Das führt zu einem neuen Aufgabenfeld der operativen Führung: Beim "Nation Building", einem integralen Bestandteil jeder militärischen Intervention und Friedensmission, ist ihr vor dem Hintergrund der jüngsten, bitteren Erfahrungen im Kosovo und im Irak eine gewichtige Rolle zugewachsen.

Im Kosovo haben die Führer der multinationalen Brigaden, also der taktischen Führungsebene, während und unmittelbar nach der Besetzung der Provinz spontan vielfältige humanitäre Hilfe geleistet und kostenträchtige Aufbauprojekte eingeleitet. Diese werden aber erst seit 2002 vom Hauptquartier der KFOR orchestriert. Diese Anordnung kam zu spät, um das Nebeneinanderhandeln der Brigaden in diesem Bereich in ein wirkungsvolles Konzept zu fassen. Im Irak haben die Amerikaner ab 2003 die gleichen Fehler gemacht. Viele ihrer Nachbesserungen sind im Sande verlaufen.

"Post-conflict reconstruction"-Maßnahmen müssen, das haben wir erkennen müssen, auf allen Führungsebenen für die jeweils nachfolgende Ebene in Richtlinien, Weisungen und Befehlen definiert und umgesetzt werden. Ein Vorgehen nach dem spanischen Sprichwort, es gibt keine Wege, sie entstehen beim Gehen, macht eine gezielte, wirksame Aufbauarbeit unmöglich. Folgender Weg könnte beschritten werden: Die politisch-strategische Ebene - für das Kosovo die UNO - entwickelt ihre Richtlinien und Weisungen zum "Nation Building" mit Beratung der militärstrategischen Ebene. Das ist für das Kosovo der SACEUR in Abstimmung mit dem designierten "Special Representative of the General Secretary of the United Nations" (SRSG). Sie werden aus dem angestrebten politischen Endzustand (political endstate) im Einsatzgebiet abgeleitet. Kann dieser vor Einsatzbeginn nicht formuliert werden - das hat sich im Kosovo verhängnisvoll ausgewirkt -, können solche Richtlinien und Weisungen nur allgemein sein.

Der für die Planung und Gesamtführung eines Einsatzes bestimmte Soldat - im Kosovo der SACEUR und der CINCSOUTH - erhält eine militärstrategische Weisung, die neben den klassischen militärischen Aufträgen für Kampf und Besetzung Richtlinien und Weisungen für von ihm einzuleitende "post-conflict reconstruction"-Maßnahmen enthält. Sie regelt auch die Einbindung von Personal, das zunächst dem Stab des Kommandeurs im Einsatzgebiet angehört, erste Aufbaumaßnahmen koordiniert und später die Zivilverwaltung aufbauen soll.

Auf der militärstrategischen Ebene entwickelt der einen Gesamteinsatz führende Soldat neben seinem teilstreitkräftegemeinsamen Plan zum Führen der militärischen Operationen einen Plan für die während und nach den militärischen Operationen zu treffenden Aufbaumaßnahmen im Einsatzgebiet. Dieser muss so beschaffen sein, dass eine von der UNO, der EU, der OSZE oder einer Koalition von Staaten bereits während oder unmittelbar nach den militärischen Aktionen entstehende zivile Verwaltung ohne Reibungsverluste auf ihm aufbauen kann. Solange eine zivile Verwaltung noch nicht arbeitsfähig ist, sollten ihre Mitarbeiter dem Kommandeur der Kräfte im Einsatzgebiet unterstellt bleiben. Das erfordert die Einheit der Führung in klar definierten Führungsstrukturen. Es muss geregelt werden, wann sie aus diesem Unterstellungsverhältnis ausscheiden und unter den Chef der Verwaltung treten. Der den Einsatz führende Kommandeur - im Kosovo der Commander der KFOR - wird vom den Gesamteinsatz führenden General der militärstrategischen Ebene ausgesucht und der politisch-strategischen Ebene zur Bestätigung vorgeschlagen. Er ist - es sei hier wiederholt - Führer der Ebene der operativen Führung, weil er die politischen Absichten und Vorgaben - im Fall Kosovo der UNO - und die militärstrategischen Weisungen - im Fall Kosovo des SACEUR und des CINCSOUTH - in Weisungen für die taktische Ebene seiner multinationalen Brigaden umzusetzen hat.

