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Von Sperrbataillonen zum "Multinational Crisis Management" - Teil 3

Das Ziel der Beitragsserie ist es, durch eine "grobe" Betrachtung der aktuellen militärstrategischen Lage Europas in einem historischen Kontext erste Folgerungen über notwendige Fähigkeiten der zukünftigen "europäischen Streitkräfte" abzuleiten. Unter Aussparung von Komplexität und Tiefgang sollen militärstrategische "Schlüssel-Aspekte" zusammenhängend und übersichtlich präsentiert werden. Im dritten Teil geht es um den Einfluss von globalen Trends auf Europa ("Bemerkungen zur Lage"). Das Kernstück beschäftigt sich mit den typischen Phasen eines Konfliktverlaufes und der Aufgaben/Profilentwicklung von Streitkräften bei friedenserhaltenden Missionen im Ausland mit abschließenden Schlussfolgerungen und Maßnahmenvorschlägen.

Globale Trends und Europa

Im Anschluss an das bisher Dargestellte werden zur Abrundung eingangs "Globale Trends" berücksichtigt, die im militärischen Sprachgebrauch als "Bemerkungen zur Lage" bekannt sind und dem Gesamtverständnis der europäischen Situation dienen. Wie bereits in den vorhergegangenen TD-Artikeln (siehe TD-Heft 1 und 2/2015) angemerkt, verschiebt sich der ehemalige klassische Ost-West-Konflikt zunehmend zu einem Nord-Süd-Konflikt (reicher Norden - armer Süden). Vergleicht man die globale Situation 2015 mit der des "Kalten Krieges", ergibt sich überraschenderweise für die Phase des Kalten Krieges (kalkulierbare Gegner in einem "Gleichgewicht des Schreckens") eine stabilere Situation als heute. Vor allem nach der Kuba-Krise "arrangierten" sich augenscheinlich die beiden Supermächte (USA und UdSSR) und vermieden in weiterer Folge, die vitalen Interessen (Einfluss-Sphären) des anderen massiv zu unterlaufen.

Die globale Situation stellt sich für 2015 wie folgt dar:

- Es existiert ein gleiches "technisches" Risikopotenzial wie zu Zeiten des Kalten Krieges, da die globalen Waffensysteme nicht wesentlich reduziert wurden (die Abrüstung Europas wurde durch die Aufrüstung Chinas, Russlands und die arabischen Staaten ausgeglichen), jedoch zunehmend "sicherheitspolitisch" instabiler; - Dynamische Neuordnung der globalen Machtverhältnisse: Die "Big Five" (Vereinigte Staaten von Amerika, Russland, China, Frankreich und Großbritannien), vertreten im permanenten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, bekommen politische und wirtschaftliche Mitbewerber aus dem asiatischen Raum (Indien) sowie aus Südamerika (Brasilien) - aufstrebende "BRICS"- (Brasilien,­ Russland, Indien, China und Südafrika) und die "N 11"-Staaten (Bangladesch, Ägypten, Indonesien, Iran, Mexiko, Nigeria, Pakistan, die Philippinen, Türkei, Südkorea und Vietnam).

- Kampf um globale Ressourcen: Afrika ist bereits Schauplatz des versteckten Kampfes der Supermächte und Konzerne um Rohstoffe (Erdöl, Mineralien). Bei weiterer Verknappung von sauberem Trinkwasser kann ein Streit wegen der Nutzung der Polarregionen (größte Trinkwasserreserven der Erde) zu einer internationalen Krise führen.

- Arbeitsmarkt und "human ressources": Europa verfügt über zu wenig­ eigene Rohstoffe und billige Arbeitskräfte. Die Bevölkerung ist überaltert, und die großen Konzerne weichen mit ihrer Produktion daher in Drittländer aus: Textilfirmen vor allem nach Bangladesch und Indien. Die europäische Autoindustrie beginnt nach einer ersten Verlagerung nach Osteuropa eine weitere Auslagerung von Produktionsstätten nach China und Russland.

- Neue regionale Konfliktpotenziale mit hohem strategischen Interesse der USA, Chinas und Russlands bzw. ihrer Verbündeten (Israel, Japan, Syrien) wie der Ukraine-Konflikt mit möglichen Auswirkungen auf das Baltikum, der chinesisch-japanische Inselstreit im Ostchinesischen Meer, die Entwicklung des Islamischen Staates (IS) im Nahen Osten und die fortlaufende Destabilisierung Nordafrikas (Libyen).

