Bundesheer Bundesheer Hoheitszeichen

Bundesheer auf Twitter

Die strategische Lage zum Jahreswechsel

von Lothar Rühl

Kurzfassung

◄ Der Fall des "Vaters der pakistanischen Atombombe" Khadeer Khan hat nachdrücklich gezeigt, dass Proliferation auch allen Fehlschlägen zum Trotz, Saddam Hussein den Besitz von Massenvernichtungsmitteln nachzuweisen, mittelfristig ein beherrschendes Thema der internationalen Beziehungen sein wird, zumal auch Berührungspunkte zwischen Proliferateuren und Angehörigen von Terrororganisationen nicht a priori ausgeschlossen werden können.

Libyens offener Verzicht auf ein Nuklearprogramm bedeutet nicht, dass der Nichtverbreitungsvertrag NPT nicht hoffnungslos aushöhlt wäre. Dies zeigt nicht zuletzt Teherans verheimlichte Schwellenfähigkeit, die den Iran in den Status einer Regionalmacht hievt, der allerdings auch gefährlich sein kann, weil er Israel auf den Plan rufen könnte. Wesentlich gefährlicher als die iranischen Bestrebungen sind aber Nordkoreas Atompläne, die das Land im Schatten des Irakkrieges verfolgte.

Neben der nachhaltigen Beschädigung der transatlantischen Beziehungen erwies sich die amerikanische Politik im Irak als ungeeignet, das Land zu befrieden. Als besonders schwer wiegend erwiesen sich die Vernachlässigung der Munitions- und Sprengstoffsicherung sowie die Auflösung der irakischen Armee als potenzieller Ordnungsmacht. Zudem kalkulierte Verteidigungsminister Rumsfeld eine viel zu geringe Zahl von Soldaten für den Übergang vom Feldzug zur Besatzung.

In Summe traten alle Vorhersagen und Warnungen an die Adresse Washingtons vor dem Kriegsbeginn 2003 vor einer Überdehnung der US-Truppenpräsenz am Golf und in Afghanistan im Falle der Notwendigkeit eines längeren militärischen Engagements zur Stabilisierung der Nachkriegssituation und der Sicherung des westlichen Einflusses auf die politischen Entwicklungen im Laufe des Jahres 2004 ein. Der politisch motivierte Abbruch der Offensiven gegen Falludscha und andere Zentren kurz vor deren erfolgreichen Abschluss sollte der irakischen Übergangsregierung Prestigegewinn durch Vermittlung verschaffen, ließ aber bloß zwei Dutzend Städte in die Hände "Aufständischer" fallen.

Ebenso wenig ermutigend war die Lageentwicklung in Afghanistan, wo zwar Karzai die Präsidentenwahlen für sich entscheiden konnte, im Großteil des Landes aber nach wie vor Warlords das Sagen haben. Die internationale Friedenstruppe ISAF kann im Kampf gegen Mohnanbau und Rauschgiftherstellung nichts erreichen, und auch die US-Spezialtruppen sind gegen Taliban und Al Qaida im Grenzgebiet zu Pakistan erfolglos. ►


Volltextversion

Die strategische Lage zum Jahreswechsel

Die Ereignisse des Jahres 2004 verdeutlichten in der Weiterentwicklung derer des Golfkriegsjahres 2003 die Risiken der amerikanischen Strategien im "Krieg gegen den Terror" und die Hindernisse für eine tragfähige politische Nachkriegsstabilisierung im Mittleren Osten wie in Südwestasien.

Proliferation: unkalkulierbares Risiko

Das Problem der Weiterverbreitung von Kernwaffen, das Präsident Bush seit Beginn seiner Regierung mit dem Irak Saddam Husseins als dem gefährlichsten "Proliferateur" gleichgesetzt hatte, obwohl die Kernwaffen- und Raketenrüstung des kommunistischen Nordkorea ohne Zweifel für Amerika selbst wie für die verbündeten Schutzklienten im Fernen Osten ungleich kritischer ist, blieb unbewältigt: Die im Irak vermuteten und trotz angestrengter Suche auch nach anderthalb Jahren nicht aufgespürten "Massenvernichtungsmittel" (ABC-Waffen) stellen vom benachbarten Iran über Pakistan und Indien bis nach Korea und Brasilien, das nukleare Machtambitionen zu erkennen gibt, das unverändert größte internationale Sicherheitsproblem in einer mittelfristigen Perspektive der nächsten zehn bis 15 Jahre dar. Zwar nehmen sich die Proportionen des nuklearen Risikos, selbst in Verbindung mit Terrorismus für Anschläge mit Kernsprengladungen, wie sie von der Regierung Bush als die größte Bedrohung dargestellt werden, neben den pandemischen Risiken völkermordender Seuchen über Ozeane und Kontinente hinweg noch als begrenzt aus, somit nicht als existenzielle Gefahr für große und bevölkerungsstarke Länder wie die USA, Russland, China oder Indien. Doch allein schon die - in Amerika weithin gehegte - Vorstellung von einer kleinen Atombombe der "Hiroshima-Klasse" mit bis zu 60 Kilotonnen Explosivkraft bei starkem Radioaktivitätsausfall, die in New York, Chicago oder Los Angeles explodiert, also vom Regierungssitz Washington ganz abgesehen, bezeichnet einen Katastrophenfall mit Zehntausenden, möglicherweise - je nach den örtlichen und momentanen Umständen - von hunderttausend oder mehr Opfern mit bisher nur schwer einschätzbaren Langzeitfolgen. (Dabei ist allerdings daran zu erinnern, dass die beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 in den beiden japanischen Städten deutlich weniger Opfer verursachten als zuvor die massiven japanischen Luftangriffe mit konventionellen Bomben auf Schanghai im japanisch-chinesischen Krieg mit mehr als 300.000 Todesopfern.) Hinter der Katastrophen-Vorstellung, die im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf suggestiv, wenngleich vage thematisiert wurde (v.a. von Bush selber), steht eine rational begründete, auf faktischen Daten beruhende Wahrscheinlichkeitsrechnung: Es ist seit langem technisch möglich, solche Bomben zu bauen. Pakistanische und ex-sowjetische Nuklearphysiker, Ingenieure und Techniker bilden ein Expertenreservoir, aus dem mit Geld geschöpft werden kann. Die physikalischen Prinzipien und technischen Anleitungen zum Bau und Funktionieren von einfachen Atombomben sind weltweit seit langem bekannt. Das spaltbare Material ist kommerziell auf dem grenzenlosen internationalen Schwarzmarkt käuflich zu erwerben.

Der Fall des "Vaters der pakistanischen Atombombe", die zugleich die erste "islamische" ist, Khadeer Khan, eines offenkundig politisch nicht angreifbaren, schon darum vom Militärdiktator und Präsidenten, General Pervez Musharraf, dem Verbündeten der USA im "Kampf gegen den Terror", unbehelligt gelassenen Nationalhelden seines Landes war im Jahre 2004 nach wenigstens zehnjährigen geheimen Proliferationsaktivitäten zwischen Pakistan, Nordkorea, Iran und Libyen der erste deutliche Hinweis auf die weit gespannten Netze der verdeckten Proliferation nach den ersten Atomversuchen Pakistans und Indiens 1998 und dem etwa Mitte der 90er-Jahre erkannten nordkoreanischen Atomrüstungsprogramm. Pakistan war wie Indien (und Israel) dem Kernwaffensperrvertrag NPT gegen die Weiterverbreitung nuklearer Rüstungen damals noch nicht beigetreten.