Auch der Kommandeur des den Einsatz führenden Soldaten, im Kosovo der Commander der KFOR, entwickelt neben seinem operativen Konzept für seine militärischen Aktionen ein Konzept für das "Nation Building". Dieses regelt, wie ein Beziehungs- und Handlungsgeflecht im Einsatzgebiet zwischen ihm, den Meinungsführern im Einsatzgebiet und bestehenden Einrichtungen geschaffen werden soll. Dieses stimmt er so früh wie möglich mit seinem zivilen Partner, dem späteren Chef der zivilen Verwaltung, ab.

Der taktischen Ebene der multinationalen Brigaden erteilt er Richtlinien und Weisungen, wie diese Aufbauarbeiten in konkreten Feldern leisten sollen.

Die Führer der multinationalen Brigaden leisten "Post-conflict reconstruction"-Maßnahmen auf dieser Grundlage nach den Regeln der Auftragstaktik. Das verlangt Disziplin und die Fähigkeit, sich in die Gedanken des Vorgesetzten hineinzuversetzen.

Es sei noch einmal hier festgehalten: Die taktische Ebene hat im Kosovo beim "Nation Building" ohne operatives Konzept handeln müssen. Dies hat sie mit Schwung und Phantasie getan. Weil aber nicht nach einem Konzept gehandelt wurde, sind viele dieser Aktivitäten einem wirklichen Aufbau der Provinz nicht zustatten gekommen. Dies haben viele Politiker und hohe Soldaten, die das Kosovo häufig besucht haben, nicht erkannt. Daher muss gefordert werden: Wenn sich im Verlauf einer von der UNO geführten Friedensmission zeigt, dass, wie im März 2004 im Kosovo deutlich geworden ist, das Schlüsseldokument der politisch-strategischen Ebene, die Resolution 1244, Defizite aufweist, muss es geändert werden. Auch eine Resolution des UNO-Sicherheitsrates ist Menschenwerk und nicht sakrosankt. Nach den Gewaltausbrüchen vom März 2004, bei denen auch deutsche Soldaten versagt haben, sind neue Ansätze im Bereich des "Nation Building" unerlässlich. Je rascher sie entwickelt werden, desto besser wird die Bevölkerung des Kosovo den wirtschaftlichen und psychologischen Aufbau der Provinz leisten können. Die Ebene der operativen Führung - das sollte deutlich werden - ist dabei unerlässlich.

Deutsche und verbündete Soldaten im Einsatz können aber auch durch ein falsch verstandenes Verständnis der verantwortlichen nationalen Stellen vom Führen in Einsätzen verunsichert werden. Ich habe dies zu Beginn meines Einsatzes häufig erlebt.

Bis zur Verlegung in ein Einsatzgebiet ist für deutsche Kontingente das Einsatzführungskommando in Potsdam für die Führung in jeder Hinsicht zuständig. Dies ändert sich, wenn ein Kontingent unter einen internationalen Kommandeur tritt und ihm mit den Befugnissen "Operational Control" unterstellt wird. Gemäß dem NATO-Dokument MC 57/3 beinhaltet "Operational Control" die Kompetenz, dass ein internationaler Kommandeur seine Aufträge und Aufgaben mit den ihm unterstellten Truppen erfüllen kann, die betreffenden Truppenteile zu dislozieren und über sie "Tactical Control" auszuüben. Truppendienstliche und logistische Befugnisse verbleiben bei der entsendenden Nation.

Die Autorität der Kommandeure der KFOR wurde bisher auch von der deutschen Seite allzu oft von in deren Verantwortungsbereich hineinwirkenden nationalen Weisungen und Befehlen, die vorher nicht abgestimmt worden waren, beeinträchtigt. Deutsche Soldaten haben sich oft lieber an nationale Weisungen gehalten als an die Befehle ihres internationalen Vorgesetzten. Ist dieser schwach, lässt er sich dies gefallen. Ist er stark, verbittet er sich solche Eingriffe.

