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Schutz & Hilfe im Ausland. Krisenunterstützungsteams im "Arabischen Frühling"

Um die Mittagszeit des 17. Dezember 2010 übergoss sich vor dem Sitz des Gouverneurs in der zentral­tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid ein aufgrund von zahlreichen Schikanen durch Verwaltung und Polizei sowie seiner hoffnungslosen sozialen Lage verzweifelter junger Gemüsehändler mit Benzin und zündete sich an. Diese Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi war der Funke, der die Ereignisse auslöste, die heute als "Arabischer Frühling" bekannt sind. Eine Welle von Streiks, Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen erfasste nach und nach ganz Tunesien, obwohl der langjährige Präsident Ben Ali alles versuchte, die Massen zu beruhigen. Aber es war zu spät. Als Bouazizi nach qualvollem Leiden am 4. Januar 2011 in einem Spital in Tunis starb, war die Revolution bereits voll ausgebrochen.

Unmittelbar vor dem Vorfall in Sidi Bouzid befand sich der zuständige österreichische Verteidigungsattaché (VA; Sitz in Rom/Italien, mitakkreditiert in Griechenland, Libyen und Tunesien) in Libyen, um die Krisenpläne der österreichischen Botschaft (ÖB) für den Fall des Ausbruches von schweren Unruhen gemeinsam mit dem anderen Schlüsselpersonal der ÖB auf den letzten Stand zu bringen. Dabei informierte der VA auch die österreichischen Firmen in Tripolitanien und in der Cyrenaika eingehend über die Planungen und unterstützte diese bei den eigenen Maßnahmen.

In diesen letzten Herbsttagen des Jahres 2010 wirkte die Lage in Nordafrika zumindest an der Oberfläche noch ruhig.

Der Krisenplan der österreichischen Botschaft in Tripolis

Die Krisenpläne der ÖBs stellen eine Vorbereitung auf Krisen aller Art dar und sollen bei deren Bewältigung helfen. Im Krisenplan der ÖB Tripolis wurden für den Fall von Unruhen u. a. auch Maßnahmenkataloge und Kriterien für deren Auslösung berücksichtigt, Notausrüstung und Notvorräte festgelegt und konkrete Planungen für allenfalls notwendige Evakuierungen aufgenommen. Das Alarmierungssystem enthielt mehrere Alarmkreise, die das ganze Land abdeckten. Sichere "nahe Sammelpunkte", abgelegene "ferne Sammelpunkte" und "Evakuierungspunkte" wurden in Zusammenarbeit mit den österreichischen Firmen vor Ort erkundet und festgelegt. Das Basismaterial enthielt auch wichtige Daten über die Infrastruktur des Landes (z. B. Flughäfen und Häfen).

Die österreichischen Krisen­unterstützungsteams (KUT)

Das KUT-System wurde 2004 ins Leben gerufen. Diese Teams dienen der Optimierung der Vorbereitung der Botschaften auf Krisen und deren Unterstützung im Anlassfall. Sie setzen sich aus Personal des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten (BMeiA, Gesamtleitung), des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport (BMLVS) und des Bundesministeriums für Inneres (BMI) zusammen. Alle KUT-Angehörigen werden zum besseren Schutz in den Krisenländern mit Diplomatenpässen ausgestattet und der jeweiligen ÖB für die Dauer der Entsendung zugeteilt. Nach dem Ende eines Einsatzes werden die Pässe im BMeiA verwahrt.

Der "Arabische Frühling" beginnt: Die Revolution in Tunesien

Nach dem Tod von Mohammed Bouazizi eskalierte die Lage. Präsident Ben Ali versuchte nunmehr, den Aufstand mithilfe von Polizei und Nationalgarde gewaltsam niederzuschlagen. Da deren Kräfte nicht ausreichten, befahl er den Einsatz der Streitkräfte. Aber als der Chef des Generalstabes am Morgen des 12. Jänner 2011 den persönlichen Befehl des Präsidenten zum Vorgehen gegen die Demonstranten verweigerte, war die Flucht Ben Alis nur mehr eine Frage von Tagen. Als sich die Demonstranten am Abend des 14. Jänner dem Präsidentenpalast in Carthage, einem Vorort von Tunis, näherten, flüchtete er mit einem Flugzeug ins Ausland.

