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Québec - selbstbewusste frankophone Nation in Kanada zwischen föderaler Partnerschaft und Souveränität

von Martin Pabst

Kurzfassung

◄ Seit 40 Jahren ist die Québec-Frage ein Dauerthema der kanadischen Politik. Trotz vieler Ansätze ist es bisher nicht gelungen, eine für alle Seiten akzeptable Lösung für die französischsprachige Provinz auszuhandeln - innerhalb oder außerhalb des kanadischen Staatsverbandes. Als eine der vier Gründungsprovinzen Kanadas wurde Québec von der katholischen Kirche dominiert; die politische Ausrichtung war konservativ und gegen Reformen und Gewerkschaften gerichtet.

Erst in den 60er-Jahren unter der liberalen Regierung von Jean Lesage wurde die Macht der Kirche zurückgedrängt und in der Révolution tranquille (der stillen Revolution) das Land modernisiert, wobei die Schwerpunkte im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich lagen. 1968 wurde das Französische neben Englisch zur zweiten kanadischen Amtssprache erhoben. In diesen Zeitraum fiel auch die Gründung der ersten separatistischen Bewegungen Québecs, des Rassemblement pour l’Independence Nationale (RIN) und des Front pour la Libération du Québec (FLQ), der durch Terroranschläge -vergeblich - versuchte, die Unabhängigkeit Québecs zu erreichen.

Auch im demokratischen Spektrum, der Québecer Liberalen Partei, artikulierten sich nationalistische Tendenzen. 1967 trat der frühere Kabinettsminister René Lévesque aus und gründete 1968 den Parti Québecois (PQ). Kennzeichnend für den von ihm vertretenen frankophonen Nationalismus in Québec war die Linksorientierung. Zwei Referenden zur Ablösung von Kanada im Jahr 1980 und 1995 gingen verloren, Letzteres nur ganz knapp.

Die Bundesregierung unter Ministerpräsident Jean Chrétien (Liberale Partei) schlug eine veränderte Strategie ein: Das Québecer Souveränitätsstreben sollte nicht mehr durch Entgegenkommen, sondern durch ein schärferes Vorgehen des Bundesregierung eingedämmt werden. Unverhohlene Warnungen und Drohungen wurden an die Adresse Québecs gerichtet. Seit 2003 amtiert in Québec eine liberale Regierung unter Jean Charest (von 1993-98 Führer der kanadischen Progressiven Konservativen Partei). Auch sie sucht zusätzliche Rechte für Québec in Verfassungsverhandlungen durchzusetzen.

Das Fehlen eines "repressiven" Zentralstaates ist zweifellos ein Schwachpunkt der Québecer. In den letzten Jahren haben wirtschaftliche Themen die Souveränitätsfrage in den Hintergrund gerückt. Würde Québec einer Abspaltung des von Indianern und Eskimos dünn besiedelten Nordens und der mehrheitlich von Anglo-Kanadiern besiedelten Gebietsstreifen im Westen zustimmen, so wäre ein Ja für die Unabhängigkeit in einem Referendum fast sicher. Doch wäre der Verlust der nördlichen Energiereserven und des westlichen Industriepotenzials für die Wirtschaft fatal.

Unabhängig vom Ausgang eines eventuellen weiteren Unabhängigkeitsreferendums hat sich Québec als starke politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht etabliert und wird international wahrgenommen. Ob von der seit Januar 2006 amtierenden konservativen Bundesregierung unter Führung von Premierminister Stephen Harper Initiativen zu erwarten sind, ist offen. Angesichts der zahlreichen Misserfolge in der Vergangenheit scheuen alle kanadischen Politiker davor zurück, das heiße Eisen Verfassungsreform anzupacken. ►


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Québec - selbstbewusste frankophone Nation in Kanada zwischen föderaler Partnerschaft und Souveränität

Seit 40 Jahren ist die Québec-Frage ein Dauerthema der kanadischen Politik. Trotz vieler Ansätze ist es bisher nicht gelungen, eine für alle Seiten akzeptable Lösung für den französischsprachigen Bundesstaat auszuhandeln - innerhalb oder außerhalb des kanadischen Staatsverbandes.

Die Pattsituation hat vielerlei Gründe. So ist die Identität der jungen, seit 1931 (mit Ausnahme der Verfassungsgebung) unabhängigen Nation Kanada keineswegs gefestigt und wird gerade in letzter Zeit auch außerhalb Québecs durch zunehmende zentrifugale Kräfte auf die Probe gestellt. Erst 1947 erhielt Kanada eine eigene Staatsbürgerschaft, erst 1965 eine eigene Flagge, erst 1980 eine eigene Nationalhymne, erst 1982 eine vom Londoner Parlament unabhängige Verfassung - die Rechtmäßigkeit des "Heimholungsaktes" durch die Bundesregierung wird allerdings von allen seitherigen Québecer Regierungen aus prozessualen wie inhaltlichen Gründen bestritten. Eine militärische Bedrohung von außen, wie bei der Gründung des Dominions Kanada im Jahr 1867 durchaus gegeben (so führten die USA von 1812-14 Krieg gegen Kanada, noch 1935 entwickelte das U.S. Army War College den Plan einer Invasion Kanadas),(Fußnote 1/FN1) ist heute kaum vorhanden. Königin Elisabeth II. ist weiterhin kanadisches Staatsoberhaupt, doch verliert die traditionelle Orientierung an Großbritannien und Europa an Bedeutung. Neue Akteure sind die zunehmend selbstbewusst auftretenden westlichen Provinzen, die first nations (Indianer und Inuit, früher Eskimos genannt), die diversen Einwanderergruppen sowie neue soziale Bewegungen. Hinzu kommt die im Zuge von Globalisierung und Nordamerikanischer Freihandelszone (NAFTA) wachsende politische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz des großen Nachbarn USA. Der kanadische Sozialstaat verliert an Identität stiftender Wirkung. Bund und Provinzen sind sich einig über die Notwendigkeit einer umfassenden Verfassungsreform, doch konnten bislang keine Fortschritte auf diesem Weg erzielt werden. Die divergierenden Wünsche der zahlreichen Akteure (Bund, zehn Provinzen, drei Territorien unter Bundesverwaltung, Interessengruppen) blockieren sich gegenseitig.

Schließlich hat auch die Québecer Bevölkerung (über 80% frankophone Mehrheitsbevölkerung, knapp 20% anglo- und allophone Minderheiten) keine klare Vorstellung von einem künftigen Status. Einig ist sich eine große Mehrheit darin, dass Québec eine historisch gewachsene, gelebte Sonderstellung besitzt und daher eine Status-erhöhung legitim und von der Politik umzusetzen ist. Zwei Drittel der Einwohner bezeichnen sich heute als "Québecer", nur noch ein Viertel als "Franko-Kanadier", gut 10% als "Kanadier".(FN2) Die vielfältigen Konzepte reichen von einem reformierten Föderalismus über asymmetrischen Föderalismus, Souveränität-Assoziation, Souveränität in lockerem Verbund mit Kanada, der Neugründung einer Konföderation zweier souveräner Partnernationen, der Umwandlung Kanadas in einen Staatenbund vergleichbar der EU bis hin zur völligen Unabhängigkeit Québecs. Strategien der Verwirklichung sind einvernehmliche bilaterale Aushandlung, einseitige Erklärung oder auch gezielte Erosion der kanadischen Staatlichkeit.

Dabei sind die Grenzen durchaus fließend: Manche Vorstellungen nationalbewusster Vertreter der Québecer Liberalen Partei unterscheiden sich beispielsweise nicht wesentlich von denen gemäßigter Vertreter der nationalistischen Parti Québécois (PQ). Québec ist die einzige Region außerhalb Europas, in der das Französische die Muttersprache des überwiegenden Teiles der Bevölkerung ist, und die große Mehrheit der Québecer ist sich darin einig, dass die politischen Kompetenzen hinreichend gestärkt werden müssen, damit Kultur und Identität von mehr als sechs Mio. Frankophonen in einem komplett anglophonen Umfeld dauerhaft gesichert sind.