Nur wenn die Zusammenarbeit zwischen einem internationalen Kommandeur und dem Einsatzführungskommando in Potsdam so gestaltet wird, dass sich jede Seite an ihre Kompetenzen hält und beim Miteinander Fingerspitzengefühl und Takt walten, ist eine friktionsarme Zusammenarbeit möglich. Deutsche Interessen, die ausschließlich von der Führung der Bundeswehr und nicht von Zwischenebenen zu entwickeln sind, müssen bereits während des Planungsprozesses einem internationalen Kommandeur vorliegen. Werden sie erst, wie leider öfters geschehen ist, erst nach dessen Entscheidungen vorgebracht, kommt es zu Konflikten, die von der UNO, NATO, EU oder anderen Organisationen, die einem internationalen Kommandeur direkt vorgesetzt sind, ausgeräumt werden müssen.

Die bisherigen Einsätze der Bundeswehr haben deutlich werden lassen, dass das neue Verständnis von operativer Führung tragfähig ist. Die Verbündeten konnten für die deutsche Auffassung zur operativen Führung gewonnen werden. An der Führungsakademie der Bundeswehr und an den Truppenschulen wird nach ihnen ausgebildet. Neu entstandene Wirkungsfelder der operativen Führung wie das "Nation Building" und der Kampf gegen den internationalen Terrorismus werden bestellt.

Zurzeit wird eine neue Leitlinie "Operative Führung von Einsätzen der Bundeswehr" entwickelt. Sie soll langfristig die bisherigen Leitlinien und Dienstvorschriften der Bundeswehr über operative Führung ersetzen. Neu an diesem Dokument ist, dass in ihm versucht wird, für die neu geschaffenen militärstrategischen und operativen Foren der Bundeswehr Verfahren des Zusammenwirkens zu entwickeln, wie sie in den USA bestehen. Außerdem wird in der Leitlinie versucht, die militärstrategischen und operativen Ebenen im Bundesministerium der Verteidigung eng an die politisch-strategische Führung anzukoppeln. Mit anderen Worten gesagt: Die Leitlinie versucht, der politisch-strategischen Führung aufzuzeigen, was diese im Planungs- und Entscheidungsprozess zu leisten hat, damit friktionsarme realistische Konzepte für Einsätze der Bundeswehr entwickelt werden können. Mit diesem Ziel nimmt sich meines Erachtens die Leitlinie zu viel vor, weil es "clausewitzisch" oder "postclausewitzisch" geschulte Politiker in Deutschland mit der Bereitschaft, ihr Handeln an den Gedanken des Generals auszurichten, nicht gibt. Ob und wieweit sich deutsche Politiker hierauf einlassen werden, muss abgewartet werden. Eine Schulung in solchen Gedankengängen ist zeitaufwendig.

Erfolgreiche operative Führung bedarf geistiger Freiheit, des Willens zum Handeln und der Flexibilität, Aushilfen zu finden und überraschende Lagen flexibel zu meistern. Operative Führung kann aber ihre Aufgabe als Scharnier zwischen der militärstrategischen und taktischen Ebene nur leisten, wenn sie ständig weiterentwickelt und an neue Gegebenheiten angepasst wird.

ANMERKUNG:

(Fußnote 1/FN1) Siehe ÖMZ 3/2000, S.283ff.

Christian E. O. Millotat

Geb. 1943; Generalmajor; 1963 Eintritt in die Bundeswehr, 1965 Leutnant; Verwendungen im PzGrenB 42, 43 u. 2. PzGrenDiv; 1975-1977 Generalstabsausbildung; 1977-1978 Canadian Command and Staff College in Toronto; weitere Verwendungen u.a. als G 3 in der OpAbt HQ AFCENT, Kommandant PzGrenB 362 u. G 3/II. Korps; 1990-1991 US Army War College, Carlisle/USA; 1991-1994 Kommandeur 11. MotSchDiv/PzGrenBrig 38; 1994-1998 Stabsabteilungsleiter III im Führungsstab des Heeres, Bundesministerium der Verteidigung; 1998-2000 Direktor Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg; ab April 2000 Stellvertretender Kommandierender General des II (GE/US) Korps in Ulm, Befehlshaber des Wehrbereiches II in Mainz; 2001/02 13 Monate Stellvertreter des Kommandeurs der Kosovo Force in Pristina; seit 1.3.2006 Director of Security Co-operation bei der OSCE in Sarajevo.



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