Der erste KUT-Einsatz wird ausgelöst

Daraufhin lösten sich Polizei und Nationalgarde auf, und die Situation geriet nahezu völlig außer Kontrolle. Daher fiel zu Mittag des 15. Jänner bei einem Treffen der Spitzenbeamten von BMeiA, BMLVS und BMI im Rahmen der "3er-Lage" die Entscheidung für den Vorschlag an die politische Führung, ein KUT nach Tunesien zur Unterstützung der dortigen, personell sehr kleinen ÖB in Marsch zu setzen. Diese Mission stellte den ersten "scharfen" Einsatz im Rahmen des KUT-Konzeptes dar. Der Auftrag lautete: "Unterstützung der ÖB Tunis während der Zeit der politischen Veränderungen." Die Mitglieder des Teams nahmen unverzüglich untereinander Verbindung auf und bereiteten unter der Führung des afrikaerfahrenen Botschafters Mag. Roland Hauser, Leiter der Abteilung für Sicherheitsangelegenheiten im BMeiA, die Verlegung vor. Nur wenige andere Staaten waren in der Lage, ähnlich rasch zu reagieren.

Der VA traf bereits am Vormittag des nächsten Tages in Tunis ein und begann sofort mit ersten Erkundungen der Sicherheitslage in den relevanten Gebieten. Dazu gehörte die Beobachtung der Entwicklung der Kampfhandlungen im und um den Präsidentenpalast, wo sich die Reste der Präsidentengarde mit Sondereinheiten der Armee schwere Gefechte lieferten. Danach erfolgte die Erkundung bzw. Überprüfung der nahen und fernen Sammelpunkte (mit Hubschrauberlandeplätzen), des Evakuierungspunktes und der Evakuierungsmöglichkeiten.

Die Masse des KUT-Personals traf zwar noch am 16. Jänner ein, steckte jedoch nach dem Überwinden einiger Probleme wegen der mitgeführten Ausrüstung bei der Einreise aufgrund der geltenden Ausgangssperre am Flughafen fest. Das Team musste im Bereich der Gepäckausgabe übernachten und konnte erst am Vormittag des nächsten Tages die ÖB erreichen.

Das KUT setzte sich nunmehr aus Personal des BMeiA, des BMI und des Heeres-Nachrichtenamtes (HNaA) sowie dem VA in einer Doppelrolle (Mitglied von Botschaft & KUT) zusammen.

Führung und Tätigkeiten des KUT

Die Gesamtführung vor Ort lag beim österreichischen Botschafter Dr. Johann Fröhlich, der auch die politische Bewertung und Berichterstattung selbst übernahm.

Die Hauptarbeiten des KUT-Personals von BMeiA und BMI umfassten die Betreuung der Österreicher vor Ort, Bearbeitung von Konsularfällen, die Vernetzung mit anderen Botschaften und den Sicherheitsbehörden sowie die direkte Unterstützung ausreisewilliger Österreicher, insbesondere auf dem Flughafen Tunis. Insgesamt wurden ca. 120 bis 150 Österreicher (und Mitarbeiter österreichischer Firmen) bei der Ausreise unterstützt.