Das Québecer Souveränitätsstreben - mit negativem Unterton von englischsprachigen Kanadiern häufig als "Separatismus" bezeichnet - vollzieht sich seit den 1970er-Jahren in demokratischen, verfassungsmäßigen Bahnen. In den 1960er-Jahren war allerdings zu befürchten, dass sich die frankophone Provinz zu einem "kanadischen Nordirland" entwickelt: Radikale Gruppierungen griffen zu terroristischen Gewaltakten. Die große Mehrheit der Québecer Bevölkerung distanzierte sich allerdings von der eskalierenden Gewalt. Auch war es das Verdienst von René Lévesque, die Souveränitätsbewegung in demokratische Bahnen zu lenken und mit der 1968 gegründeten Parti Québécois (PQ) eine politikfähige Alternative zu präsentieren, die sich in Québec unabhängig von der Souveränitätsfrage als die zweite politische Kraft neben der Québecer Liberalen Partei dauerhaft etabliert hat.

Geschichtlicher Hintergrund

Die Sonderstellung Québecs geht auf die Kolonialgeschichte zurück.(FN3) Von 1534-1763 war "Neufrankreich" französische Kolonie. Es war das erste nordamerikanische Gebiet, das von europäischen Einwanderern (viele von ihnen aus der Normandie und der Bretagne) besiedelt wurde, und reichte ursprünglich bis nach Louisiana. Der Begriff "Kanada" wurde damals von den französischsprachigen Kolonisten als Bezeichnung für das französische Siedlungsgebiet geprägt und war vom indianischen "Kanata" (Dorfgemeinschaft) abgeleitet - heute bezeichnen sich in erster Linie die Englischsprachigen als "Kanadier".(FN4) Nach der Niederlage im weltweit geführten Siebenjährigen Krieg musste Frankreich 1763 den Rest seines nordamerikanischen Kolonialreiches an Großbritannien abtreten; nur die Atlantikinseln St. Pierre und Miquelon blieben bis heute französisch.

Während die frankophonen Acadier 1755 aus dem seit 1713 britischen Neuschottland deportiert und zerstreut worden waren, durften 1763 die über 60.000 Québecer in ihrer Heimat bleiben. Im "Québec-Akt" erkannte London 1774 die territoriale Integrität Québecs und die besonderen Rechte der französischsprachigen Einwohner an (französische Sprache, französisches Zivilrecht, katholische Konfession und Schulen).

Die Geschichte Kanadas weist Parallelen zu derjenigen Südafrikas auf. Auch dort kam eine europäischstämmige Bevölkerung nach einer militärischen Niederlage des Mutterlandes unter die Herrschaft einer anderen Kolonialmacht mit unterschiedlicher Sprache und Religion: 1806/14 wurde die niederländische Kapkolonie im Zuge der Napoleonischen Kriege britisch. Die kalvinistischen, niederländischsprachigen Siedler ("Buren") lebten fortan unter britischer Herrschaft, die ihnen den Gebrauch ihrer Sprache und die Ausübung ihrer kalvinistischen Religion zubilligte. Sowohl in Kanada wie in Südafrika wurde später versucht, ein bikulturelles britisches Dominion, später eine bikulturelle Nation auf der Grundlage zweier aus Europa stammender Bevölkerungsgruppen aufzubauen. Hier wie dort wurden die nichtweißen Einwohner (Indianer, Métis, d.h. Mestizen, und Inuit in Kanada bzw. - hier zahlenmäßig in der Mehrheit - Schwarze, Kapmischlinge und Asiaten in Südafrika) lange Zeit nicht als konstitutiv angesehen und diskriminiert. Sowohl in Britisch-Kanada wie in Britisch-Südafrika kam es trotz rechtlicher Garantien der Kolonialmacht zur faktischen Benachteiligung der nichtenglischsprachigen Siedler: Politisch, ökonomisch und kulturell dominierte die eng mit dem Mutterland verbundene englischsprachige, anglikanische Elite.

Doch gab es wesentliche Unterschiede, die die Geschichte in Kanada und Südafrika sehr unterschiedlich verlaufen ließen. Erstens blieben die Buren in Südafrika trotz eifriger Ansiedlung von Briten gegenüber den Anglo-Südafrikanern mit ca. 60:35% (bezogen auf die aus Europa stammende Bevölkerung) in der Mehrheit. Hingegen bilden die frankophonen Kanadier landesweit traditionell eine Minderheit (heute bezogen auf Gesamtkanada ca. 22% aller Einwohner); auf dem Territorium der Provinz Québec sind sie mit über 80% in der klaren Mehrheit. Zweitens brachen die Verbindungen der Buren zum niederländischen Mutterland im Lauf des 19. Jahrhunderts ab. Die Buren sahen sich als neues afrikanisches Volk europäischer Herkunft; ihr Niederländisch entwickelte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zur eigenständigen Sprache Afrikaans weiter. Die frankophonen Kanadier blieben hingegen ein Teil der französischen Sprach- und Kulturgemeinschaft; ihr Französisch weist allerdings Besonderheiten auf (Regionalismen und Archaismen). Schließlich hatte die abweichende Konfession unterschiedliche politische Konsequenzen. Der Kalvinismus der Buren wurde zum wesentlichen Motor für die Entstehung einer antibritischen Nationalbewegung. Er postulierte ein Widerstandsrecht gegen eine ungerechte Obrigkeit, und Vorstellungen eines "von Gott auserwählten Volkes" flossen in nationalistische Programme ein, die die Vorherrschaft der Buren in einem kalvinistisch geprägten Südafrika propagierten. 1948 gewann die antibritische burische Nationalpartei in Südafrika die Parlamentswahl, brach 1961 die letzten Bande zur britischen Krone ab (Austritt aus dem Commonwealth of Nations, Republikgründung) und dominierte bis zur lange hinausgezögerten Einbeziehung der schwarzen Mehrheitsbevölkerung in das demokratische System (1994) die Politik des Landes - auch auf Kosten der englischsprachigen weißen Bevölkerung. Hingegen lehnte der konservative Québecer Katholizismus die Idee der Volkssouveränität ab und postulierte eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Er erkannte die Herrschaft der britischen Krone ausdrücklich an und predigte Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Im Gegenzug garantierte die britische Krone die jahrhundertelange dominierende Stellung der katholischen Kirche im Schul- und Gesundheitswesen, im öffentlichen Leben von Québec.

Im Gegensatz zu den Buren galten die "Franko-Kanadier" nach dem niedergeschlagenen Aufstand der radikalen "Patrioten" (1837/38) lange Zeit als treue Untertanen der britischen Krone. Die katholische Kirche propagierte als Ideal ein frommes Leben auf dem Land und hielt ihre Mitglieder nicht zu unternehmerischer Tätigkeit an. Handel, Banken- und Transportwesen in Québec wurden von der englischsprachigen Minderheit dominiert, die auch die gesellschaftliche Elite bildete. Verkehrs- und Geschäftssprache in der Wirtschaftsmetropole Montréal war bis in die 1960er-Jahre Englisch. Frankophone Québecer taten sich allein auf Grund unzureichender Englischkenntnisse schwer, in einem solchen Milieu aufzusteigen, und wenn ihnen dieser Schritt gelang, bezahlten sie ihn häufig mit kultureller Assimilation.

