Brief des Psychologischen Dienstes an alle Mitarbeiter des Verteidigungsressorts
Um die Herausforderungen der kommenden Tage und Wochen besser zu meistern, wendet sich Christian Langer, der Leiter des Psychologischen Dienstes im Bundesheer, an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter:
Was derzeit geschieht
Werte Soldatinnen und Soldaten, werte Bedienstete des Verteidigungsressorts, geschätzte Kameraden der Miliz!
Was vor wenigen Wochen für die meisten von uns überhaupt nicht vorstellbar war, ist mittlerweile fast zum Alltag geworden. Wir sind einer Form der Bedrohung ausgesetzt, die für die meisten von uns unmittelbar nicht sichtbar, spürbar, fühlbar oder greifbar ist.
Noch nie war die Verantwortungszuschreibung an jeden einzelnen von uns so groß. Jeder kann unmittelbar zum Kampf gegen diese Bedrohung beitragen, jeder kann aber auch durch Nichteinhaltung der Verhaltensempfehlungen sich und andere gefährden. Dabei ist nicht nur der Kamerad im Einsatz gemeint, nicht nur der Kollege oder die Kollegin im selben Büro, nicht nur das eigene Kind oder der Partner zu Hause, sondern zum Beispiel auch die eigene Oma oder der Opa, die bekanntlich je nach Alter und Gesundheitszustand zur Risikogruppe gehören.
Es gibt derzeit eine Fülle an Verhaltensempfehlungen, die einerseits als wirksame Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus veröffentlicht werden, und uns andererseits darin unterstützen sollen, ein wenig Normalität in den Alltag zu bringen.
Maßnahmen wie die Ausgangsbeschränkungen oder etwa das "Social Distancing" verlangen uns zum Teil massive Anpassungsleistungen ab, um neue Abläufe, neue Regeln des Umganges, neue Grenzen zu definieren und zu leben. Dabei ist es fast vorprogrammiert, dass es zu Missverständnissen, zu Unklarheiten, zu Reibereien und fallweise zu Konflikten kommt.
Aus der Psychologie ist bekannt, dass solche gravierenden Änderungen einem zeitlichen Prozess unterliegen. Von Auslandseinsätzen wissen wir, dass nach der Entsendung in den Einsatzraum eine Orientierungsphase erlebt wird, auf die herkömmlich eine Stabilisierungs- und dann eine Durchhaltephase folgt. Jede dieser Phasen ist von unterschiedlichen psychologischen Phänomenen begleitet, die sich in bestimmten Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen widerspiegeln.
Am Anfang fordert die neue Situation, die Furcht vor dem Unbekannten, das Ungewohnte aber auch die Fülle an Informationen soviel an persönlichen Ressourcen ab, dass die massiven Veränderungen durch die Einschränkungen nicht bewusst wahrgenommen werden.
Unser Blick ist dann sehr stark auf den nächsten Schritt gerichtet, auf die nächste Information, auf die nächsten Empfehlungen, die nächsten Vorschreibungen, auf die nächste Gelegenheit, unseren Alltag wieder kontrollierbar, vorhersehbar und erreichbar zu machen. Dies ist oftmals eine Strategie, um mit dem Gefühl der Unsicherheit und der Ungewissheit besser umzugehen.
Erst bei Einkehr der neuen Normalität, des neuen "Alltags", werden die Auswirkungen im Hier und Jetzt bewusst und führen zu unterschiedlichen Reaktionen.
Viele Menschen berichten, dass sie zurzeit ein Gefühl der Entfremdung haben, ein Defizit in der Beziehung zur eigenen Umwelt. Das Ausmaß des Konsums der digitalen und sozialen Medien als Ersatz für die fehlenden physischen Kontakte nimmt massiv zu, andererseits steigt im gleichen Maße das Misstrauen. Menschen wird auf der Straße und im Geschäft ausgewichen, Türschnallen werden nicht angegriffen, Geländer werden ausgespart, beim Einkaufen werden Handschuhe getragen.