Die geheime Proliferation fand nach den bisherigen Erkenntnissen nur zwischen Staaten statt, obwohl 2003-2004 etwa 15 pakistanische Nuklearphysiker und Ingenieure amtlich verdächtigt wurden, geheime Kontakte zu privaten Interessenten nuklearer Technologie gehabt zu haben: Eine Verbindung zu Terroristen islamischer Geheimorganisationen über den in Afghanistan seit den 80er-Jahren mit den islamischen Mudschaheddin gegen die Sowjetbesetzung und die Kommunisten verbündeten militärischen Nachrichtendienst Pakistans, der auch den Widerstand gegen die Sowjetarmee und das Kabuler Regime mit amerikanischen Waffen versorgte und der CIA Kontakte in Afghanistan verschaffte (darunter mit dem jungen Araber Osama bin Laden), muss deshalb als möglich erscheinen.

Auf dem Waffenbasar am Golf in Katar, Bahrein und Dubai, auf dem der pakistanische Professor und Direktor der Kernforschung Khadeer Khan schon seit den 80er-Jahren mit nuklearer Technologie handelte, sind arabische Käufer seit je im Geschäft, zumeist mit saudischem Geld und Mitteln aus frommen Spenden für islamische Stiftungen. Auch ehemals sowjetische Nuklearspezialisten haben dort seit zehn Jahren ihre Expertise angeboten, und spaltbares Material ist aus der ehemaligen Sowjetunion im Handel.

Die nukleare Sicherheit ist deshalb seit gut einem Jahrzehnt nicht mehr gegen geheime Proliferation gewährleistet. Es dürfte deshalb nur eine Frage der Zeit sein, wann kaufkräftige Terroristen im Orient oder in Südamerika in den Besitz nuklearer Sprengladungen oder sogar einsatzfähiger Waffen (Bomben und Raketenköpfe) kommen. Die Sorge vor "nuklearem Terror" durch Geheimbünde, besonders islamischer im Mittleren Osten, ist darum nicht unbegründet. Damit stellt sich allen Ländern das Risiko nuklearer Anschläge in Bevölkerungszentren, besonders in Hafenstädten, so lange der Schiffscontainer-Transport weiter so unvollkommen überwacht und die Ladungen so oberflächlich geprüft werden wie bisher: 95% aller in Häfen der USA angelandeten Container wurden auch 2004 nach amtlichen Angaben weder in Übersee noch bei Ankunft in Amerika kontrolliert. Das Gleiche gilt für Europa. Ein unberechenbares Risiko bleibt bestehen.

Der Verzicht Muammar al Ghadafis auf die libyschen Rüstungsprogramme für nukleare und chemische Waffen 2003 nach geheimen Vorverhandlungen mit Washington und London noch vor dem Irakkrieg vom März 2003 legte weitere Verbindungen offen. Was Saddam Hussein seit etwa Mitte der 80er-Jahre im Irak versucht hatte, die Herstellung einsatzfähiger Atomwaffen, chemischer Artilleriemunition und Bomben für eine strategische Drohfähigkeit gegen benachbarte Länder, künftig auch mit Raketen, die solche Ladungen über größere Distanzen tragen können, hatten Ghadafi in Libyen und die kommunistische Diktatur in Nordkorea etwa zur selben Zeit als Programme in Angriff genommen und beharrlich als ihre strategischen Rüstungsziele verfolgt. Dass der amerikanische Druck mit der Strategie des "dual containment" oder der "doppelten Eindämmung" irakischer und iranischer Atomrüstung und Machtexpansion seit dem Golfkrieg von 1990/91 schließlich auf Libyen gewirkt hat, ist nach der Aufgabe der unkonventionellen Rüstungsprogramme durch Ghadafi 2003 offensichtlich. Ob dabei das Risiko eines amerikanischen Präventiv- oder Präemptions-Schlages je nach der amerikanischen Bedrohungsperzeption im kritischen Moment bei Fortsetzung der geheimen, aber in Washington seit langem erkannten libyschen Rüstung für Ghadafi den Ausschlag gab oder eher Konfrontationsmüdigkeit und die Hoffnung auf vorteilhafte Beziehungen zu den USA und insgesamt zum Westen, ist eine offene Frage. Jedenfalls waren die geheimen Verhandlungen mit Washington und London schon zum Erfolg gediehen, bevor Amerikaner und Briten gegen den Irak losschlugen; immerhin konnte die Erwartung eines Angriffs auf den Irak oder auch eines israelischen Präventivschlags nach dem Vorbild von 1981 Ghadafi bewegt haben, mit den Anglo-Amerikanern abzuschließen und seine geheimen Waffenprogramme offen zu legen, das Material auszuliefern und einen neuen Anfang zu machen. Das Einlenken in der Terrorfrage zuvor deutet auf eine längere Vorlaufzeit hin.

Aber Libyen hatte wie Nordkorea und Iran den internationalen Kernwaffensperrvertrag NPT über längere Zeit nicht eingehalten. Darum war dieser Vertrag, gerade um den Zeitpunkt Mitte der 90er-Jahre, zu dem er definitiv festgeschrieben wurde, an seinen Flanken schon durchlöchert wie ein Sieb. Das internationale Kontrollorgan, das die Vertragseinhaltung zu verifizieren hat, die IAEA in Wien, ist nur fähig zu Inspektionen und technischen Prüfungen im Rahmen der "Safeguard"-Abkommen mit jedem einzelnen Vertragsstaat, nicht aber zur Durchsetzung der Vertragseinhaltung. Die Zwangsgewalt liegt nicht bei der Regulierungs- und Aufsichtsbehörde, sondern im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen und damit letztlich bei den fünf mit Veto-Recht ausgestatteten Großmächten auf den ständigen Sitzen, die der UNO im Ernstfall ihren starken Arm leihen müssen, um Sanktionen nicht nur anzudrohen, sondern auch wahr zu machen und eventuell militärisch durch Blockade eines Landes oder sogar Intervention durchzusetzen, was im Namen der UNO für den NPT bisher noch niemals geschehen ist.

Die IAEA ihrerseits sieht einen negativen Bericht über ein Land an den UNO-Sicherheitsrat als ihre "Ultima Ratio" an und scheut die offene Konfrontation, um sich nicht selber zu neutralisieren, vermeidet deshalb so lange wie irgend möglich die Feststellung einer Vertragsverletzung und also den internationalen Krisenfall. Dies zeigte sich nach der Dauerkrise seit 1993-1994 mit Nordkorea und dem Unvermögen, vor dem zweiten Golfkrieg von 1990-1991 das verdeckte irakische Atomrüstungsprogramm zu erkennen, 2003-2004 abermals im Iran.