In den 1950er-Jahren regte sich unter jungen frankophonen Québecern Widerstand gegen die klerikal-konservative Regierung von Maurice Duplessis (Führer der Québecer Nationalunion; Premierminister von 1936-1939 und 1944-1959). Beeinflusst vom Vorbild der USA strebten die Reformer nach mehr Demokratie und mehr individueller Freiheit in Québec. Außerdem regte sich Widerstand gegen die anglophone Dominanz in Wirtschaft und Kultur. Die klerikal-konservative Ordnung wurde nicht nur als Hindernis für die Emanzipation der frankophonen Québecer, sondern auch als langfristige Gefahr für das Überleben der französischen Sprache und Kultur in einer sich rasch wandelnden Welt gesehen. Die von Premierminister Jean Lesage (1960-66; Québecer Liberale Partei) tatkräftig geförderte Revolution tranquille (stille Revolution) modernisierte Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur Québecs und verdrängte die katholische Kirche aus ihrer dominierenden Position. Das zündende Schlagwort der Reformer lautete Maître chez nous (Herr im eigenen Haus). Hydro-Québec wurde verstaatlicht und legte mit der Erschließung der riesigen Energiereserven die Grundlage für eine durchgreifende Industrialisierung. Frankophone Québecer machten der anglophonen Wirtschaftselite erfolgreich Konkurrenz, und Québec entwickelte sich von einer ländlich geprägten Provinz zu einem Industrie- und Technologiezentrum. Eines von vielen Erfolgsbeispielen war Laurent Beaudoin, der Mitte der 1960er-Jahre den Schneepflughersteller L‘Auto-Neige Bombardier Limitée seines Schwiegervaters Joseph-Armand Bombardier übernahm und erfolgreich in die Luftfahrt-, Schienenfahrzeug- und Rüstungsbranche einstieg. Heute ist das in Montréal ansässige Unternehmen Bombardier ein Weltkonzern.

Mit dem gestiegenen Einfluss wuchs das Selbstbewusstsein der frankophonen Bevölkerung in Québec, die sich zunehmend nicht mehr als "Franko-Kanadier", sondern als "Québecer" mit einer nicht nur kulturell, sondern auch territorial verorteten Identität definierte. Premierminister Lesage suchte der Bundesregierung mehr Kompetenzen im Bereich der Kultur- und Sozialpolitik, in der Steuererhebung sowie in internationalen Angelegenheiten abzuringen und setzte sich für eine Reform des zentrumslastigen kanadischen Föderalismus ein. 1961 eröffnete Québec in Paris eine erste Vertretung. Sie stieg bald zur Generaldelegation auf; diesen Rang besitzen heute weltweit sieben Repräsentanzen (Brüssel, London, Mexiko-Stadt, München, New York, Paris, Tokio). Der Pariser Generaldelegation wird von Frankreich inzwischen ein botschaftsähnlicher, direkt dem französischen Außenministerium unterstellter diplomatischer Status eingeräumt. Paris pflegt über sein Generalkonsulat in Québec-Stadt auch direkte Beziehungen mit der Québecer Regierung. Weitere Schritte auf dem Weg einer stärkeren Stellung Québecs waren die Gründung eines "Ministeriums für internationale Beziehungen" (1967), die Umwandlung des bundesstaatlichen Parlaments in Québec-Stadt zur "Nationalversammlung" (1968) und die eigenständige Mitwirkung Québecs (neben Kanada) in der neu gegründeten Francophonie (1986).

Ende der 1950er-Jahre bildeten sich erstmals politische Kräfte, die eine völlige Unabhängigkeit Québecs auf ihre Fahnen schrieben: 1957 die noch kleine, konservativ ausgerichtete Alliance laurentienne, 1960 das nach links neigende Rassemblement pour l’Indépendence Nationale (RIN). 1962 bildete sich ein Réseau de résistance (Widerstandsnetz), das zu zivilen Ungehorsamsakten aufrief. Im Jahr 1964 kam es zu wütenden Demonstrationen, als sich Königin Elisabeth II. im Rahmen ihres Kanada-Besuches auch in Québec zeigte. Militante Anhänger des Widerstandsnetzes gründeten 1963 den Front de la Libération du Québec (FLQ). Die jugendlichen Aktivisten waren vom sozialistischen Befreiungskampf in Algerien, Vietnam und Lateinamerika inspiriert, kämpften gegen das "kapitalistische Herrschaftssystem" der Anglo-Kanadier und der USA und versuchten, die frankophone Québecer Arbeiter- und Bauernschaft für ein unabhängiges, marxistisch orientiertes Québec zu gewinnen.

Auch im demokratischen Spektrum gewannen die Souveränitätsanhänger an Einfluss. In der Québecer Liberalen Partei formierte sich ein nationalistischer Flügel. 1967 trat der frühere Kabinettsminister René Lévesque aus, als der Parteikongress eine Souveränität Québecs nicht diskutieren wollte. 1968 gründete er die Parti Québécois (PQ). Kennzeichnend für den frankophonen Nationalismus in Québec ist bis heute, dass es sich um einen linksorientierten Nationalismus handelt, vergleichbar dem republikanischen, auf die Revolution von 1789 zurückgreifenden Nationalismus in Frankreich. So gilt die PQ als sozialdemokratisch und ist stark in den Gewerkschaften verwurzelt. Das rechte Spektrum deckt in Québec die Liberale Partei ab.

Öl ins Feuer goss im Juli 1967 der Besuch des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, der offenkundige Sympathien mit den Autonomiebestrebungen für "diesen Zweig des französischen Volkes" auf nordamerikanischem Boden zeigte. Demonstrativ besuchte er zuerst die Provinz Québec. Gefeiert von einer begeisterten Menge ließ er sich am 24.7. in Montréal auf einer ursprünglich nicht vorgesehenen Rede zum Ausruf: "Es lebe Montréal! Es lebe Québec! Es lebe das freie Québec! Es lebe das französische Kanada und es lebe Frankreich!" hinreißen. Der kanadische Premierminister Lester Pearson bezeichnete die Rede als unannehmbare Einmischung in die inneren Angelegenheiten Kanadas. Besonders erzürnt war die Bundesregierung über die Formulierung: "Es lebe das freie Québec!", die den Vorwurf kolonialistischer Unterdrückung durch den kanadischen Staat anklingen ließ. De Gaulle reiste daraufhin nicht, wie vorgesehen, in die kanadische Hauptstadt Ottawa weiter, sondern fuhr mit dem Kreuzer Le Colbert direkt nach Frankreich zurück. Dort äußerte er am 31.7. in einer Kabinettssitzung, dass er nicht die Souveränität Kanadas in Frage stellen, sondern lediglich die historischen Bande der Québecer mit Frankreich stärken wollte. Der Souveränitätsbewegung hatte er nichtsdestoweniger immensen Auftrieb gegeben.

Terroristisches Zwischenspiel

Im Jahr 1970 eskalierte der Terrorismus. Der FLQ hatte unabhängig voneinander operierende Untergrundzellen gegründet und zwischen 1963 und 1970 mehr als 200 Gewaltakte verübt (Bombenattentate, auch mit Todesopfern, Banküberfälle).(FN5) Einige Mitglieder wollten den bewaffneten Kampf auf die "kapitalistischen" USA ausweiten und planten angeblich sogar ein nicht durchgeführtes Attentat auf die Freiheitsstatue in New York. Einer der FLQ-Gründer war der aus Belgien stammende Kommunist Georges Schoeters, der von 1958-62 mehrfach nach Kuba und Algerien gereist war. Einige FLQ-Mitglieder erhielten bei palästinensischen Kampfgruppen in Jordanien eine Guerillaausbildung.

Am 5. Oktober 1970 entführte eine FLQ-Zelle den britischen Handelskommissar James Richard Cross, am 10.10. eine andere Zelle den Vizepremierminister von Québec, Pierre Laporte. Letzterer wurde nach einem entsprechenden Hinweis des FLQ am 17.10. erdrosselt aufgefunden. Für die Freilassung von Cross wurden sieben Bedingungen aufgestellt, darunter die Veröffentlichung des FLQ-Manifests in den Medien, die Freilassung "politischer" Gefangener und die Ausreise der Entführer nach Kuba mit einem Flugzeug. Die Freilassung von Cross wurde schließlich erfolgreich ausgehandelt. Sechs Entführer nebst Angehörigen wurden nach Kuba ausgeflogen, von wo sie sich später nach Frankreich absetzten. Ende der 1970er Jahre handelten sie mit der Québecer Regierung ihre Rückkehr aus und verbüßten dort stark verminderte Reststrafen. Die Entführer und Mörder von Laporte waren Ende 1970 in Québec gefangen genommen und zu Gefängnisstrafen zwischen acht Jahren und lebenslänglich verurteilt worden.