Das Militär des 21. Jahrhunderts in Europa

Aus dem bisher Geschriebenen lässt sich zwar ableiten, dass Europa derzeit keiner klassischen konventionellen Bedrohung ausgesetzt ist. Dies würde historisch betrachtet aber auch für die Zeit kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gelten.

Unbenommen davon sind jedoch die im Mittleren Osten stationierten (nuklearen?) Mittelstreckenraketen des Iran, deren Reichweite vermutlich auch Mitteleuropa abdecken. Die logische Reaktion der NATO war die Entwicklung eines in Europa stationierten Raketenabwehrschutzschildes. In diesem werden Satelliten, Schiffe, Radaranlagen und Abfangraketen mehrerer NATO-Länder zusammengefügt, um Europa vor Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 3 000 Kilo­metern zu schützen.

Trotz des relativen Friedens in Europa sind zehntausende Soldaten aus aller Welt zur Krisenbewältigung auf dem Balkan, im Nahen/Mittleren Osten und in Afrika eingesetzt, zum Teil unter erheblichen Verlusten von Menschenleben. Ausfälle von Soldaten können trotz der modernen Waffensysteme der internationalen Truppen nicht gänzlich verhindert werden. Die Einsätze der USA mit der "coalition of the willing" im Irak und in Afghanistan, aber auch der UN-Truppen in afrikanischen Krisengebieten (Darfur, Kongo) und im Nahen Osten (UNIFIL) verlangten von den entsendeten Truppen eine Umstellung ihrer Kampfverfahren. Durch die verbesserten technischen Ausstattungen von nicht-regulären gegnerischen Kräften (vor allem im Bereich der Kommunikation) sowie durch die Komplexität der gegnerischen Handlungen (Improvised Explosive Devices - IED, Selbstmordanschläge, Infiltrierung, Psychologische Kriegsführung etc.) musste sich auch das Konzept und in weiterer Folge die Ausbildung und Ausrüstung der eingesetzten europäischen Truppen anpassen:

- Verbesserter Schutz von Fahrzeugkolonnen ("Force Tracking", "Jammer", "Counter IED").

- Moderner Aufklärungs-Wirkungsverbund: Luftbildauswertung, Drohnen, Kampfhubschrauber, "Human Intelligence" und "Special Forces" in einem vernetzten Einsatz.

- Der Zug und die Kompanie als selbstständig operierende Einheit mit "Forward Air Controller" (siehe TD-Heft 4/2014, "Forward Air Controller - Qualified and Certified") und eigener leichter Artillerie (leichter Granatwerfer).

Zusätzliche Aspekte

Des Weiteren waren eine enge Zusammenarbeit mit polizeilichen und zivilen Komponenten und die Kenntnis des politischen und kulturellen Umfeldes des jeweiligen Einsatzraumes durch die Soldaten erforderlich ("Comprehensive Approach" - siehe dazu TD-Heft 5/2009, "Integrated Missions"). Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Anforderungen an das Militär in ihrer Intensität im operativen Kernbereich "Kampf der verbundenen Waffen" zwar zum Teil gesunken sind, das Anforderungsprofil in seiner Breite und Komplexität jedoch auf dem taktischen "Level" gestiegen ist. Die Vielschichtigkeit einer Krise, die rasche unerwartete Abfolge von Lageänderungen in Verbindung mit mangelnden Reaktionskapazitäten und schleppenden politischen Entscheidungen betraf nicht nur den Soldaten auf dem "Boden", sondern auch die Kommandanten und Stäbe der eingesetzten Verbände. Weder zur Verhinderung der Massenhinrichtungen in Ruanda noch in Srebrenica waren die eingesetzten Truppen vor Ort mit dem entsprechenden Mandat und Mitteln ausgestattet. Rasch verfügbare operative oder strategische Reserven standen nicht zur Verfügung. Letztendlich stellt sich die Frage, weshalb die EU bzw. in weiterer Folge die Vereinten Nationen (VN) für ihre Aufgabe der internationalen Krisenbewältigung nicht über entsprechende eigene Truppen verfügen? Die Feuerwehr sucht bei einem Brand auch nicht erst nach verfügbaren Feuerwehrmännern und Fahrzeugen.

Beim internationalen Krisenmanagement ist das jedoch "gang und gäbe".Dort heißt es "Force Generation". Im Prinzip bedeutet dies "Suche nach Soldaten und Gerät" und dauerte z. B. für den EU-Einsatz EUFOR TCHAD/RCA vom 11. November 2007 bis Anfang Jänner 2008, also ca. zwei Monate. Wenn man bedenkt, dass Krisen kurzfristig auftreten, erkennt man die Problematik von langwierigen "Force Generation"-Konferenzen. Ein erfahrener Planungsoffizier der Vereinten Nationen hat diese Problematik mit den Worten "too little, too late" (zu wenig, zu spät) umrissen.