Der Fall Iran wiegt ähnlich schwer wie der Fall Nordkorea oder der 1991 vom Krieg abgebrochene und seither unvollendet gebliebene Fall Irak und die vor den ersten Atomversuchen 1998 nicht entdeckten Fälle Indien und Pakistan: In allen fünf Fällen handelt es sich um Versuche, mit Hilfe von Atomwaffen und Raketen kriegsentscheidende strategische Regionalmacht zu schaffen, um den eigenen politischen Forderungen Rückhalt zu geben und fremde Mächte von Eingriffen in Regionalkonflikte abzuschrecken, indem deren Verbündete oder Schutzklienten direkt bedroht werden könnten.

Alle fünf Fälle weisen bei unterschiedlichem Verhältnis der Proliferateure zum Kernwaffensperrvertrag NPT (Indien und Pakistan hatten den NPT nicht gezeichnet, Nordkorea, Iran und Irak sind oder waren Vertragsstaaten) ein gemeinsames Merkmal auf: Kernwaffenprogramme in regionalen Konfliktlagen, also konkretere politisch-strategische Zwecke als bloßes internationales "Statussymbol-Streben" nach Kernwaffen oder allgemeine Machtrivalität zu anderen Staaten.

Es ist in diesem Kontext von hohem Interesse, dass der gefangene Saddam Hussein in amerikanischen Händen nach dem "Duelfer-Report" der CIA von 2004 an den Senat über die abgeschlossene Suche nach "Massenvernichtungsmitteln" im Irak immer wieder vom Iran als der größten Bedrohung des Irak sprach, weniger von Israel, dem erklärten Feind, an dessen Nuklear- und Raketen-Bewaffnung mit regionaler Reichweite kein Zweifel besteht und den Saddam 1991 im Golfkrieg mit Raketen hatte angreifen lassen, während mehr als 100 irakische Kampfflugzeuge in den Iran in Sicherheit gebracht worden waren (wo sie seither geblieben sind).

Ebenso unzweifelhaft ist es, dass seit Beginn der 80er-Jahre ein gegenseitiges Bedrohungs-Dreieck zwischen Irak, Iran und Israel als drei Feinden bestand, in das auch Syrien mit Libanon (wo Teheran aktiv über die islamistische Partei Hisbollah engagiert ist), Jordanien und Saudi-Arabien einbezogen waren. Die Türkei war im Süden Anatoliens von diesem Dreiecks-Feindverhältnis direkt tangiert und über die kurdische Rebellion für einen unabhängigen kurdischen Staat, "das freie Kurdistan", ebenso betroffen wie der Irak und Iran. Nukleare Proliferation und chemische Kampfstoffe im Irak und im Iran waren deshalb ein regionales Sicherheitsproblem für den türkischen wie für den israelischen Verbündeten Amerikas.

Das Risiko eines Krieges mit atomaren und chemischen Waffen im Mittleren Osten konnte nach dem irakisch-iranischen Krieg von 1980-1988 bis zum zweiten Golfkrieg 1991, in dem die irakischen Rüstungsanlagen weithin zerstört und die irakische Luftwaffe kritisch geschwächt wurde, nicht ausgeschlossen werden. 2003-2004 stellte die beharrliche Weigerung Teherans, die zunächst verheimlichte, spätere von der IAEA dank der US-Satellitenaufklärung erkannte und danach an Spuren in den iranischen atomtechnischen Anlagen nachgewiesene Schwellenfähigkeit zur Herstellung eines nuklearen Rüstungspotenzials durch Urananreicherung im Rahmen des erklärten zivilen Kernenergieprogramms, ohne Vorbehalte aufzugeben, die Frage nach den strategischen Absichten Teherans: Iran mit seinen großen Erdölvorräten braucht vorläufig keine Kernenergie zur Elektrizitätsversorgung.

Angesichts des entwaffneten irakischen Nachbarn, der für die absehbare Zukunft keine Bedrohung mehr sein konnte, einer gegenüber dem Iran stets rücksichtsvollen Türkei ohne eigene Nuklear-Rüstung und eines in nuklearen Angelegenheiten kooperativen, allerdings nuklearwaffenfähigen Pakistans, schließlich eines nicht nuklear bewaffneten und militärisch nicht angriffsfähigen Saudi-Arabiens jenseits des Golfs blieb nur eine schlüssige Antwort: eine nukleare Rüstungsoption als Basis einer iranischen Regionalmachtstellung gegenüber allen Nachbarn mit der strategischen Fähigkeit, Konflikte am Golf zu entscheiden und als islamische Macht Israel mit Kernwaffen zu bedrohen, jedenfalls in einer Beziehung gegenseitiger Abschreckung Paroli bieten zu können - eine Wiederholung der Bagdader Politik der Vergangenheit durch Teheran in der Zukunft.

Eine solche nukleare Option ist allerdings für Iran auch ein hohes Risiko gegenüber Israel, das die "Operation Samara" gegen den irakischen Atomreaktor von 1981 auch gegen iranische Anlagen wiederholen könnte, um diese zu zerstören. Teheran machte sich deshalb 2004 mit seinem Beharren auf dem "souveränen Recht, einen vollständigen Kreislauf spaltbaren Materials" inklusive der Urananreicherung zu haben, auch von einem zügelnden und mäßigenden Einfluss der USA auf Israel in einer Krise abhängig. Drohposen gegenüber Israel sind nach den historischen Erfahrungen äußerst riskant und schaffen durch ihren Provokationseffekt eine instabile Lage zum Nachteil des militärisch nach operativen Fähigkeiten Schwächeren, wie Ägypten, Syrien, Jordanien, Libanon in vier Nahostkriegen und der Irak durch den israelischen Bombenangriff von 1981 auf den Atommeiler von Samarra erfahren mussten.

Für die USA, die seit Jahren, schon unter Clinton, den Iran als einen potenziellen nuklearen Proliferateur angesehen und versucht hatten, den kerntechnischen Export aus Russland in den Iran zu unterbinden, war auf George Bushs "axis of evil", der vorgestellten "Achse des Bösen" Bagdad-Teheran-Pjöngjang, eine neue potenzielle Herausforderung der internationalen Sicherheit und der Stabilität der strategischen Rüstungskontrolle auf der Basis des Kernwaffensperrvertrags entstanden. Nachdem aber das politische und ein großer Teil des militärischen Pulvers im Irak verschossen worden war, fand die Weltmacht USA sich in einem Dilemma der Paradoxa zunächst handlungsunfähig wieder: Nach dem präventiven Interventionskrieg gegen den Irak standen 2004, auf dem Tiefpunkt der US-Besetzung des Irak und Höhepunkt des Guerillakampfes, weder eingreiffähige US-Truppenreserven noch Verbündete für eine internationale Koalition zur militärischen Intervention zur Verfügung. Zugleich wiederholte sich die Lage im Vergleich zum bekennenden und drohenden Nuklear-Proliferateur Nordkorea: Wie 2002-2003 blieb das politisch aggressive Regime in Pjöngjang, das die USA und die internationale Staatengemeinschaft offen herausforderte, internationale Aufmerksamkeit in einer "Sechs-Mächte-Verhandlung" mit drei Großmächten (USA, China, Russland) heischte und seit zehn Jahren eine Politik der Erpressung durch Drohung mit nuklearer Rüstung betrieb, wahrscheinlich 2004 schon mehrere nukleare Sprengladungen besaß, in ungestörter Sicherheit im Schatten des Mittleren Ostens.