Die Eskalation der Gewalt schreckte die meisten Québecer ab. Trudeau verhängte - zum ersten Mal in der Geschichte Kanadas in Friedenszeiten - am 16.10. das Kriegsrecht und entsandte sieben Armeebataillone mit Panzern an strategische Punkte nach der Provinz Québec, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Im gesamten Kanada konnten Verdächtige verhaftet und ohne Anklage festgehalten werden. 455 angebliche Sympathisanten der Felquistes wurden arretiert. Die Regierung Trudeau übertrieb die drohende Gefahr und warnte vor einem drohenden Umsturz, Massenmedien griffen die ausgestreuten Informationen begierig auf und trieben ihre Berichterstattung bis zur Hysterie. Trudeau versuchte zweifelsohne die Krise auszunutzen, um die bundesstaatlichen Kompetenzen zu stärken und die demokratische Québecer Souveränitätsbewegung politisch zu diskreditieren; möglicherweise plante er, die liberale Provinzregierung unter dem Vorwand des Staatsnotstandes bis auf weiteres zu entmachten. Später räumte er ein, dass die terroristische Gefahr kleiner als vermutet gewesen sei, und bezeichnete die ergriffenen Maßnahmen als überzogen.

Trotz der massiven staatlichen Repression gelang es dem FLQ nicht, die frankophone Bevölkerung auf seine Seite zu zwingen. Die Vorstellung, dass in kurzer Frist "100.000 revolutionäre Arbeiter" die Waffen erheben würden, blieb eine Chimäre. Der FLQ verlor durch die Ereignisse des Oktober 1970 massiv an Unterstützung, auch lag seine marxistische Ausrichtung bald nicht mehr im Trend. Die Widerstandsbewegung ist seither praktisch nicht mehr existent. Ihr Abgang stärkte die demokratischen PQ von Lévesque, die sich von jeder Form von Gewalt wie auch von zivilem Ungehorsam distanzierte und durch den FLQ nicht diskreditiert wurde.

Letztlich profitierte die PQ auch ungewollt von der internationalen Publizität, die die terroristischen Aktionen erreicht hatten. Ähnlich wie damals die Anschläge auf Strommasten in Südtirol auf das offene Südtirol-Problem in Italien hinwiesen und letztlich zum Abschluss eines Autonomiepakets beitrugen, wurde die Statusfrage von Québec durch die Aufsehen erregenden FLQ-Aktionen weltweit wahrgenommen. Im restlichen Kanada mehrten sich die Stimmen, die sich für ein politisches Entgegenkommen aussprachen.

In den vergangenen Jahrzehnten kam es nur noch zu vereinzelten, isolierten Anschlägen durch Einzelgänger. So machten vor einigen Jahren Brandanschläge in Montréal auf Cafés einer kanadischen Kette mit englischem Namen und auf McDonalds-Filialen Schlagzeilen. Weit größer ist heute die Furcht vor islamistischen Terroranschlägen.

Das Fehlen eines "repressiven" Zentralstaates ist zweifellos ein Schwachpunkt der Québecer Souveränitätsbewegung - Kanada ist eine föderative Demokratie und ein gefestigter Rechtsstaat. Mutmaßliche verfassungsmäßige Benachteiligungen und die Vision der Selbstbestimmung eignen sich weniger zur Mobilisierung der eigenen Klientel, als es politische Häftlinge, zensierte Zeitungen, verbotene Parteien und offene Diskriminierung tun würden. Die Geschichte zeigt, dass erfolgreiche Unabhängigkeitserklärungen häufiger auf revolutionärem oder gewaltsamem Weg zustande kommen als im Rahmen eines demokratischen und verfassungskonformen Ablösungsprozesses.

Demokratisches Streben nach Souveränität

Im Jahr 1970 gewann die PQ sieben Sitze in der Québecer Nationalversammlung, 1973 sechs. Insbesondere bei der Jugend fand die neue Partei großen Zulauf.(FN6) Der überraschende Durchbruch kam 1976, als sie eine Mehrheit von 71 Sitzen und 41,4% der Wahlstimmen eroberte. Premier René Lévesque ließ 1977 zwei grundlegende Gesetze verabschieden, die die politischen Rahmenbedingungen in Québec grundlegend veränderten: - ein Gesetz, das die private Finanzierung politischer Parteien stark einschränkte und damit die äußere Einflussnahme, z.B. durch die anglophone Wirtschaft, stark reduzierte, und - das umstrittene Sprachengesetz 101 ("Charta der Französischen Sprache"), das Québec zur einsprachigen französischen Provinz machte (mit Sonderrechten für die anglophone Minderheit).

Das Sprachengesetz wurde auch vor dem Hintergrund der sprachlichen Diskriminierung frankophoner Kanadier in anderen Bundesstaaten erlassen, wo diesen z.B. der Besuch französischsprachiger Schulen erschwert wurde. Vom Bundesverfassungsgericht nach langem Streit 1988 für nicht grundrechtskonform erklärt, wurde es durch ein ähnliches Gesetz ersetzt und in Einzelbestimmungen je nach amtierender Québecer Regierung abgeschwächt oder ausgebaut. Auch liberale Québecer Regierungen haben bis heute an seinen grundlegenden Bestimmungen festgehalten und das Gesetz nicht außer Kraft gesetzt. Besonders umstritten sind Bestimmungen, die nichtfranzösische Werbeaufschriften verbieten bzw. Einwanderern französischsprachige Schulen zuweisen. Die von manchen befürchtete, von manchen erhoffte Abwanderung von Anglophonen setzte in der Tat ein. Bis 1987 verringerte sich deren Anteil an der Québecer Bevölkerung um ein Viertel. Einige Banken und Firmen zogen nach Toronto ab, doch wurde Montréal als Wirtschaftsstandort nicht nachhaltig geschädigt.

Lévesque verwarf Überlegungen in seiner PQ, die mehrheitliche Wahl der Unabhängigkeitspartei als ein Mandat für die Ausrufung der Souveränität zu interpretieren. Er legte die PQ auf eine Vorgehensweise innerhalb der Institutionen Kanadas fest und setzte 1980 ein Referendum über eine "Souveränität-Assoziation" an. Bei erfolgreichem Ausgang sollte die Erklärung der Souveränität mit einer ausgehandelten Assoziation mit Kanada verknüpft werden (Wirtschafts-, Währungs- und Zollgemeinschaft). Dies war wichtig, da Nordamerika damals noch keine Freihandelszone war und Québec im Fall wirtschaftlicher Isolation schwer getroffen worden wäre.

Eine "Souveränität-Assoziation" wurde damals von 60% der Québecer verworfen. Die PQ hatte das Referendum übereilt angesetzt und schlecht vorbereitet. Außerdem konnte der aus Québec stammende, eloquente kanadische Premierminister Pierre Elliott Trudeau (Liberale Partei) seinen Einfluss zu Gunsten eines mehrheitlichen Nein in Québec geltend machen. Lévesque deutete nach dieser Niederlage seine Bereitschaft an, einen Verfassungskompromiss innerhalb des kanadischen Staatsverbandes zu suchen.