Herausforderungen für EU-Streitkräfte

Die europäischen Streitkräfte des 21. Jahrhunderts werden sich bei einem Einsatz einer EU Battle Group (EUBG), einer UN-Mission, innerhalb der NATO/PfP oder OSZE meist folgenden Herausforderungen stellen müssen:

- Erfüllung eines nicht vorhersehbaren Auftrages: Zum Unterschied eines (Verteidigungs-) Einsatzes von Truppen im eigenen Land (Österreich-Beispiel "Raumverteidigung"), wo nicht nur das eigene zu erwartende Kampfverfahren (Verteidigung), das Gelände (vor allem im Falle des "Sperrbataillons") als auch der mögliche Gegner und sein operatives Verfahren ("Angriffsverfahren Ost") bekannt waren, trifft dies bei einem Friedenseinsatz im Ausland nicht zu: Im Zuge einer grundsätzlichen, vorgestaffelten Basis-Ausbildung für Auslandseinsätze sind die fünf "W" (wer, was, wann, wo, wie) meist offen, da oft noch keine UN-Sicherheitsresolution (UNSCR), EU-Mandat, "Concept of Operations" (CONOPS) sowie Operationsplan (OpPlan) verfügbar und die "Gegnerischen Kräfte" und deren Kampfweise unbekannt sind.

- Strategische Verlegung und Operation in einem meist unwirtlichen Gebiet (weltweit) unter Inkaufnahme langer Versorgungswege.

- Trainierte Gefechtstechniken können nicht immer 1:1 angewendet werden.

- Keine optimale Verfügbarkeit des benötigten Gerätes (extreme Hitze, Kälte, Sand, Seehöhen, maritime Bereiche etc.); - Die Kultur im Einsatzraum nicht zu kennen bzw. zu verstehen (Cultural Awareness).

- Einer sehr unterschredlichen Einstellung der Bevölkerung gegenüber zu stehen.

- Den Gegner nicht unmittelbar erkennen zu können ("Warlords", Splittergruppen etc.).

- Auf bestimmte Situationen nicht vorbereitet zu sein (Kindersoldaten, Hunger, aufgrund des Mandates manchmal keine Autorisierung zum Schutz von Zivilisten zu haben).

- Eine Zusammenarbeit mit Truppenteilen aus anderen Ländern (Kontinenten) mit unterschiedlichem Gerät und Ausbildungsstandard.

- Mit Sprachbarrieren, kulturellen und religiösen Unterschieden im multinationalen Kontingent konfrontiert zu sein.

Auftrag und Kräftebedarf

Der Bedarf der internationalen Staatengemeinschaft nach Krisenbewältigungskräften (vor allem in Afrika) und die Hilfeleistung bei Natur- bzw. humanitären Katastrophen wird voraussichtlich unverändert hoch bleiben (ca. 300 000 Soldaten pro Jahr in Einsatzräumen). Krisenprävention, Krisenmanagement und internationale­ Hilfe bei Naturkatastrophen sowie humanitäre Hilfe werden die Aufgaben der Streitkräfte Europas in der Zukunft sein. Dies gilt auch für ein friedfertiges Europa, das zwar nicht in einem feindlichen, aber in einem instabilen Umfeld lebt. Die vermehrte Beteiligung am internationalen Krisenmanagement in asymmetrisch und mehrdimensional geführten Konflikten und in der humanitären Hilfeleistung verlangen eine Transformation von ehemals eher starr geführten, "einfach ausgerichteten" Verbänden (ein klassischer Vergleich für Österreich wäre das Sperrbataillon), die hauptsächlich für die Kampfart "Verteidigung" ausgebildet wurden, in eine multinationale "Task Force", die weitab von bekannten Gebieten operiert. Aufgrund seiner vielfältigen Struktur (von San-Einheiten bis hin zu Pionierbooten und Hubschraubern, aber auch reinen Kampfeinheiten und Spezial Forces), seiner strengen funktionierenden Hierarchie, der ethischen und moralischen Verpflichtung gegenüber jedem Kombattanten und der Zivilbevölkerung und wegen seiner breiten Fähigkeitspalette sowie Ausrüstung, eignen sich Militärs besser als jede andere Organisation für einen Einsatz zur Krisenbewältigung.

Hier stellt sich für den Berufsoldaten die Frage: "Was ist eigentlich ein Soldat?" Den Soldaten sollte kennzeichnen:

- Eine gediegene, mehrjährige Ausbildung in Waffen- und Schießdienst sowie Taktik - er soll sein Handwerk (Kriegskunst) verstehen.