Der "Krieg gegen den Terror" und seine Folgen

Für die Weltmacht USA war und bleibt diese globale Situation weit nachteiliger, als es die provozierende, aber nach der Niederlage in Kuwait im zweiten Golfkrieg defensiv eingeschlossene Gewaltherrschaft Saddam Husseins in Bagdad war, von der 1992 der nachmalige israelische Regierungschef General Ehud Barak als Stabschef der Streitkräfte meinte, solange Saddam in Bagdad an der Macht wäre, befände Israel sich in einer relativ komfortablen Lage inmitten seiner feindlichen Nachbarn bei gesichertem Einfluss in Washington für seine eigenen Interessen an amerikanischer Rüstungshilfe und strategischer Abdeckung im Konflikt. Anderthalb Jahre nach dem "Ende der militärischen Hauptkampfhandlungen", das Bush zum 1. Mai 2003 verkündet hatte, war im Herbst 2004 unbestreitbar geworden, dass der Interventionskrieg nicht nur unnötig, jedenfalls voreilig, gewesen war, sondern auch kontraproduktiv für die Stellung der USA im Mittleren Osten und für ihre globale Handlungsfreiheit, während die Regionalmächte Türkei, Israel, Saudi-Arabien und Iran, die ihre eigenen Interessen defensiv ohne aktive Konfliktbeteiligung wahrgenommen hatten, im Washingtoner Kalkül ein größeres Gewicht hatten als vor dem Krieg, weil die USA nach dem Ende des erfolgreichen Feldzugs im Irak mehr als zuvor auf internationale, vor allem aber auch auf regionale Unterstützung angewiesen waren.

Die "Willigen" und die "Unwilligen"

Die Krise in der atlantischen Allianz mit den westeuropäischen Verweigerungen, v.a. Frankreichs und Deutschlands, später Spaniens nach dem Madrider Terroranschlag vom 11. März 2004, und der sich in Großbritannien, schließlich auch in Polen und Italien regenden Opposition gegen die Fortsetzung der militärischen Beteiligung an der Nachkriegsbesetzung des Irak ohne klare Aussicht auf einen erfolgversprechenden Abschluss in politischer Stabilität des Landes und der Region stärkten die Positionen der regionalen Staaten des Mittleren Ostens gegenüber der externen Vormacht Amerika, der es unmöglich war und ist, ihre politischen Vorstellungen über eine Neuordnung des Nahen und Mittleren Osten gegen Opposition durchzusetzen oder auch nur nähere politische Ziele dort über Hindernisse hinweg zu erreichen.

Die Verhärtung der Haltung Israels in Palästina gegenüber den Arabern mit dem offensichtlichen Ziel Ariel Scharons, die Verhandlungen faktisch durch einseitigen Rückzug aus dem Gaza-Streifen mit Aufgabe der ohnehin unhaltbaren jüdischen Siedlungen dort und von vier kleineren Siedlungen im Westjordanland zu beenden, die Trennungslinien in Palästina durch einen Schutzwall zu sichern und die militärische Kontrolle über den größten Teil Palästinas zu behalten, bedeuteten eine einseitige politische Umwidmung der "Road Map" für den Weg zu einem Friedensabkommen mit gegenseitigen Konzessionen zu einer faktischen Arrondierung Israels durch Befestigung des territorialen Status quo nach dem Junikrieg von 1967 bei einigen Korrekturen.

Der relative Erfolg Scharons in der Knesset Ende Oktober 2004 mit Hilfe der oppositionellen Arbeiterpartei für parlamentarische Zustimmung zu diesem in Israel umstrittenen, aber anscheinend von einer satten Mehrheit der israelischen Bevölkerung gut geheißenen Plan, der auf eine definitive Teilung Palästinas in zwei Staaten entlang einer von Israel einseitig gezogenen Trennungslinie als internationale Grenze bei Eingemeindung des größten Teils des besiedlungsfähigen Umfelds von Jerusalem in Israel und ohne Teilung der Stadt mit den Arabern unter palästinensischer Souveränität hinausläuft, mochte vorläufig dem Risiko des Scheiterns am erbitterten Widerstand der jüdischen Siedler auf arabischem Boden (Scharons bisherige politische Verbündete) wie dem der radikalen arabischen Nationalisten und der Islamisten in Palästina ausgesetzt sein. Doch dieser Plan ist in sich schlüssig und basiert auf der Realität der vollendeten Tatsachen. Er öffnet deshalb eine Perspektive des bewaffneten Friedens, zunächst mit der Fortdauer der gegenseitigen Belagerung zwischen Israel und dem arabischen Teil Palästinas, und erlaubt es, die Streitfrage nach dem Status von Jerusalem auf der Basis der miteinander unvereinbaren Forderungen beider Kontrahenten international offen zu halten, ohne die israelische Position zu schwächen; er lässt künftige Kompromisse über Gebietsaustausch zu. Zunächst öffnete der Tod Jassir Arafats am 11. November 2004 eine neue Perspektive - "ein historischer Moment", wie Scharon sagte. Diese Chance zu nutzen, setzte allerdings ein aktives Engagement der USA voraus.

Auch Scharons unvollkommener Frieden konnte Amerika politisch entlasten, allerdings um den Preis des Verzichts auf eine internationale Friedensregelung und der Abdankung als "Ordnungsmacht" im Nahen Osten mit der Folge eines weiteren Verlusts an Ansehen und Einfluss. Diese politische Begrenzung und Abwertung der "strategischen Hegemonie" der USA über die Nahostregion auf der Basis der überlegenen amerikanischen Militärmacht im Bündnis mit Israel fand am Golf ihre Entsprechung in der Begrenzung der amerikanischen Vormachtstellung auf die maritime Peripherie außerhalb Saudi-Arabiens und - trotz des Bündnisses in der NATO - auch außerhalb der Türkei bei Schwächung der Besatzungsposition im Irak durch den fortdauernden und sich noch steigernden Widerstand bei Zunahme eines barbarischen Terrorismus in Verbindung mit einem halb politischen, halb kriminellen Banditentum. Diese Entwicklung relativierte die politischen Erfolge der Einsetzung einer irakischen Übergangsregierung zur Jahresmitte 2004, dem formalen "Ende der Besetzung", und der Festsetzung eines Wahltermins für 2005. Die Befriedung und staatliche Festigung waren vor allem deshalb und wegen der Hindernisse in der irakischen Bevölkerung, dazu wegen der Serie amerikanischer Fehler im Umgang mit dem Irak von Anfang an, Ende 2004 noch immer weit außer Sichtweite.