Trotz seiner Herkunft aus Montréal war Trudeau entschiedener Gegner einer Québecer Souveränität. Er verfolgte die Strategie, die Québecer Unabhängigkeitsbestrebungen durch Stärkung der gesamtkanadischen Identität, durch Gewährung gleicher Rechte für Anglo- und Franko-Kanadier in ganz Kanada sowie durch Betonung der multikulturellen Identität des Einwandererlandes Kanada zu unterlaufen. Trudeaus Motto lautete: "One Canada, one nation with two languages, no special privileges to any province, no special status." Eine Ausrichtung des kanadischen Föderalismus auf sprachlich-kultureller Grundlage lehnte er strikt ab und verstieg sich gar zu Vergleichen mit Hitlers Nationalsozialismus und dessen Konzentrationslagern. Im seinem ersten Amtsjahr als kanadischer Premierminister (1968) erhob Trudeau Französisch zur zweiten Amtssprache neben Englisch in Kanada (die meisten Provinzen blieben aber einsprachig englisch). 1982 beendete Trudeau mit Zustimmung des Londoner Parlamentes die britische Verfassungshoheit für Kanada. Die nun unter kanadischer Hoheit stehende Verfassung wurde durch einen Grundrechtekatalog ergänzt. Québec, das ein Viertel der kanadischen Bevölkerung repräsentiert, erkannte diesen Schritt nicht an, weil es einerseits als eine von beiden Gründernationen Kanadas nicht beteiligt wurde und weil andererseits seine Stellung als "besondere Gesellschaftsform" (société distincte) und sein historisches Vetorecht bei Verfassungsänderungen im Zuge der Verfassungsrepatriierung nicht festgeschrieben wurden. Auch lehnte es den auf Betreiben von Trudeau eingeführten Grundrechtekatalog ab, in dem z.B. Sprachrechte nicht als kollektive, sondern als Individualrechte definiert sind. Zudem lag das Interpretationsrecht beim Obersten Gerichtshof, dessen Richter von Ottawa ernannt, nicht unter Mitwirkung der Bundesstaaten gewählt werden. Québec fürchtete eine Majorisierung seiner Position, im schlimmsten Fall sogar die Bedrohung seiner kulturellen und territorialen Integrität. Die von Trudeau versprochene Verfassungsfortentwicklung führte im Übrigen auch zu keiner Einigung mit den restlichen Provinzen und blieb stecken.

Trudeaus Nachfolger ab 1984, der kanadische Premierminister Brian Mulroney (Progressive Konservative Partei), kam den Québecer Forderungen stärker entgegen. Eine Annäherung wurde durch die zwischenzeitliche Wahl einer gemäßigten liberalen Regierung in Québec (1985-94) unter Führung von Robert Bourassa erleichtert. Im April 1987 wurde das "Meech-Lake-Abkommen" zwischen Bund und Provinzen abgeschlossen, das die wesentlichen Québecer Forderungen anerkannte. Doch wurde es von mehreren Provinzen (Manitoba, Neufundland) nicht ratifiziert und damit 1990 hinfällig. Einige kanadische Regionen schafften die Zweisprachigkeit ab und wurden wieder einsprachig englisch. Aus Protest gründete sich 1990 auf Bundesebene eine der PQ nahe stehende Partei, der Bloc Québécois.(FN7) Von 1993-97 war er zweitstärkste kanadische Partei und damit "offizielle Opposition" im Bundesparlament, was für eine den Québecer Unabhängigkeitsbestrebungen nahe stehende Partei nicht unproblematisch war. Der Bloc Québécois suchte in der Folgezeit wechselnde Bündnispartner und paktierte in Einzelfragen auch mit der im Westen Kanadas verwurzelten Konservativen Partei, die die Québecer Souveränitätsbestrebungen besonders stark ablehnt.

Auch die liberale Québecer Regierung von Robert Bourassa drohte nun mit einem weiteren Souveränitätsreferendum, wenn grundlegende Verfassungsforderungen der Provinz nicht erfüllt würden. Ein weiterer Versuch eines Ausgleichs, das zwischen Bund und Provinzen 1992 einvernehmlich ausgehandelte "Charlottetown-Abkommen", scheiterte ebenfalls. Es hatte Québec als "besondere Gesellschaftsform" anerkannt, basierte bei seinem ehrgeizigen Versuch einer umfassenden Verfassungsreform allerdings auf zahlreichen Kompromissen, die keine Seite wirklich zufrieden stellten. Weder auf Bundesebene noch auf Provinzebene (die Québecer Bürger lehnten es mehrheitlich ab) noch bei den Gremien der Ureinwohner fand es in Abstimmungen die notwendige Mehrheit.

Die PQ bekam durch die offene Verfassungsfrage und die uneingelösten Versprechungen des Bundes Auftrieb. Von 1994-2003 stellte sie wieder die Regierung in Québec. Premierminister Jacques Parizeau setzte 1995 ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum an. Auf Bundesseite war (der ebenfalls aus Québec stammende) Jean Chrétien ein schwächerer Gegenspieler als einst Trudeau. Hingegen erhielt die gut vorbereitete Kampagne der PQ Unterstützung durch den charismatischen und überregional angesehenen Bloc Québécois-Führer Lucien Bouchard (später von 1996-2001 als PQ-Politiker Premierminister von Québec). Wieder wurde die Souveränitätsfrage mit dem Angebot einer politischen und ökonomischen Partnerschaft mit Kanada verknüpft - nun weniger aus wirtschaftlichem Zwang, sondern aus abstimmungstaktischen Gründen, da ein beträchtlicher Teil der frankophonen Québecer zwar nach Souveränität strebt, aber gleichzeitig die Bande mit Kanada nicht vollständig lösen will. Während die PQ und ihre Alliierten die Souveränität der Québecer Nation als geschichtliche Notwendigkeit darstellten ("Rendezvous mit dem Schicksal") und nur bei freier Entscheidung über drei essenzielle Bereiche (Steuer-, Gesetzes- und Vertragssouveränität) die Interessen der Québecer Bevölkerung optimal geschützt sahen, versuchte die Bundesregierung vor den Folgen eines Ja zu warnen: Kanada sei in diesem Fall möglicherweise nicht mehr an Assoziation interessiert, eine Aufnahme Québecs in die NAFTA sei kein Automatismus, sondern ein langwieriger und schwieriger Prozess, die englischsprachige Wirtschaft würde abwandern, und die Ureinwohner und Anglokanadier könnten in den von ihnen mehrheitlich bewohnten Regionen Québecs ebenfalls die Souveränität einfordern, d.h. den Anschluss an Nachbarprovinzen suchen.(FN8) Zehntausende Einwanderer erhielten vor der Abstimmung von der Bundesregierung im Eilverfahren die kanadische Staatsbürgerschaft, und Bewohner aus anderen kanadischen Provinzen wurden mit verbilligten Flugtickets und Fahrkarten zu einer Großkundgebung zugunsten eines Nein nach Montréal transportiert.

Mit 49,4% zu 50,6% scheiterte das Souveränitätsreferendum am 30. Oktober 1995 denkbar knapp. Die Mehrheit von 53.000 Stimmen war kleiner als die Zahl der ungültigen Stimmen. Wieder war keine Entscheidung gefallen.

In der "Calgary-Erklärung" erkannten die Premierminister der anderen kanadischen Bundesstaaten im August 1997 den "besonderen Charakter der Québecer Gesellschaft in Kanada" einseitig an. Das Entgegenkommen blieb jedoch hinter dem Angebot von Meech Lake zurück und hatte keine rechtlichen Konsequenzen, weswegen es von dem neuen Québecer Premierminister Lucien Bouchard (PQ) abgelehnt wurde, zumal im Gegenzug die Gleichheit der Provinzen betont wurde. Bouchard und sein ebenfalls von der PQ gestellter Nachfolger Bernard Landry (2001-03) strebten kein schnelles drittes Referendum an, sondern verfolgten die Strategie, die faktische Souveränität Québecs zu demonstrieren und auszubauen (wirtschaftliche Stärke, Diversifizierung der internationalen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen).