- Die praktische Erfahrung in (Auslands-)Einsätzen.

- Eine hohe körperliche und physische Belastbarkeit.

- Disziplin und Loyalität.

- Soziale Kompetenz.

- Ein gutes Bildungsniveau und, v. a. für Auslandseinsätze, ein entspre­chendes Kulturverständnis, "menschliche" Qualitäten und ein ausgeprägtes Improvisationstalent.

Anforderungen

Aus den oben erwähnten Punkten ergibt sich, dass dieses Anforderungsprofil nicht innerhalb von sechs oder acht Monaten erreichbar ist - ohne hier auf das Thema "Wehrpflicht" einzugehen. Das Problem der Auftragserfüllung von schlecht ausgebildeten und schlecht geführten Truppen in friedenserhaltenden Einsätzen lässt sich u. a. im sogenannten "Brahimi-Report" (siehe dazu www.bundesheer.at/pdf_pool/publikationen/03_jb01_08_sch.pdf) nachlesen. Der seitens der UN jahrelang strapazierte Slogan "We need boots on the ground", also Quantität statt Qualität, führte zu einer Inflation der Anforderungen an "Soldatentugenden" und Ausbildungsstandards (Qualität der Truppen), und endete manchmal in einer "Erst-Einkleidung" von schlecht ausgebildeten "Soldaten" im See- oder Flughafen des Krisengebietes. Dazu die Worte des ehemaligen UN-Generalsekretärs Dag Hammars­k­jöld: "Peacekeeping ist nicht die eigentliche Hauptaufgabe der Soldaten, aber nur Soldaten können es tun." Es ist gewissermaßen ein Paradoxon: Soldaten, die eigentlich "für den Krieg trainiert und ausgerüstet" worden sind, lassen sich auch zur Verhinderung einer Krise bzw. zur Eindämmung eines Konfliktes verwenden. Im Prinzip gibt es nur wenige Fähigkeiten in qualitativer und quantitativer Hinsicht, die eine moderne Armee in einem Konfliktverlauf nicht erfüllen könnte. Dies sind überwiegend politische bzw. polizeiliche Aufgaben.

Weitere Aufgabenfelder, die nach dem allgemeinen Verständnis besser von nicht uniformiertem Personal durchzuführen sind, wären u. a. administrative und andere Tätigkeiten, die keine militärische Ausbildung benötigen (Kostenfaktor).

Bedrohungen

Alle weiteren Aufgaben, die im Konfliktmanagement auftauchen, können durch dafür ausgebildete militärische Truppen abgedeckt werden. Die Kosteneffizienz ist hier jedoch nicht berücksichtigt. Zum Beispiel braucht man für den Wiederaufbau eines Kindergartens bei einem CIMIC (Civil Military Cooperation-)Projekt nicht unbedingt eine kriegsmäßig ausgerüstete Pioniereinheit. Umgekehrt eignen sich Kampftruppen, wenn sie zu Beginn der Krisenbekämpfung eingesetzt wurden, nicht besonders zu einem späteren versöhnlichen "Wiederaufbau". Vor allem dann, wenn vorher hohe Verluste eingefahren wurden. Zur psychischen Belastung eines Soldaten ist anzumerken: Auch wenn ein Auslandseinsatz keine Teilnahme an einem Krieg bedeutet, kann der entsendete "Peacekeeper" Folgendes erleben:

- Bedrohung und Beschuss durch Waffen.

- IED und Minen (inklusive einer San-Erstversorgung von Opfern).

- Luftangriffe und Artillerieeinschläge; - Verbindungs- und Beobachtungsdienst zwischen aktiven Kriegsfronten.

- Hitze, Staub, Krankheiten (z. B. Malaria), Schlangen und Skorpione.

In exponierten Missionen (hauptsächlich in Militärbeobachtermissionen wie in Ruanda, im Kongo, in Kambodscha, Tadschikistan etc.) kam es vereinzelt zu Scheinerschießungen (die Hinrichtung von UN Beobachtern wurde durch die Entführer mehrmals nur "gespielt"), Entführungen und tatsächlichen Ermordungen von UN Personal.

Phasen einer Krise - Aufgaben des Krisenmanagements

In den folgenden Punkten wird versucht, einen Krisenverlauf in Phasen zu unterteilen. Oft wird behauptet, dass jede Krise anders sei und somit jedes Mal alles von Neuem beurteilt werden muss. Diese Auffassung würde jedoch "a priori" jede militärische Grundsatzplanung "ad absurdum" führen.