Die Versteifung der iranischen Haltung in der Kernenergiefrage im Jahre 2004 nach den diplomatischen Kompromissangeboten der europäischen Partner, vertreten durch die britisch-deutsch-französische Außenminister-"Troika", und die sich ausbreitende Einflussnahme Teherans im schiitischen Teil des Irak im Laufe des Jahres 2004 mit noch undeutlichem politischen Terraingewinn waren weitere Zeichen für den politischen Einflussverlust Washingtons in seiner militärischen Bindung im Irak als Besatzungsmacht auch nach der Übergabe der öffentlichen Gewalt an eine provisorische Regierung. Weit entfernt von einer "imperialen" Autorität oder einer politisch wirksamen Hegemonie über den Orient, die niemals in der Reichweite Washingtons lag, befand Amerika sich in einer vielseitigen und vielschichtigen Zwangslage, in der militärische Überlegenheit nicht mehr den Ausschlag geben konnte.

Der Glaubwürdigkeitsverlust der Regierung Bush, aber auch der USA als Staat wegen der widerlegten ursprünglichen Kriegsgründe - "Massenvernichtungsmittel" und "Verbindung zum Terror der Al Qaida" - und des nachgeschobenen Kriegsgrundes "Beseitigung der Gewaltherrschaft Saddam Husseins", der für sich allein nicht überzeugte, weil andere Gewaltherrschaften mit Aggressionspotenzial wie Nordkorea nicht Ziele eines amerikanischen Präventivschlags oder Interventionskrieges geworden waren, erschwerten die Lösung der amerikanischen Politik aus dieser Zwangslage. Die Autorität Washingtons war getroffen, wie das Ansehen der USA lädiert. Der internationale Kredit Amerikas, das politische Kapital der Weltmacht, war 2004 im Irak nahezu verbraucht.

Die Delegitimierung des Interventionskrieges von Anfang an, auch durch einige europäische Verbündete der USA, wie Frankreich und Deutschland, die weit verbreitete Opposition gegen diesen Krieg in Europa mit ihren politischen Folgen, die weiterwirkten wie der Krieg im Nachkrieg, trugen dazu wesentlich bei. Doch wenn die Nachkriegsaktion im Irak politisch so erfolgreich gewesen wäre wie zuvor der Feldzug mit dem schnellen militärischen Sieg über die weit unterlegene irakische Armee (und wie man es in Washington 2003 erwartet hatte), dann wären das Legitimitätsdefizit und die Glaubwürdigkeitslücke Amerikas verschwunden wie die politische Opposition im Orient und in Europa: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg, solange er dauert. Aber nichts schädlicher als der Misserfolg, solange dieser anhält.

In diesem kritischen Punkt jeder strategischen oder politischen Unternehmung bestätigten sich im Verlauf des Jahres 2004 die schon im Sommer 2003 deutlich sichtbar gewordenen Schwächen der USA als Besatzungs- und Ordnungsmacht. Die Fehler und Unterlassungen seit den ersten Tagen des April 2003 nach der Besetzung Bagdads summierten sich zu einer stetig und rapide anwachsenden Verlustrechnung der amerikanischen Politik, wenngleich auch Erfolge zu bilanzieren sind: Obwohl in jedem Monat etwa 2.000 verschiedene Gewaltakte und Zusammenstöße die allgemeine Sicherheit störten und den Aufbau des Landes hemmten, die Befriedung verzögerten, die Kosten für die Unternehmung Irak in die Höhe trieben (bis über 120 Mrd. USD im Jahre 2004) und nach amtlichen US-Angaben von Ende Oktober 2004 (Lagebericht des militärischen Nachrichtendienstes DIA an den Verteidigungsminister) rund 50 verschiedene Untergrundgruppen mit bis zu 12.000 Aktivisten, darunter nicht mehr als 3.000 ausländische Terroristen, einen dezentralisierten Widerstand gegen die Besatzung organisierten, waren gut drei Viertel des Irak im Großen und Ganzen ruhig, obwohl die Grenzen, besonders zu Syrien und zum Iran, durchlässig geblieben sind und die Infiltration von Agenten, Terroristen, Waffen (soweit im Irak gebraucht) und Propagandamaterial sich 2004 ausweitete.

Nur nützten diese regionalen Erfolge weder den USA und ihrer "internationalen Koalition" noch der von dieser eingesetzten irakischen "Übergangsregierung", die immerhin auf der Grundlage eines Abkommens zwischen den religiösen Autoritäten, den Stämmen und den Repräsentanten der Bevölkerungsgruppen zustande gekommen war. Doch für die große Mehrheit der Iraker war "das Ende der Besetzung", das am 30. Juni verkündet wurde, auch Ende des Jahres noch immer nur ein Schein wie die "Souveränität des Irak" und dessen Eigentum an dem irakischen Erdöl, das vor allem Objekt konstanter Sabotage blieb, sodass die Erdölförderung auch anderthalb Jahre nach Kriegsende noch immer nicht den Vorkriegsstand vom Februar 2003, 2,5 Mio. Fass pro Tag, erreicht hatte - nicht mehr als ein gutes Drittel der potenziellen Förderkapazität von bis zu etwa sechs Mio. Fass am Tag bei intakten Anlagen und ohne Störungen.

Die Amerikaner hatten im März 2003 mit der Wiederaufnahme des Ölexports im vollen Vorkriegsumfang schon ab Jahresmitte 2003 gerechnet und auf dieser Basis den Finanzbedarf für Neuinvestitionen und allgemein für die Erneuerung der maroden Wirtschaft des Irak kalkuliert, die von den internationalen Sanktionen und dem Raubbau am Material bei allgemeiner Vernachlässigung über lange Zeit wie an den Ressourcen als Reaktion auf die tiefen Einschnitte durch die Sanktionspolitik getroffen war. Nach neuer Expertenschätzung im Jahre 2004 ist für das Förderziel sechs Mio. Fass am Tag eine Investition von etwa 25 Mrd. USD nötig.(Fußnote 1/FN1) Die USA hatten Ende Oktober 2004 von den bewilligten 18 Mrd. USD für den Wiederaufbau im Irak nur eine Milliarde ausgegeben.

Der Krieg hatte keine neuen Zerstörungen am Erdölkomplex und an den meisten Anlagen der Elektrizitätserzeugung hinzugefügt. Die rasche Besetzung der Anlagen bei Kriegsbeginn sollte die Erdölförderung sichern. Die um sich greifende Sabotage ab Sommer 2003 machte den militärischen Anfangserfolg nicht nur für die Ölindustrie, sondern auch für die Wasser- und Stromversorgung wie für die sanitären Einrichtungen unter dem Druck der Sommerhitze zunichte. Die Elektrizitätswerke und Hochspannungsleitungen wurden früh in der "Nachkriegszeit" Ziele der Sabotage und blieben es über das ganze Jahr 2004; dies umso leichter, da sie nicht von Anfang an gesichert worden waren und die US-Ziviladministration unter Botschafter Bremer den kapitalen Fehler beging, wie in allen Behörden und Diensten das leitende Personal nicht weiter zu beschäftigen bzw. zurückzuholen und in Dollar zu bezahlen.