Dem Wunsch nach Nähe, nach Kontakt, nach physischer Resonanz mit den Mitmenschen steht das "Social Distancing" gegenüber – ein purer Widerspruch und Irritation. Die meisten von uns nehmen das Virus nicht direkt wahr und die meisten von uns kennen keine infizierten Menschen persönlich. Und dennoch soll der physische Kontakt gemieden werden.
Die Frage, die sich daraus stellen lässt ist, wie sich denn die Menschen nach Wochen in der Durchhaltephase verhalten werden. Streben die einen wieder nach Verfügbarkeit, nach Steuerung und Kontrolle im Sinne des alten "Hamsterrades", oder nützen die anderen diese Entschleunigung, um die Aufmerksamkeit auf sich selbst und ihr Umfeld zu richten?
Aus der Notfallpsychologie ist bekannt, dass es nach einem traumatischen Erlebnis zwei unterschiedliche Verarbeitungsmechanismen gibt. Der eine besagt, dass Menschen versuchen, an das vorherige Leben, die vorherigen Grundsätze und Glaubenssätze, wieder anzuknüpfen. Der andere hat zum Inhalt, dass das Erlebnis etwas Neues entstehen lassen kann, neue Glaubenssätze, neue Annahmen, neue Überzeugungen.
Der Psychologische Dienst des Verteidigungsministeriums hat es sich zur Aufgabe gemacht, in den kommenden Wochen der Flut an fast nicht mehr überschaubaren psychologischen Empfehlungen und Ratschlägen zu trotzen und zu einer Entschleunigung beizutragen.
Neue Serie
Wir wollen mit Ihnen aus unseren Erfahrungen und der jeweiligen Situationsentwicklung heraus jeden Freitag und Montag unterschiedliche psychologische Aspekte beleuchten. Diese Aspekte sollen nicht, wie in der Krisenkommunikation üblich, den herkömmlichen Appellcharakter haben, sondern wir wollen Ihnen dazu auch nachvollziehbare Erklärungen näherbringen. Mit der Einkehr der Stabilisierungs- und Durchhaltephase ist uns wichtig, dass die Sinnhaftigkeit, die Verstehbarkeit und die Handhabbarkeit der psychologischen Maßnahmen gegeben sind, um diesem "unsichtbaren Feind" wirksam entgegenzutreten.
Als ersten Aspekt möchten wir das "in Kontakt bleiben" erörtern, zumal gerade dieses Grundbedürfnis derzeit über alle Menschen hinweg eine massive Veränderung erfährt.
Als Anregung darf an dieser Stelle allen Leitern und Kommandanten jener Mitarbeiter, die infiziert zu Hause oder im Spital sind oder aber unter Quarantäne gestellt wurden, mitgegeben werden, dass ein Kontakthalten mit diesen Personen äußerst wichtig ist.
Als zweiten Aspekt möchten wir uns dann dem Thema "Ungewissheit" widmen.
Natürlich stehen allen Bediensteten des Ressorts die zahlreichen Unterstützungs- und Betreuungsleistungen des Psychologischen Dienstes zur Verfügung. Entsprechend der derzeitigen Erlass- und Befehlslage, aber auch in Entsprechung der nationalen und internationalen Handhabe von psychosozialen Einrichtungen (Rotes Kreuz etc.), können zurzeit grundsätzlich keine psychologischen Beratungen, Betreuungen und Behandlungen persönlich beziehungsweise direkt vor Ort durchgeführt werden.
Es ist aber jedenfalls möglich, bei psychologischen Anliegen eine telefonische Unterstützung zu erhalten.
Die psychologische Betreuung mit den telefonischen Erreichbarkeiten der genannten Militärpsychologinnen und Militärpsychologen können Sie über Ihre Dienststellen in Erfahrung bringen. Andererseits darf die Aufmerksamkeit auch auf die klinischen Psychologen in den Sanitätszentren, auf die Militärpsychologen im Heerespersonalamt, in den Akademien und Ämtern aber auch auf das 24 Stunden zur Verfügung stehende HelpLine Service gerichtet werden.
Ich darf Ihnen für die nächsten Tage und Wochen alles Gute wünschen, gutes Gelingen für all Ihre Vorhaben und bleiben Sie gesund!
Ihr Christian Langer, Leiter des Psychologischen Dienstes