Die Bundesregierung unter Ministerpräsident Jean Chrétien (Liberale Partei) schlug nun eine veränderte Strategie ein: Das Québecer Souveränitätsstreben sollte nicht mehr durch Entgegenkommen, sondern durch ein schärferes Vorgehen der Bundesregierung eingedämmt werden. Unverhohlene Warnungen und Drohungen wurden an die Adresse Québecs gerichtet sowie eine - wie sich später herausstellte, von missbräuchlicher Verwendung von Geldern begleitete - Beeinflussungskampagne durch die Bundesregierung in Québec organisiert. Außerdem wurde das Oberste Gericht Kanadas um ein Grundsatzurteil zur Souveränitätsfrage angegangen. Dessen 1998 gefällte Entscheidung war salomonisch und befriedigte keine der beiden Seiten: Québec könne sich mangels Unterdrückung durch den Bundesstaat nicht auf das Selbstbestimmungsrecht berufen und habe auch kein Recht auf einseitige Erklärung der Unabhängigkeit. Andererseits müsse die kanadische Verfassung flexibel sein und demokratische Entwicklungen wie die Souveränitätsentscheidung einer Provinz akzeptieren. Eine demokratische Mehrheit der Québecer Bevölkerung in einem Souveränitätsreferendum zwinge die Bundesregierung zu Unabhängigkeitsverhandlungen in gutem Glauben. Die Referendumsfrage müsse allerdings "klar" sein, die Mehrheit "deutlich". Letztlich müsse das kanadische Parlament darüber befinden, wie die Begriffe "klar" und "deutlich" ausgelegt werden (was von der Québecer Regierung unter Lucien Bouchard entschieden abgelehnt wurde). Während die Bundesregierung die Entscheidung im Sinn einer Zwei-Drittel-Mehrheit interpretierte, beharrte die Québecer Regierung auf einer Mehrheit von 50%+. Als Präzedenzfall führte sie Neufundland an, das 1949 auf Grund einer Mehrheitsentscheidung von 52% seiner Einwohner der kanadischen Föderation beitrat. Zudem bezeichnete sie die Souveränitätsfrage in erster Linie als politischen Prozess, nicht als rechtliche Frage.

Aktuelle Entwicklungen

Seit 2003 amtiert in Québec wieder eine liberale Regierung unter Jean Charest (von 1993-98 Führer der kanadischen Progressiven Konservativen Partei, war er zur Québecer Liberalen Partei gewechselt).(FN9) Auch sie sucht zusätzliche Rechte für Québec in Verfassungsverhandlungen durchzusetzen. Der Québecer Minister für Kanadische Intergouvernmentale Angelegenheiten Benoît Pelletier bezeichnet sich als Nationalist und Föderalist. Innerhalb einer größeren Nation (der kanadischen) könne eine kleinere (die Québecer Nation) existieren. Ein gefestigter autonomer Status in einer kanadischen Föderation gleichberechtigter Partner würde Québec nach Ansicht Pelletiers die besten Chancen zur Selbstverwirklichung ermöglichen.

Den "Péquistes" werden bei der nächsten Québecer Parlamentswahl gewisse Chancen für einen erneuten Wahlsieg vorausgesagt. Wahrscheinlicher PQ-Spitzenkandidat ist der 40-jährige Vorsitzende André Boisclair, ein smarter Jungpolitiker und bekennender Homosexueller, dem sicherlich nicht der Vorwurf des ewiggestrigen Nationalisten gemacht werden kann. Ein weiteres Referendum steht grundsätzlich auf dem Parteiprogramm. Bisher galt in der PQ die Maxime, hierfür "günstige Umstände" abzuwarten. Gemäß Daniel Turp, einem Vordenker der Partei, könnte das Vorgehen bei einem neuen Souveränitätsreferendum grundsätzlich anders als 1980 und 1995 sein. Zunächst würden die notwendigen Gesetze ausgearbeitet, die künftigen Institutionen und deren Befugnisse festgelegt sowie eine Québecer Verfassung erarbeitet. Auf dieser Basis würde das Volk dann um Zustimmung befragt. Bei einer Mehrheit von 50%+ solle aber umgehend die Souveränität erklärt werden. Die demokratischen Institutionen - mit einem Québecer Obersten Gerichtshof und einem Präsidenten anstelle der britischen Königin - würden in Funktion gesetzt und internationale Anerkennung gesucht. Danach sollten Verhandlungen mit Kanada über Sonderbeziehungen (z.B. gemeinsame Währung, gemeinsame Verteidigung) auf gleichberechtigter Basis geführt werden; behelfsmäßig könnten von der souveränen Québecer Nationalversammlung gewisse gesetzliche Bestimmungen für die Dauer der Verhandlungen außer Kraft gesetzt werden. Die Verhandlungen mit der kanadischen Regierung seien aber nicht mehr konstitutiv für die Souveränitätserklärung. Das Angebot der Regierung, mit Kanada in Verhandlungen über eine neue Partnerschaft zu treten, bleibe bestehen, doch würde im Unterschied zu 1980 und 1995 keine klar umrissene Perspektive vor Beginn solcher Verhandlungen propagiert.(FN10) Zweifellos würde ein solches Vorgehen den Loslösungsprozess beschleunigen, es könnte von kanadischer Seite aber auch als nicht verfassungskonform angesehen werden.

In den letzten Jahren haben wirtschaftliche Themen die Souveränitätsfrage in den Hintergrund gerückt. Nicht wenige Québecer sind des "Neverendums" müde - die hoch emotional geführten Kampag-nen der letzten Abstimmungen spalteten Familien und Ehen. Die von dem dynamischen Nachwuchspolitiker Mario Dumont geführte Action démocratique du Québec (ADQ) mit derzeit vier von 125 Sitzen in der Nationalversammlung unterstützte 1995 die Souveränität, äußerte sich zu dieser Frage in letzter Zeit aber nicht mehr. Sie nähert sich den Vorstellungen der in Québec bisher bedeutungslosen Konservativen an: mehr Verantwortung des Bürgers, partieller Rückzug des Staates, Reform der Bürokratie, Verminderung der Staatsschulden, effizienterer Einsatz der nationalen Ressourcen, Lösung des im Vergleich zu Kanada in Québec noch bedrohlicheren Alterungsprozesses der Gesellschaft.

Andererseits bleiben Unzufriedenheit über die aus Québecer Sicht ungelöste Verfassungsfrage und der mehrheitliche Wunsch nach einem höheren Status. Wie die Geschichte zeigt, kann das Thema der Souveränität schnell aktuell werden. Hierfür spricht auch, dass sich die Jugend stets mehr als die ältere Generation für Souveränität und Unabhängigkeit begeistern ließ. Auch Meinungsführer wie frankophone Journalisten, Künstler etc. zeigten sich in der Vergangenheit besonders empfänglich für dieses Ziel. Hinzu kommen die zentrifugalen Tendenzen im Rest von Kanada. Die Westprovinzen (insbesondere das wohlhabende Britisch-Kolumbien und das ölreiche Alberta) drängen auf zusätzliche Kompetenzen, lehnen aber Sonderrechte für Québec strikt ab. Die Verbindungen dieser Provinzen zu den USA haben zugenommen, eine (noch kleine) Minderheit der dortigen Einwohner liebäugelt ebenfalls mit Souveränität bzw. mit einem Anschluss an die USA. Sollten grundlegende Veränderungen im restlichen Kanada anstehen, würden sie zweifellos auch Rückwirkungen auf Québec haben.

Würde Québec einer Abspaltung des von Indianern und Inuit dünn besiedelten Nordens und der mehrheitlich von Anglo-Kanadiern bewohnten Gebietsstreifen im Westen zustimmen, so wäre ein Ja für die Unabhängigkeit in einem Referendum fast sicher. Doch wäre der Verlust der nördlichen Energiereserven und der westlichen Industriegebiete für die Wirtschaft fatal. Gestützt auf ein internationales völkerrechtliches Gutachten legte sich die Regierung von Québec daher auf die Unveränderbarkeit der Grenzen fest, bot Minderheiten für den Fall der Unabhängigkeit aber Autonomierechte an. Man orientiert sich am Geschichts- und Territorialprinzip und folgt damit der europäischen Praxis wie im Fall der Ex-Sowjetunion oder Ex-Jugoslawiens.

Zünglein an der Wage eines Referendums sind die gut 600.000 Einwanderer (mit ca. 8% der Bevölkerung etwa ebenso stark wie die anglophone Minderheit). Wegen zurückgehender Geburtenraten ist Québec, wie das restliche Kanada, auf Immigranten angewiesen und sieht sich heute als tolerante multikulturelle Gesellschaft mit dominierender frankophoner Kultur und Identität. Wie die vergangenen Abstimmungen gezeigt haben, neigen jedoch nur frankophone und lateinamerikanische Einwanderer zur Unabhängigkeit. Die Mehrheit der Immigranten, z.B. aus dem sonstigen Europa oder aus Asien, fühlt sich der englischsprachigen Kultur Kanadas nahe. Hinzu kommt eine psychologische Disposition: Auswanderer haben bereits eine folgenreiche persönliche Lebensentscheidung getroffen; sie suchen Stabilität, keine weiteren Veränderungen.