Der krasse Stromversorgungsmangel war eine der materiellen Hauptursachen für die verzögerte Normalisierung nach Kriegsende und das größte Hemmnis für die Wiederaufnahme wirtschaftlicher Aktivitäten in größerem Umfang. Schon bald hatte US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz im Frühjahr 2003 bei einem Besuch in Bagdad den kritischen, nahezu fatalen Kausalzusammenhang aufgezeigt: Sicherheit gleich Elektrizität.

Zwar verbesserte sich die Versorgungslage vom Herbst 2003 auf den Herbst 2004, aber zugleich verschlechterte sich die Sicherheitslage erheblich, weil die Guerilla sich zum Widerstand in zahlreichen örtlichen Gruppen verschiedener Zusammensetzung, Zielsetzungen und Motivationen ohne eine zentrale Leitung organisierte, dadurch in Deckung blieb und wenig Angriffsflächen für präventive Aktionen der Besatzungsmacht bot.

Die Koalitionskräfte hatten keinen identifizierten Feind vor sich, und auch der von den Amerikanern als Hauptfeindfigur ausgemachte Jordanier al-Zarqawi, ein bekannter, mit Al Qaida liierter, aber unabhängig operierender Terrorist, kontrollierte 2003-2004 keineswegs "den Aufstand" oder "den Widerstand". Einen einheitlichen Aufstand und Widerstand gab es im Irak ebenso wenig wie gegen Israels Besatzung im Autonomiegebiet Palästinas oder in Afghanistan.

Eine der fatalen Unterlassungen der ersten Wochen neben der Zulassung der Plünderungen war die Vernachlässigung der Munitions- und Sprengstoffsicherung: Etwa 300.000-350.000 Tonnen lagen im Irak, davon große Mengen in 22 größeren Depots, die erst später gesichert wurden. Als die IAEA 2004 den Diebstahl von fast 380 Tonnen hochwertigen und besonders starken Sprengstoffs, darunter auch für Atomzünder geeignetes Material, aus einem unbewachten Depot im Süden Bagdads bemerkte, beschwichtigte der Sprecher des Präsidenten in Washington die amerikanische Öffentlichkeit Ende Oktober auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes mit der Erklärung, die US-Truppen hätten "mehr als 243.000 Granaten und Sprengladungen zerstört und noch weitere 163.000" in Besitz, die zerstört würden.

Diese Bilanz konnte nur das Munitionsdebakel im Irak unter US-Besatzung ohne US-Kontrolle bestätigen, denn die meisten Einzelmunitionen wiegen Kilos, nicht Tonnen. IAEA-Generaldirektor Mohammad El-Baradei meldete den Verlust der kritischen 370 bis 380 Tonnen im Oktober offiziell dem UNO-Sicherheitsrat, nachdem die IAEA auf Fotos ihre gebrochenen Siegel an Bunkereingängen gesehen hatte. Doch der Munitionsreichtum der Aufständischen im Irak war von Anfang an bekannt, wofür es viele Hinweise gab. Er ist ihr Hauptvorteil und die Quelle der konstanten Vermehrung der Sprengstoffanschläge und Feuerüberfälle im Irak seit Sommer 2003, vor allem aber vom Frühjahr 2004 an. Auch die Nachlässigkeit der US-Soldaten bei der Munitionssicherung ist seit langem dokumentiert wie das Desinteresse des US-Verteidigungsministeriums an der Sicherstellung der Munition im Irak.

Die Öffentlichkeit und die Politiker Amerikas wachten erst im Wahlkampf des Herbstes auf, als die US-Militärs sich im "sunnitischen Dreieck" westlich und nördlich Bagdads mit einem immer härteren und aggressiveren Widerstand konfrontiert sahen und die Verluste weiter anstiegen. Immerhin bedeuten rund 1.400 bei Überfällen, in Gefechten oder durch Unfälle getötete US-Soldaten Ende September 2004 nach Feldzugsende im Mai 2003 bezogen auf die US-Besatzungsstärke von 138.000 im Herbst 2004 nur etwa ein Prozent tödliche Verluste, in einer derartigen Situation keine militärisch ins Gewicht fallende Rate. Aber der Besetzungszweck und die Wirksamkeit der Truppenpräsenz standen in Frage, nachdem die Kämpfe um die Hochburg der Aufständischen in der 350.000 Einwohner zählenden Stadt Falludscha, die im Mai nach mehrwöchigen Gefechten durch den vereinbarten Rückzug der US-Truppen an den Stadtrand abgebrochen worden waren, um einer zivilen Verwaltung Raum zu geben, im Herbst wieder aufgenommen werden mussten, damit die Stadt rechtzeitig vor den Wahlen wieder unter Regierungskontrolle gebracht werden konnte.

In einem Jahr vom Herbst 2003 auf Herbst 2004 stieg auch die Zahl der "Aufständischen" ("insurgents" in der US-Militärterminologie) von 3.000-4.000 auf ungefähr 8.000 mit dem weiteren Mantel von bis zu 12.000, die Helfer und gelegentlichen Mitwirkenden eingeschlossen.

Inzwischen hatten die Amerikaner auch ihre ersten Fehler eingestanden, was die Behandlung der Iraker angeht: die unzweckmäßige und tatsächlich politisch schädliche, für die Sicherheit der US-Truppen selber kritische Auflösung der irakischen Armee mit etwa 350.000 Soldaten ohne Sold, obwohl genug Geld da war, um diesen Leuten eine finanzielle Existenzgrundlage und eine positive Perspektive im "neuen Irak" zu bieten.

Die Überlegung, man könne wie 1945 in Deutschland oder in Japan verfahren und sich Zeit für den staatlichen Neubau in Phasen lassen, zuvor aber nach dem "Entnazifizierungs"-Vorbild in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands eine - von Bremer so genannte - "Entbaathisierung", also die Entfernung aller Mitglieder der ehemaligen Staats- und Einheitspartei Baath, Saddam Husseins Machtbasis, aus dem öffentlichen Dienst und den Leitstellen der staatlich dirigierten Wirtschaft über Monate hinweg durchziehen, war eine verfehlte Gleichsetzung ungleicher Situationen und Epochen: Amerika hatte von vornherein im Irak keine Zeit und dazu noch viel zu wenige Soldaten für eine Besetzung längerer Dauer und gegen sich aufbauenden gewaltsamen Widerstand.

Für den Aufbau der neuen Armee hatte man im Irak 2003 zwei bis drei Jahre vorgesehen, was militärtechnisch und zur gründlichen Ausbildung der Truppenführer auf allen Ebenen auch vernünftig war.