Die (Haupt-)Tätigkeiten des VA umfassten:

  • Informationsbeschaffung und -auswertung (besonders wertvoll waren die Kontakte zu bestimmten Einheimischen, zu anderen wichtigen europäischen, nordamerikanischen und afrikanischen Botschaften sowie zu den Auslands-österreichern im Netzwerk der ÖB);
  • persönliche Erkundung der Sicherheitslage um die eigenen Einrichtungen und bei den "Hotspots" (z. B.

    um den Präsidentenpalast und in der Innenstadt von Tunis);

  • Lagedarstellung;
  • Analysetätigkeit und Beurteilung der erwartbaren weiteren Entwicklung (mit sehr hoher "Treffergenauigkeit");
  • Beratung des österreichischen Botschafters;
  • Verfassen von Beiträgen für die tägliche gemeinsame Berichtslegung des KUT und eigene, vertiefende Berichtslegung.

Das alles ergab letztendlich einen Arbeitstag von 0600 bis 0200 Uhr über den gesamten Einsatz hinweg.

Zur Unterbringung des KUT wurde ein Hotel in relativ sicherer Lage abseits der Hauptbewegungslinien in der Mitte zwischen der ÖB und dem Wohngebiet der meisten Botschaftsangehörigen und in der Nähe des Flughafens gewählt.

Die weitere Lageentwicklung

In den nächsten Tagen war die Lage durch fortgesetzte Demonstrationen gegen die Übergangsregierung, punktuelle schwere Gefechte zwischen der Präsidentengarde und Sondereinheiten der Armee sowie Plünderungen in manchen Gebieten gekennzeichnet. Da sich die Polizei noch über einige Tage aus Angst vor Racheakten nicht auf die Straßen wagte, wurden in vielen Wohngebieten zum Schutz vor Plünderern eigene Sicherheitsmilizen gebildet, die auch Jagd auf Loyalisten machten.

Der Armee gelang es jedoch recht bald, die letzten Kämpfe zu beenden und die Sicherheitslage zu stabilisieren. Insgesamt kamen während der blutigen Revolution - je nach Quelle - zwischen 300 und 600 Personen ums Leben. Rund 2 200 bis 4 000 Menschen wurden in dem ca. 10,8 Mio. Einwohner zählenden Staat verletzt. Im Vergleich dazu gab es bei der Revolution in Ägypten 800 bis 1 500 Tote - allerdings bei 84 Mio. Einwohnern.

Das KUT konnte seinen ausgezeichnet koordinierten und geführten Einsatz beenden. Die Zusammenarbeit zwischen den drei Ressorts verlief völlig problemlos, professionell und vertrauensvoll. In internen Besprechungen wurden Prioritäten festgelegt, Informationen, Wahrnehmungen sowie Einschätzungen ausgetauscht und die notwendigen Schritte gesetzt. Dieses sehr kameradschaftliche Zusammenwirken war für den erfolgreichen Abschluss der Mission essenziell.

Libyen explodiert

Der seit 1969 herrschende libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi zeigte im Verlauf der Vorfälle in Tunesien zunehmend mehr Nervosität. Drohungen und Versprechungen begleiteten erste kleinere Demonstrationen in Benghazi. Da es somit erforderlich war, die Lage besonders genau unter Beobachtung zu halten, wurde vom VA ein besonders enger Kontakt mit diversen Ansprechpartnern in Libyen und der österreichischen Botschafterin Mag. Dorothea Auer gehalten. Es mehrten sich die Informationen, wonach am 17. Februar ein "Tag des Zorns" im ganzen Land abgehalten werden sollte.

Die ÖB in Tripolis ist eine kleine Botschaft mit insgesamt vier Österreichern und der Außenhandelsstelle der Wirtschaftskammer, damals unter der Leitung von Mag. David Bachmann.

Als sich der Ausbruch von Unruhen deutlich abzeichnete, reiste der VA erneut nach Libyen, um ein letztes Update des Krisenplanes zu unterstützen und unmittelbare Vorbereitungen auf die bevorstehende Krise zu treffen. Dazu gehörte auch eine vertiefende Informationsbeschaffung vor Ort. Bei Gesprächen mit wichtigen ausländischen Partnern zeigte sich, dass von diesen keiner mit einer ernsten Eskalation rechnete. Dies galt auch für das Regime selbst.