Die eigentliche planerische Kernaufgabe beginnt lange bevor ein Konflikt entsteht und resultiert in der Regel in einer zeitgerechten und angemessenen Beurteilung der Situation. Wer sich jahrelang mit militärischer Planung und Aufklärung beschäftigt, weiß, dass Kriege und Konflikte grundsätzlich nicht plötzlich ausbrechen, vor allem wenn sich nach einem "Ausbruch" mehrere brigadestarke Verbände operativ bewegen.

Der unvermittelte und heftige Ausbruch des Ukraine-Konfliktes war zwar für militärstrategische Planer überraschend, bei näherer Betrachtung der einzelnen Parameter wie innenpolitische Konstellation der Ukraine, wirtschaftliche Interessen der Anrainerstaaten, russische Minderheiten, die NATO-Ost-Erweiterung und das EU-Assoziierungsabkommen, muss man sich jedoch eingestehen, dass alle Zutaten für einen Konflikt bereits ausreichend vorhanden waren und es letzten Endes nur einen "Funken" gebraucht hat.

Folglich gibt es für aufkommende zivile Unruhen in der Regel genügend Anzeichen, wenn man sie nur rechtzeitig beachtet. Es sollten sich daher gewisse allgemeine Reaktionsprinzipipen für einen Konfliktverlauf ableiten lassen, deren Einhaltung die Erfolgswahrscheinlichkeit zur Eindämmung einer Krise erhöhen.

Phase 1 - relativer Frieden: "grün"

Die Phase 1 ist vermutlich die wichtigste Phase in einem Konfliktverlauf. Fehler, die hier gemacht werden, ziehen sich in der Regel durch den gesamten Konflikt und sind irreversibel. Hier kann noch mit relativ geringen Mitteln eine Krise verhindert werden. Trotzdem wird dieser Phase aus Gründen der mangelnden (innen-)politischen Attraktivität (da der Konflikt noch nicht in den Medien präsent ist und daher wenig Auswirkung auf das jeweilige Wählerverhalten in den demokratischen Entsendestaaten hat) oft die geringste Aufmerksamkeit geschenkt.

Folgende Aufgaben sind hier abzudecken:

- Strategische Analysen.

- Laufende Erstellung von Lagebildern.

- Einrichtung eines Frühwarnsystems.

- Beratung/Ausbildung von anderen Sicherheitskräften in noch nicht voll stabilisierten Staaten.

- Einbeziehung von "Lessons Learned" aus laufenden Einsätzen.

Phase 2 - aufkeimender Konflikt: "gelb"

In dieser Phase berichten fallweise Medien von der drohenden Gefahr, und Politiker greifen vereinzelt das Thema auf. Militärisch passiert meist nichts, da die Stimmung in den beobachtenden (europäischen) Ländern noch nicht ausreicht, um parlamentarische Prozesse in Gang zu setzen. Hier wird bereits kostbare Zeit verspielt, die später auch durch exzellente operative Planungen nicht mehr gutgemacht werden kann.

Folgende Aufgaben sind abzudecken:

- Verstärkte Beobachtung der Entwicklungen (Einrichtung eines Krisenstabes).

- Entsenden von Verbindungsoffizieren und Unterstützung der diplomatischen Aktivitäten auf der militärdiplomatischen Ebene (Akzeptanz von Militär ist bei "War Lords" höher als in westlichen Staaten - im Gegensatz zur "westlichen Welt" stellen "Uniformierte", bewaffnet bzw. mit der entsprechenden Truppe dahinter, in potenziellen afrikanischen und in vielen asiatischen Konfliktregionen durchaus einen respektablen Gesprächspartner dar).

- Bereithalten von selbstständig operierenden, strategischen Reservekräften in Bataillonsstärke (in ca. einer Woche ab Tag X verfügbar).

- Bereithalten von operativen Kräften in Brigadestärke (innerhalb von einigen Wochen verfügbar).

- Treffen von logistischen Vorbereitungen (strategische Verlegung via Luft/See planen).

- Bereithalten von Erkundungskommandos.

- "Force Generation" überdenken, politische Vorabsprachen diesbezüglich durchführen.

- Eventuell die Entsendung einer Beobachtermission.

Phase 3 - Massive Kampfhandlungen: "rot"

Das Erkennen dieser Phase, vor allem auf politischer Ebene, ist schwierig, da der Übergang oft " schleichend" erfolgt und verlangt unter Umständen eine rasche internationale Reaktion mit der Absicht - der Eindämmung und Verhinderung einer Ausdehnung des Konfliktes.