Aber die Zeit lief der Besatzungsmacht von Anfang an davon: Wieder bestätigte sich die Erfahrung, dass die innere Eskalationsdynamik einer Krise oder eines Konflikts sich rapide entwickelt und der äußeren oder der fremden Kontrolle im Lande entzieht, wenn die Intervention von außen nicht mit überwältigender Macht, dies bedeutet für die Besetzung eines Landes mit massiver Truppenstärke und hochgradiger Beweglichkeit, durchgeführt wird und eine Allgegenwärtigkeit der Besatzungstruppen wenigstens in den kritischen Zonen und an allen taktisch wichtigen Punkten oder Objekten zur Lagekontrolle sichergestellt ist.

In diesem springenden Punkt wirkte der Irrtum des ersten Tages, den US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld beging, sich als Krisenmultiplikator aus: 230.000-240.000 alliierte Soldaten, davon anfangs 180.000 Amerikaner, waren zu wenig für den Übergang vom Feldzug zur Besatzung. Dabei war deren Reduzierung für Juli 2003 vorgesehen, die bis auf etwa 135.000 US-Soldaten auch ausgeführt wurde.

Dies wäre ohne Sicherheitsverlust nur möglich gewesen, wenn andere Alliierte eingesprungen wären. Das wiederum hätte zwischen 50.000 und 100.000 Mann NATO-Truppen nötig gemacht, um die im Dezember 2003 die amerikanischen Minister Powell und Rumsfeld in Brüssel auch baten: ein türkisches Korps, wie schon im Herbst 2002 von Ankara erbeten, und ein alliiertes Korps aus Europa. Aber abgesehen vom europäischen Widerwillen, die NATO militärisch im Irak aktiv zu engagieren und Besatzungsaufgaben zu übernehmen, abgesehen von der Verweigerung in Paris und Berlin, später auch in Madrid, setzte der wachsende Truppenbedarf in Afghanistan jeder alliierten Truppenpräsenz im Irak enge Grenzen: Auch für Afghanistan sahen die hohen alliierten Militärs schon früh im Jahre 2003 einen Bedarf von bis zu 50.000 NATO-Soldaten neben den 12.000-18.000 dort eingesetzten US-Amerikanern vor.

Alle Vorhersagen und Warnungen an die Adresse Washington vor dem Kriegsbeginn 2003 über eine Überdehnung der US-Truppenpräsenz am Golf und in Afghanistan im Falle der Notwendigkeit eines längeren militärischen Engagements zur Stabilisierung der Nachkriegssituationen und des westlichen Einflusses auf die politischen Entwicklungen, zur Abschirmung gegen feindselige Einwirkungen und zur Ausbreitung von Sicherheit bestätigten sich im Laufe des Jahres 2004.

Die amerikanischen Fehler und die Unterschätzung der Schwierigkeiten nach Ende der Feldzüge in Washington sind weder im Irak noch in Afghanistan die einzigen Ursachen der negativen Lageveränderungen. Objektive Hindernisse liegen jeder ausländischen Intervention und jeder fremden Machtpräsenz in beiden Ländern im Wege. Im Irak ist es die Kombination von Gegensätzen, die unvermeidliche Zielkonflikte für Politik, Strategie und Taktik jeder fremden Macht, aber auch jeder eigenen Regierung oder Parteienkoalition schafft: Die auf Selbstständigkeit, jedenfalls auf eine quasi-souveräne regionale Autonomie mit eigenen Institutionen, eigener Verteidigung und Sicherheitskräften, aber auch auf Mitregierung in Bagdad drängenden Kurden im Nordirak, die zudem jede türkische Mitwirkung ablehnen, die schiitische Bevölkerungsmehrheit von etwa 60 Prozent, die nach jahrzehntelanger Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung durch die sunnitische Minderheit nicht nur auf regionale Autonomie, sondern auf Regierungsgewalt in einer Demokratie, jedenfalls auf einem maßgebenden, richtungweisenden politischen Einfluss im Lande beharrt, und die Sunniten, deren Stämme im Irak Saddam Husseins politisch und ökonomisch privilegiert wurden, wenngleich in der allgemeinen Unterdrückung, aber jedenfalls als Kollektive insgesamt besser behandelt oder weniger benachteiligt als Kurden und Schiiten, und die seit dem Sturz des Regimes um ihren Platz im Irak fürchten, keine politische Perspektive ohne Wiedergewinn ihrer Macht sehen und Revanche an den Amerikanern für die Niederlage üben wollen. All dies war nach 1920-1922 im britisch kontrollierten Irak der sunnitischen Haschemiten-Monarchie nicht anders.

Der Machtkampf unter den politischen Rivalen im noch ungesammelten Lager der Schiiten um die "Heiligen Städte" im Süden Bagdads und im schiitischen Massenelends-Quartier von "Sadr City" in der Hauptstadt wird verdeckt geführt im Namen des Glaubens und der Nation als Freiheits- und Unabhängigkeitskrieg gegen die fremde Besatzungsmacht. Aber die Amerikaner sind nur der Katalysator und der Feind, an dem man sich als Gruppe messen, dem gegenüber man seine Identität als "nationale" und als "islamische" Kraft ausprägen, gegen den man agitieren kann. Hinter diesem Bühnenspiel steht der Machtkampf um die besseren Ausgangspositionen, die bessere Startlinie für den kommenden Wahlkampf im Januar oder Frühjahr 2005 (wenn die Umstände dies erlauben). Hier suchte im April und wieder im Sommer der Pseudo-Mullah Muktada al-Sadr, Sohn eines von Saddam Hussein ermordeten angesehenen Ayatollahs, mit Aufstandsparolen, islamisch-nationalem Pathos seiner Appelle und mit der Besetzung von Moscheen als Schwerpunkte seines Widerstands in Kerbala und Kufa, Nadschaf und Bagdad seine Chance.

Die Fehler der US-Militärs, vor allem der politisch motivierte Abbruch der Offensive in Falludscha kurz vor deren erfolgreichem Abschluss im Frühjahr 2004, um einen "strategischen Vorteil" (Generalleutnant Metz) mit einem "taktischen Rückzug" zu gewinnen, tatsächlich aber, um den irakischen Politikern freie Hand für eine Profilierung als "Vermittler" zu den Rebellen und Terroristen vor der Übernahme der Regierungsverantwortung (ohne Verantwortung für die öffentliche Sicherheit) zu lassen, steigerte im Misserfolg dieser politischen Operation über den Sommer und Herbst 2004 Terror und Rebellion. Falludscha, Rahmahdi, Samara und andere Städte fielen in die Hand "Aufständischer", nicht unter die Kontrolle der Übergangsregierung. Nach der Wiederwahl des Präsidenten Bush im November musste auch im Irak die Stunde der Wahrheit schlagen, wenn im Jahre 2005 eine Verfassunggebende Nationalversammlung gewählt und von dieser eine neue provisorische Regierung der Nationalen Einheit gebildet werden soll.