Die Haltung des Auslandes in der Québecfrage

Wie vergleichbare Fälle zeigen, bevorzugt die internationale Staatengemeinschaft grundsätzlich den berechenbaren Status quo und sucht Staatsneubildungen zu verhindern. Können sich solche jedoch dauerhaft und auf demokratischer Grundlage etablieren, so folgt in der Regel schnell eine diplomatische Anerkennung.

Aktive Sympathien für Québecer Souveränitätsbestrebungen sind in erster Linie in Frankreich erkennbar. PQ-Politiker haben stets darauf gesetzt, dass auf eine Souveränitätserklärung die schnelle Anerkennung durch Frankreich und damit ein internationaler Durchbruch folgen würde, selbst im Fall einer rechtlich umstrittenen Loslösung von Kanada.

Jenseits von kolonialer Nostalgie wäre ein frankophoner Staat in Nordamerika als Brücke nach Gesamtamerika und Pendant zu den USA für Frankreich zweifellos attraktiv. Dem steht allerdings entgegen, dass sich die Québecer Unabhängigkeitspartei PQ links von der Mitte verortet, Sympathien im französischen Parteienspektrum aber vor allem von den rechts stehenden Gaullisten kommen. Die Sozialistische Partei Frankreichs hat sich in dieser Frage stets zurückhaltend bis ablehnend verhalten. Auch würde eine Loslösung Québecs dem französischen Konzept der unteilbaren Staatsnation widersprechen. Französische Politiker unterschiedlicher Parteien haben darauf hingewiesen, dass die offene Unterstützung Québecer Souveränität kaum mit der eigenen restriktiven Haltung gegenüber korsischen oder baskischen Unabhängigkeitsbestrebungen vereinbar wäre. Zudem ist Frankreich traditionell eng mit Kanada verbunden, das Alliierter in zwei Weltkriegen war und zweimal auf französischem Boden gegen die Deutschen kämpfte. Nicht nur Québec, sondern auch Kanada ist Mitglied der Francophonie. Bei einer Loslösung Québecs würde Restkanada faktisch zu Anglokanada werden. Französisch würde dort wahrscheinlich den Status einer zweiten Amtssprache neben Englisch einbüßen. Die wenigen frankophonen Kanadier in Restkanada (rund 3% der Bevölkerung) würden einem starken Assimilierungsdruck ausgesetzt, selbst wenn sich der neue Nachbarstaat Québec zum Anwalt ihrer Rechte machen würde. Die Loslösung Québecs könnte zudem die zentrifugalen Kräfte im Westen Kanadas stärken und die Stabilität dieses Landes erschüttern. Aus den genannten Gründen dürfte Paris ein starkes Québec innerhalb des kanadischen Staatsverbundes einem unabhängigen Québec vorziehen.

Die USA verhalten sich offiziell neutral. Im Referendum von 1995 unterstützte die Regierung Clinton, wie später bekannt wurde, über ihren Botschafter in Ottawa jedoch sehr nachdrücklich die Haltung der Bundesregierung. Die USA zeigen sich an der Entstehung eines neuen, frankophonen Nachbarn nicht interessiert, zumal viele US-amerikanische Wirtschaftsunternehmen gleichzeitig in Québec wie im restlichen Kanada präsent sind und einheitliche Rahmenbedingungen vorziehen. In diesem Zusammenhang sei jedoch darauf hingewiesen, dass Abspaltungstendenzen in Kanada durchaus auch lohnende Perspektiven für die USA eröffnen könnten: Ein Anschluss des boomenden Britisch-Columbia an die USA wäre nicht nur für die benachbarten US-Bundesstaaten Washington, Oregon und Kalifornien attraktiv, sondern würde auch eine Landverbindung nach Alaska herstellen.

Québec als internationaler Akteur

Québec ist mit einer Größe von 1,67 Mio. km2 4,5-mal so groß wie Deutschland, mit 7,5 Mio. Einwohner aber wesentlich dünner besiedelt. Die Bevölkerung konzentriert sich entlang des St. Lorenz-Stroms. Von seiner Wirtschaftskraft steht Québec an 20. Stelle der Welt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner entspricht demjenigen Deutschlands oder Spaniens. Die Wirtschaft wird heute von natürlichen Ressourcen (Bergwerksprodukte und Energie), dem Hochtechnologiesektor (Luft- und Raumfahrt, Informationstechnologie, Biotechnologie, pharmazeutische Industrie) und Dienstleistungen (70% des Bruttoinlandsproduktes) geprägt. Der Bundesstaat hat heute exklusive Kompetenzen in Bereichen wie dem Privatrecht, der Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen, der Bildung, Kultur und der kommunalen Einrichtungen; er verwaltet die Gerichte, den überwiegenden Teil der öffentlichen Sicherheit und wählt eigenverantwortlich seine Immigranten aus. Weitere Kompetenzen wie Umwelt, Landwirtschaft und Transportwesen teilt er sich mit der Bundesregierung. Sowohl PQ- wie liberale Regierungen haben in den letzten Jahrzehnten die internationale politische, wirtschaftliche und kulturelle Präsenz Québecs gezielt ausgebaut. Premierminister Jean Charest (Québecer Liberale Partei) formuliert die Schwerpunkte folgendermaßen: "Unsere Politik zielt auf die Entwicklung unserer internationalen Ausstrahlung ab. Sie bekräftigt die Freiheit Québecs, stark und selbstständig international zu agieren, und zwar überall dort, wo wir es für notwendig halten. (…) Sie verbindet unser Handeln mit einer kanadischen Position, die die Interessen Québecs stärker als bisher berücksichtigt."(FN11) Das Ministerium für Internationale Beziehungen und für die Frankophonie ist auf Nord- und Lateinamerika, Westeuropa (mit Frankreich und Deutschland als Schwerpunkten), die frankophonen westafrikanischen Staaten sowie die asiatischen Industrieländer fokussiert und heute mit Generaldelegationen, Delegationen, Büros und Handelsvertretungen in 16 Staaten präsent. Kein anderer kanadischer Bundesstaat verfügt über ein vergleichbares Ministerium. Über 300 bilaterale Abkommen mit Staaten und Bundesstaaten in Bereichen wie Forschung und Entwicklung, Telekommunikation, Energie, Transport etc. sind in den vergangenen 40 Jahren in Kraft getreten. Québec ist Vollmitglied der Francophonie, die 105 Mio. Menschen auf fünf Kontinenten umfasst. Außerdem wirkt es infolge einer 2006 mit der Bundesregierung abgeschlossenen Vereinbarung an allen Aktivitäten und Konferenzen der UNESCO im Rahmen der kanadischen Delegation mit. Seit 2002 müssen alle wichtigen internationalen Vereinbarungen, die Québec betreffen, von der Québecer Nationalversammlung bestätigt werden, auch wenn sie von der kanadischen Bundesregierung abgeschlossen wurden. Über Partnerschaftsabkommen ist Québec mit vergleichbaren Regionen verknüpft, so schloss es 1989 ein Abkommen mit dem wirtschaftlich ähnlich strukturierten Freistaat Bayern. 2002 war Québec Mitgründer des institutionalisierten Partnerschaftsnetzwerkes auf vier Kontinenten mit Bayern, Oberösterreich, Westkap (Südafrika), Shandong (China) und São Paulo (Brasilien) und künftig Florida (USA). Zweifellos wäre auch ein unabhängiges Québec lebensfähig und könnte die vielfältigen Möglichkeiten als NAFTA-Mitglied und im Rahmen der WTO nutzen.