- des Schutzes der Zivilbevölkerung (Gefahr des Genozid).

- der humanitären Hilfe.

- des Schutzes von eigenen im Raum befindlichen EU-Angehörigen bzw. bereits vorhandenen Friedenstruppen (Evakuierung).

Dies bedarf oft ausreichend verfügbarer Truppen, die in der Regel dann so nicht vorhanden sind. Planer sollten sich daher bereits in der Phase 2 mit diesem Thema befassen und entsprechende Vorbereitungen treffen (Schaffung von Reserven, Kommandostrukturen, Logistik etc.). Falsch wäre es aber, die Maßnahmen der Phase 2 "stumpf" aufrechtzuerhalten und einfach nur abzuwarten. Als Richtschnur sollen hier die Worte erwähnt werden: "You can avoid reality, but you cannot avoid the consequences of avoiding reality" (Man kann die Wirklichkeit vermeiden, aber nicht die Auswirkungen ihrer Vermeidung). Daher: Ein rasches Abziehen einer eventuell vorhandenen (unbewaffneten) Beobachtermission (aber ihre Erfahrung zum Einfließen der neuen Truppe - "hand over/take over" nutzen) aus dem Einsatzraum.

Was wären nun Aufgaben an die "Interventionstruppen" für die Phase "rot"? Nach der völkerrechtlich notwendigen Erteilung einer UN-Resolution bzw. eines EU-Mandates, sind dies folgende Punkte:

- Beginn der raschen Verlegung von Kampftruppen (Fallschirmtruppen, Marineinfantrie etc.) in den Einsatzraum - "Aufmarsch".

- "Show of Force" (Demonstrativer Einsatz von Luftwaffe, Hubschraubern, Special Forces-Truppen und sichtbares Zusammenziehen maritimer Elemente) - wenn verfügbar auch Einsatz von KPz und SPz.

- Evakuieren von Botschaften, EU-Staatsbürgern etc.

- Öffnen der Zugangshäfen (Flughäfen, Seehäfen).

- Sichern der Lufthoheit, Zerschlagung der Luftabwehr und der Kommandostruktur der Konfliktparteien.

- Verbindungsaufnahme mit der Regierung (wenn noch vorhanden) im Krisenland.

- Verhandlungen mit den "War Lords" grundsätzlich nach diesem "Show of Force" der Interventionskräfte.

- Einsatz bewaffneter Verbindungstrupps; - Setzen von Ultimaten an die "Rebellen".

- Festlegen einer Pufferzone (sofern noch möglich), ansonsten Festlegen bestimmter "waffenfreier" Zonen.

- Einrichten von schwer bewachten Schutzzonen für die gefährdete Zivilbevölkerung - ist dies nicht möglich, dann Abtransport der Bevölkerung in entfernte, sichere Gebiete (Was keinesfalls passieren sollte: In Srebrenica wurde die erste VN-Schutzzone errichtet, und nachdem viele Bosniaken ihre Waffen abgegeben hatten, wurden sie zum Verlassen des Camps aufgefordert und auf dem Fußmarsch nach Tuzla sukzessive von serbischen Kommando-Truppen getötet.).

- Sichern von kritischer Infrastruktur im Land (Regierungsviertel, Spitäler, Botschaften, Hauptbewegungslinien etc.) - auch unter Waffeneinsatz.

- Trennen der Konfliktparteien - auch unter Waffeneinsatz; - "Counter Insurgency" (COIN): Gegenmaßnahmen gegen Widerstand und Terror, der in der Regel nicht mit den Mitteln rechtlich legitimierter Streitkräfte erfolgt.

- Sichern von bzw. Mitwirken bei humanitären Hilfeleistungen (San, Transport, Unterkunft etc.).

In der Phase 3 sollte die "Multinationalität" der Truppen auf ein Minimum beschränkt sein. Das einzelne Bataillon sollte zumindest aus einer Nation bestehen, weil Kampfverbände, die sich zum ersten Mal im Einsatzraum treffen, wenig Wirkung "auf dem Gefechtsfeld" zeigen können. Oft sind nicht einmal die Führungs- und Verbindungsmittel miteinander kompatibel.

Phase 4 - Stabilisierung nach der Krise: "blau"

Diese Phase verlangt:

- Schrittweiser Austausch des Einsatzkontingentes in ein (frisches) "Stabilisierungskontingent".

- Verstärkte Durchführung von Informationsoperationen (InfoOps) über Radio, Zeitungen, Fernsehen etc., um der Bevölkerung ein besseres Verständnis des "Einsatzes" (z. B. zum Wiederaufbau) zu vermitteln.