Die Frage islamischer Staatsgewalt wurde und wird weiterhin v.a. von den schiitischen Geistlichen gestellt, aber auch von sunnitischen. Auf diese Entscheidung hatte der US-Zivilverwalter Bremer entscheidenden Einfluss nehmen wollen: Washington hatte schon 2003 öffentlich gewarnt, die USA würden keinerlei religiöse Herrschaft über den Irak zulassen, sondern an dem säkularen Staat wie an der Staatseinheit ohne territoriale Abspaltungen festhalten. Dieses Ziel war Ende 2004 vor den ersten allgemeinen und freien Wahlen im Irak, die im Januar 2005 stattfinden sollen, nur noch im Konsens mit der schiitischen Geistlichkeit zu erreichen, aber nicht durch ein amerikanisches Machtwort: Die Besatzungsmacht hatte längst die Kontrolle über den von ihr angestoßenen politischen Prozess verloren. Nach dem Sturz Saddam Husseins konnte Gewalt keine politischen Ziele mehr erreichen. Wegen der grassierenden Unsicherheit, die sie nicht unterdrücken konnte, war die militärische Gewalt der Koalition auch nicht mehr ausreichend, um politische Entwicklungen durchzusetzen, obwohl nötig, um verlorenes Terrain wie in Falludscha wiederzugewinnen.

Dies hatte sich im Kampf gegen den radikalen Schiitenführer Muktada al Sadr in Nadschaf, Kufa und Kerbala, aber auch im Bagdader Armenquartier "Sadr-City" gezeigt: Al Sadr konnte über Monate Widerstand leisten und die USA provozieren, obwohl die höhere Geistlichkeit nicht hinter ihm stand und er seine Gewalt gegen die Amerikaner als Mittel benutzte, um sich politisch in Szene zu setzen, seinen Machtanspruch mit Gewalt und radikalen Parolen zu stärken und so mit der Parole "gegen die Besatzung, für den Islam und den Irak" Wahlen zu gewinnen. Dabei war Amerika vom Initiator und Akteur zum Katalysator eines politischen Klärungs- und Machtverteilungsvorgangs geworden, auf den es keine bestimmende Einwirkung mehr hatte. Ob die irakischen Wahlen überhaupt Sinn machten und welche Folgen sie im Irak haben würden, war dabei nicht mehr abzusehen. Mit schweren Wahlbehinderungen und abschreckender Gewalt gegenüber der UNO und anderen internationalen Organisationen, die zur Wahldurchführung gebraucht wurden, war zu rechnen.

In diesem Punkte lag eine mehrdeutige Verbindung zu Afghanistan. Auch dort wurden 2004 vermehrt Ausländer und internationale Helfer Ziel von Gewalttaten. Immerhin war die Lage wie die Aufgabe der internationalen Präsenz in Afghanistan, insbesondere der Sicherungstruppe ISAF unter NATO-Führung, besser als die der Koalitionstruppen, vor allem der amerikanischen, im Irak.

Es war darum - von den politischen Hinderungsgründen für direkte und aktive NATO-Mitwirkung im Irak ganz abgesehen - verständlich, warum die Alliierten Amerikas Irak zu meiden und ihre militärischen Beiträge zur internationalen Sicherheit außerhalb Europas zunächst auf Afghanistan zu konzentrieren suchten.

Aber insgesamt war die Entwicklung in Afghanistan 2003-2004 keineswegs überwiegend positiv, obwohl die Präsidentenwahlen zum Erfolg für den Übergangspräsidenten und internationalen Kandidaten Hamid Karzai wurden, wie es auch trotz großer Widerstände im Lande gegen die Person Karzais und gegen die Aussicht auf eine politische Regierungsautorität in Kabul zu erwarten gewesen war. Doch eben diese Autorität war in ihrer Wirkung noch immer auf den engeren Raum um Kabul beschränkt. Die Stammesfürsten und Clanchefs, die wie eh und je die Macht in ihren Gebieten ausüben und von denen die meisten sowohl mit dem Taliban-Regime als auch mit Al Qaida zumindest zeitweilig in begrenzten Stillhalteabkommen für Machtverteilung paktiert hatten, haben seit dem Interventionskrieg vom Herbst/Winter 2001-2002 ihre Stellung eher gefestigt als durch Entwaffnung ihrer Privatarmeen und Entgegenkommen an den Präsidenten Karzai abgebaut. Ihre Macht beruht seit je nicht nur auf den Stammes- und Clan-Loyalitäten und der Rekrutierung von Truppen unter ihrem Befehl, die sie traditionell zu mehr oder weniger selbstständigen Warlords gemacht haben, sondern auch auf ihrem Großgrundbesitz und der Verpachtung des nutzbaren Landes an von ihnen abhängige Bauern, die sie seit Jahren zum Mohnanbau für Opiumgewinnung anhalten, und auf ihrer Kontrolle des Rauschgifthandels, der den Waffenhandel und ihren persönlichen Reichtum in ihren Burgen finanziert wie ihre Auslandskonten füllt.

Zwar wurden alte Waffen wie vereinbart abgegeben oder zerstört, doch lief im Jahre 2004 der Waffennachschub über die Grenzen weiter. Das Geld für die Bewaffnung wie für die Sicherung der politischen Position der Provinzfürsten im Hinblick auf künftige Wahlen erwächst aus dem Mohnanbau und der Drogengewinnung, die sich seit dem Ende des Taliban-Regimes verdreifacht haben: Afghanistan ist wieder größter Heroin- und Opium-Exporteur der Welt mit einem Anteil von wenigstens 80% am internationalen Aufkommen, soweit es erfasst ist. Die ISAF kann den Kampf gegen Mohnanbau und Rauschgiftherstellung nicht wirklich aufnehmen, da sie wie die gesamte internationale Präsenz auf den guten Willen der Stammes- und Clanführer angewiesen ist.

Eine fremde Herrschaft, auch eine internationale der UNO, ist in Afghanistan über längere Zeit wohl noch weniger tragfähig und wirksam als im Irak und so wenig wie eines Tages im Iran oder in Pakistan, falls es im Verlauf der nächsten Jahre dazu kommen sollte.

Der bisher vergebliche Spürhund-Kampf der US-Spezialtruppen gegen die Taliban und Al Qaida im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ist, wie der Name der Unternehmung schon anzeigt, unbegrenzt: "Nachhaltige Freiheit". Wann dieses Unternehmen mit oder ohne Erfolg abgeschlossen wird, steht in den Sternen über dem Hindukusch, wo die Sicherheit Amerikas und der Welt verteidigt werden soll.

ANMERKUNG:

(Fußnote 1/FN1) Umbach, Frank: Internationale Politik, DGAP Berlin, Heft 8/2004, S.22-23.

Prof. Dr. Lothar Rühl

Staatssekretär a.D. (ehemals im Bundesverteidigungsministerium, Bonn); Professor für Internationale Beziehungen am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät; Vorstandsmitglied der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen, und des SIPRI Stockholm.



Ihre Meinung/your opinion/votre opinion: Ihre Meinung/your opinion/votre opinion
Die wesentlichen Konfliktherde 2004.
(Zum Vergrößern anklicken !)

Die wesentlichen Konfliktherde 2004.

Eigentümer und Herausgeber: Bundesministerium für Landesverteidigung | Roßauer Lände 1, 1090 Wien
Impressum | Kontakt | Datenschutz | Barrierefreiheit

Hinweisgeberstelle