Unabhängig vom Ausgang eines eventuellen weiteren Unabhängigkeitsreferendums hat sich Québec als starke politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht etabliert und wird international wahrgenommen. Ähnlich wie die Katalanen versteht sich die Mehrheit der Québecer parteiübergreifend als Nation. 1995 wurde der Regierungssitz Québec-Stadt zur "Nationalen Hauptstadt" (capitale nationale) erklärt. Als einzige kanadische Provinz begeht Québec am 24.6. einen Nationalfeiertag, den Tag des Heiligen St. Jean-Baptiste (Beschluss der Québecer Nationalversammlung vom 19.12.2002). Wenn das restliche Kanada Mitte Mai den Victoria Day zu Ehren von Königin Viktoria feiert, begeht Québec den Journée nationale des patriotes, der an den niedergeschlagenen Aufstand von 1837/38 gegen die britische Kolonialmacht erinnert. Die 1948 eingeführte blau-weiße Fleur-de-Lys mit den bourbonischen Schwertlilien gilt als Nationalflagge.

Ob von der seit Januar 2006 amtierenden konservativen Bundesregierung unter Führung von Premierminister Stephen Harper verfassungsrechtliche Initiativen zu erwarten sind, ist offen. Im November 2006 imiterite er eine - eher symbolische - Parlamentsvorlage, die Quebéc als "Nation" innerhalb Kanadas anerkannte. Angesichts der zahlreichen Misserfolge in der Vergangenheit scheuen alle kanadischen Politiker davor zurück, das heiße Eisen Verfassungsreform anzupacken. Der Weg, Veränderungen über Verfassungszusätze zu erreichen, ist unter den herrschenden Rahmenbedingungen äußert schwierig. Der Québecer Minister für Kanadische Intergouvernmentale Angelegenheiten Benoît Pelletier (Québecer Liberale Partei) propagiert die Etablierung eines "Rats der Provinzen" zur gegenseitigen Konsultation, Diskussion und flexiblen Lösung von Problemen, zur Mitwirkung an internationalen Verträgen sowie zur Verbesserung der Beziehungen der Provinzen untereinander.(FN12) Denn ein Schwachpunkt des kanadischen Föderalismus besteht darin, dass er im Unterschied zum deutschen oder österreichischen Föderalismus keine Länderkammer kennt. Die zweite Parlamentskammer, der Senat, ist vom britischen Oberhaus beeinflusst: Seine Mitglieder werden vom Generalgouverneur auf Vorschlag des kanadischen Premierministers ernannt.

Es bleibt zu hoffen, dass eine im Québecer wie im kanadischen Interesse liegende einvernehmliche und zukunftsfähige Lösung gefunden wird, die das jahrzehntelange unbefriedigende Patt beendet.

ANMERKUNGEN:

(Fußnote 1/FN1) F.W. Rudmin, A 1935 US Plan for Invasion of Canada. Queen‘s University Kingston, Ontario Canada, 1995. Internet-Dokument: http://www.glasnost.de/hist/usa/1935invasion.html .

(FN2) Gemäß einer Umfrage von 1997 (Gebhard Schweigler: Nordamerika im Umbruch? Die politischen Auswirkungen von NAFTA in den USA, Kanada und Mexiko [= Stiftung Wissenschaft und Politik, unveröff. Manuskript SWP-S 432]. Ebenhausen 1999, S.197).

(FN3) Zur Geschichte von Québec Karl Lenz (unter Mitarbeit von Rainer-Olaf Schultze): Kanada. Wissenschaftliche Länderkunden, Darmstadt 2001; Udo Sautter: Geschichte Kanadas, München 1992.

(FN4) Auch der Name Québec geht auf ein indianisches Wort zurück: gepeg, d.h. Engstelle. Es bezeichnet die Verengung des St. Lorenz-Stroms auf Höhe der heutigen Stadt Québec.

(FN5) David Krajicek: The Québec October Crisis. Internet-Dokument: http://www.crimelibrary.com/terrorists_spies/terrorists/flq/index.html; John Horvath: The Lessons of October. The lessons of October 1970 in Canada are still being played out, this time in the global arena, 5.10.2005. In: Teleopolis, 5.10.2006. Internet-Dokument: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21083/1.html .

(FN6) Zur Entstehung der PQ und zu den Lösungsansätzen für das Québec-Problem: Mark Chevrier: der kanadische Föderalismus und das Autonomie-Problem der Provinz Québec: eine historische Perspektive (hg. vom Ministère des Relations internationales). Québec-Stadt 1998; J. A. Laponce: Canada. The Case for Ethnolinguistic Federalism in a Multilangual Society. In: John Coakley: The Territorial Management of Ethnic Conflict. London, Portland/Oregon 2003, S. 23-44; Wendelin Ettmayer: Kanada und die transatlantische Sicherheit (= Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie Nr. 7). Wien 2001; James Ross Hurley: Candian federalism: Idiosyncratic Characteristics, Evolution and Lessons Learned. In: Jürgen Rose/Johannes Ch. Traut (Hg.): Perspectives for the Transformation Process in Eastern and Central Europe (= George C. Marshall European Center for Security Studies 2). Münster/Hamburg/Berlin/London 2001, S.141-154; William Johnson: A Canadian Myth. Quebec, between Canada and the Illusion of Utopia. Montreal 1995; Martin Pabst: Politische Studien-Zeitgespräch mit Lucien Bouchard, dem Premierminister von Québec. In: Politische Studien. Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen (hg. von der Hanns-Seidel-Stiftung e.V.), München 52 (2001) Nr. 375, S.11-21; Gebhard Schweigler: Nordamerika im Umbruch? Die politischen Auswirkungen von NAFTA in den USA, Kanada und Mexiko (= Stiftung Wissenschaft und Politik, unveröff. Manuskript SWP-S 432). Ebenhausen 1999.

(FN7) Eine Besonderheit der kanadischen Demokratie ist, dass auf Bundes-, Provinz- und Kommunalebene voneinander unabhängige Parteien agieren. Selbst bei verwandter Bezeichnung (z.B. Liberale Partei Kanadas, Liberale Partei von Québec) handelt es sich um organisatorisch verschiedene und programmatisch nicht deckungsgleiche Parteien.

(FN8) Indianer und Inuit in Québec sind gegen eine Unabhängigkeit der Provinz, da sie der Ansicht sind, im Rahmen Kanadas ihre Interessen eher verwirklichen zu können als in einem noch stärker frankophon geprägten Staat Québec. Die Ureinwohner sprachen sich 1995 im Fall der Unabhängigkeit Québecs mehrheitlich für den Verbleib bei Rest-Kanada aus. Die Cree-Indianer stellen außerdem Anspruch auf 80% des Québecer Territoriums.

(FN9) Die Einschätzung der aktuellen Entwicklungen stützt sich auf Gespräche des Vf. im Jahr 2005 mit Benoît Pelletier, Minister für Kanadische Intergouvernmentale Angelegenheiten und Eingeborenen-Angelegenheiten (Liberale Partei von Québec), Daniel Turp (Abgeordneter der Parti Québécois; Sprecher der Offiziellen Opposition für Kultur und Wirtschaft) und Mario Dumont (Abgeordneter und Vorsitzender der oppositionellen Action démocratique du Québec). - Siehe auch Quebecs ewiger Traum der Unabhängigkeit, Neue Zürcher Zeitung vom 29./30.10.2005.

(FN10) Hierzu ausführlich Daniel Turp: Nous, Peuple Du Québec. Un projet de la Constitution du Québec. Boisbriand 2005.

(FN11) Ministerium für Internationale Beziehungen und für die Frankophonie (Hg.): Die Internationale Politik von Québec. Die Stärke der konzertierten Aktion. Zusammenfassung. Québec-Stadt 2006, S.6.

(FN12) Benoît Pelletier (Hg.): A Project for Québec. Affirmation, Autonomy and Leadership. Final Report. Special Committee of the Québec Liberal Party on the Political and Constitutional Future. Montreal, October 2001.

Dr. Martin Pabst

Geb. 1959; Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik in München und Würzburg; 1988 Promotion zum Dr. phil.; Reserveoffizier; Forschungsaufenthalte in Lomé (Togo), London und Oxford; Lehrauftrag an der Universität Würzburg; seit 1992 Büro Forschung & Politikberatung in München; zahlreiche Buch- und Aufsatzveröffentlichungen.



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Anteil der Französisch sprechenden Bevölkerung nach Provinzen 1991.
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