- Beginn von Entwaffnung, Demobilisierung, Re-Integration ehemaliger Soldaten in das zivile Leben (engl.: Disarmament, Demobilization and Reintegration - DDR), Entminung, Sicherung beim Aufbau der Infrastruktur.

- Mitwirkung beim Wiederaufbau einer neuen Sicherheitsstruktur (capacity building and training).

- Langsamer Abzug der Force (kein plötzlicher Abzug, da falsches Signal an die eventuell noch vorhandenen "Rebellen").

- Bereithalten von operativen und strategischen Reserven.

Konsequenzen für die GSVP der EU

Militärische Kräfte eignen sich grundsätzlich für alle Phasen des internationalen bzw. europäischen Krisenmanagements. Gerne vergisst man aber, dass eine Eignung noch nicht heißt, dass sie optimal ist. Ein "Spezialeinsatzkräftebataillon" eignet sich grundsätzlich als Ersteinsatzkraft (Initial Entry Force), jedoch benötigt dieser Verband zusätzliche Elemente wie Flugsicherer, Hafenmeister, Zollorgane, Stapler, Kräne etc., um die Flug- und Seehäfen nicht nur zu sichern, sondern auch für die nachfolgenden Truppen funktionsfähig zu erhalten, falls keine Unterstützung durch das Gastgeberland vorhanden ist.

Ableitungen

Bisher hat sich herausgestellt, dass - sich die sicherheitspolitische Weltlage trotz (oder wegen) der Beendigung des "Kalten Krieges" angespannt präsentiert (Japan-China, Israel-Iran, Nordkorea, Nordafrika, Syrien).

- die regionale Situation Europas und seines Umfeldes in den letzten beiden Jahren einer dramatischen Verschlechterung unterlag.

- Europa durch den Ukrainekonflikt seine Stabilität im Osten verloren hat.

- das militärstrategische Umfeld Europas trotz einer gewissen Entfernung nicht zu unterschätzende, sicherheitspolitische Risiken birgt - vor allem der Nahe Osten, der Kaukasus und Nord-Afrika.

- Die Konflikte am Kaukasus und die Piraterie am Horn von Afrika die wichtigen strategischen Versorgungswege (Pipelines, Schiffsverkehr) Europas gefährden.

- Die internationalen Organisationen für rasche Interventionen keine eigenen Truppen haben, sondern auf den Willen der einzelnen Mitgliedsländer angewiesen sind (parlamentarische Zustimmungen, Veto-Recht) und daher in der Vergangenheit den Schutz der Zivilbevölkerungen in Krisenregionen oft nicht (rechtzeitig) sicherstellen konnten, wie in Ruanda, Bosnien und Herzegowina, im Libanon, in Syrien etc.

- Es zukünftig weiterhin militärische Aufgaben für Europa geben wird, allerdings komplexer und mit einem hohen Anforderungsprofil. Diese Aufgaben werden im Gegensatz zu ehemaligen stationären Verteidigungsszenarien des "Kalten Krieges" im Bereich eines aktiven europäischen und internationalen Krisenmanagements im strategischen Umfeld Europas zu erfüllen sein.

Folgerungen

- Europa selbst (Balkan, Ukraine und Zypern) und sein militärstrategisches Umfeld müssen sicherheitspolitisch stabil gehalten werden, um ein Übergreifen von krisenhaften Entwicklungen durch direkte und indirekte Auswirkungen zu verhindern.

- Der militärstrategisch relevante "Umfeldgürtel" Europas umfasst Teile (West-)Russlands und seiner Anrainerstaaten, den Nahen Osten, Nordafrika und den Kaukasus sowie die umliegenden Meere und den darüber liegenden Luft- und Weltraum.

- Über den oben genannten Bereich hinaus sind die internationalen Versorgungswege Europas zu "sichern" (Mittlerer Osten, Kaukasus, Horn von Afrika) bzw. die Versorgungsabhängigkeit Europas auf andere Art "abzufedern".

- Europa sollte mit Unterstützung von Partnern (NATO, UN) die Aufstellung von supranationalen, zentral abrufbaren Kriseninterventionskräften in ausreichender Stärke vorantreiben, um im Krisenfall rasch der notleidenden lokalen Zivilbevölkerung ("humanitärer Aspekt") und den bedrohten europäischen Staatsbürgern im In- und Ausland helfen zu können.

Maßnahmen für Europa

- Die Einrichtung eines NATO-, UNO-, OSZE-kompatiblen, permanenten operativen Joint HQ der EU (siehe dazu TD-Heft 2/2012, S. 137), mit Zugangsmöglichkeiten für Drittländer.

- Nur sechs der 28 NATO-Staaten (Albanien, Island, Kanada, Norwegen, Türkei und USA) sind nicht in der EU, während nur sechs - von ebenfalls 28-EU-Mitgliedsländern (Finnland, Irland, Malta, Österreich, Schweden und Zypern) nicht in der NATO sind. Durch die bereits eingegangenen Verpflichtungen der Mitgliedsländer der EU ist die gleichzeitige Verpflichtung von 22 EU-Mitgliedstaaten in der NATO die logische Verknüpfung EU-NATO immanent und unauflösbar. Dies sollte, aus rein militärstrategischer Sichtweise, mittelfristig von den sechs außerhalb der NATO verbleibenden EU-Staaten akzeptiert werden. Für Österreich ergäbe sich als erster Schritt in diese Richtung z. B. die Möglichkeit einer Teilnahme im NATO Response Force-Pool, mit Schwergewicht für Humanitäre und Katastrophenschutzeinsätze (der Passus "ausgenommen Art. 5-Einsätze" kann für neutrale Länder vereinbart werden).

- Aufbau der strategischen Fähigkeit, um in kurzer Zeit Operationen in Brigadestärke und darüber im Umkreis Europas (Afrika, Naher Osten, Kaukasus), auch in feindlicher Umgebung und harschem Klima, durchführen zu können.

- Verstärkte Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Streitkräften (u. a. gemeinsame Luftraumüberwachung, Offiziersausbildung etc.).

- Bildung einer maritimen Komponente­ für Kriseneinsätze.

- Ausbau der Fähigkeiten im Bereich Katastrophenschutz und internationaler Hilfeleistung.

- Erhaltung der eigentlichen Kernaufgaben von militärischen Kräften, d. h. die Verteidigung des Staatsgebietes und dessen Staatsvolkes unter Waffeneinsatz. Kostspielige Waffensysteme sollten jedoch in der Staatengemeinschaft an einzelne Länder bzw. Ländergruppen "vergeben" werden können (Luft, Marine, Logistik etc.).

- Schaffung der politischen und völkerrechtlichen Voraussetzungen für neu aufzustellende, europäische Krisenreaktionskräfte in enger Kooperation mit der NATO.

Über den Beitrag

Der überwiegende Teil der Beitragsserie entstand in den Jahren 2010 bis 2013 als "laufendes Werk", da der Autor vor allem nach seiner persönlichen Erfahrung in Georgien im Jahre 2008 Zweifel an der richtigen, westlichen Beurteilung der Kapazitäten der russischen Armee hatte. Die nur oberflächige Stabilität des Balkans, erlebt als Military Assistant 1 (MA1) des Kommandanten von EUFOR (COM EUFOR) in den Jahren 2011/12, fügte sich als weiterer Baustein in das Gesamtbild ein. Unabhängig von der aktuellen Ukraine-Krise ergab sich für den Autor in seiner Funktion als operativer Planungsoffizier des BMLVS bereits nach dem "Arabischen Frühling" in Nordafrika und den Umbrüchen im Nahen Osten ein eher düsteres Bild für die Sicherheitslage Europas. 2012 und 2013 wurde diese Meinung noch nicht von vielen geteilt. 2014 und 2015 bestätigte sich jedoch dieses Lagebild durch die tatsächlichen Ereignisse.


Autor: Oberst Helmut Anzeletti, Jahrgang 1958. 1977 Einjährig-Freiwilliger beim Panzerbataillon 10, 1980 Vorbereitungssemester Theresianische Militärakademie, 1983 Ausmusterung Jahrgang "Erzherzog Karl", 1983 bis 1986 Kommandant Panzerzug im Panzerbataillon 33 (PzB33), 1987 bis 1989 Kraftfahr-/Technischer Offizier im PzB33, 1990 bis 1996 Kommandant Lehrstab II an der Panzertruppenschule (PzTS), 1998 bis 2003 Kommandant Lehrgruppe 5/PzTS, seit 2009 Referent Einsatzplanung in der Sektion IV im BMLVS; Auslandseinsätze: 1978/79 Kommandant Observation Post UNFICYP, 1987 Stellvertretender Kompaniekommandant UNFICYP, 1997 Stellvertretender Kompaniekommandant bei IFOR, 2000/2001 Militärbeobachter bei UNIKOM, 2004 Militärbeobachter bei UNOMIG, 2005 bis 2008 G4 Senior Planning Officer bei SHIRBRIG, 2008/2009 Liaison Officer bei UNOMIG, 2011/2012 Military Assistant 1 des Kommandanten von EUFOR "Althea".

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