Erste konkrete Anzeichen für einen unmittelbar bevorstehenden größeren Gewaltausbruch waren aber bereits im Verlauf des 14. und 15. Februar zu erkennen.

Nach einigen weiteren Gesprächen mit österreichischen Firmen über das Verhalten beim Ausbruch von Kämpfen reiste der VA am Nachmittag des 16. Februar mit der Gewissheit, dass die ÖB bestens auf die Krise vorbereitet war, nach Rom zurück. Von dort aus war aus verschiedenen Gründen eine bessere operativ-strategische Bearbeitung der Lage möglich. Dies war insbesondere zur Unterstützung der anstehenden Entscheidungen in Wien erforderlich. Das Lagebild für die ÖB und das eigene Ressort blieb auch von Rom aus voll sichergestellt, und eine Unterstützung auf der taktischen Ebene war vorerst noch nicht erforderlich.

Am Abend desselben Tages kam es in Benghazi und Derna zu ersten Demonstrationen und schweren Ausschreitungen. Als zu beobachtende Kriterien für das Feststellen der Nichtbeherrschbarkeit der Krise durch das Regime beurteilte der VA:

  • keine Beendigung der Ausschreitungen und Gefechte innerhalb von drei Tagen (was bis zu diesem Zeitpunkt bei Unruhen normalerweise der Fall war) - am Abend des 19. Februar gab es keine Anzeichen für ein Durchsetzen des Regimes;
  • regionale Ausbreitung der Gefechte über den Ausgangspunkt hinaus - ab 17. Februar begannen Unruhen in mehreren Städten der Cyrenaika;
  • Übergreifen der Unruhen auf andere Regionen des Landes - beginnend mit 18. Februar breiteten sich die Kämpfe auch auf den Westen aus (als erstes auf Misratah und Zintan), ab dem 20. Februar auch auf den Fezzan (zuerst Awbari);
  • Übergreifen der Unruhen auf die Hauptstadt Tripolis - ab 19. Februar.

Am 19. Februar waren alle diese Kriterien erfüllt. Damit war klar, dass das Regime die Lage zumindest vorerst nicht so rasch unter Kontrolle bringen konnte. Folgerichtig fiel am Nachmittag in Wien die Entscheidung zur Entsendung eines KUT nach Tripolis. Dazu wurde auch die Verlegung eines C-130K-Transportflugzeuges des Bundesheeres nach Malta beschlossen, um die Reaktionszeiten zu verringern. Beim Eintreffen des VA am Vormittag des 21. Februar zeigte sich, dass sich die Situation in der Stadt innerhalb weniger Tage verändert hatte. An den Hauptstraßen befanden sich zahlreiche Checkpoints. In manchen Stadtteilen standen ausgebrannte Fahrzeuge. Viele Geschäfte waren mit Brettern abgesichert. Einige Häuser zeigten Schäden von Ausschreitungen und Kämpfen. In einzelnen Straßenzügen fanden Gefechte statt. Hubschrauber kreisten über der Stadt. Mit weiteren Hubschraubern wurden Verstärkungen in das weiter im Westen gelegene Zawiyah geflogen, wo schwere Kämpfe stattfanden. Teile der von Gaddafis Sohn Khamis geführten 32. Brigade, einem modern ausgerüsteten mechanisierten Eliteverband, wurden mit strategischen Transportflugzeugen in die Cyrenaika verlegt, wo sie allerdings in den nächsten Tagen mit Masse aufgerieben wurden.

Als Sofortmaßnahme führte der VA die persönliche Aufklärung der Brennpunkte durch (z. B. des Green Square, wo Demonstrationen unter massivem Schusswaffeneinsatz aufgelöst wurden, und des Souk al-Jouma, einer angehenden Rebellenhochburg). Informationsbeschaffung und -austausch verdichteten das Lagebild und bestätigten die Beurteilung der erwartbaren weiteren Entwicklungen.

Am Nachmittag trafen KUT-Teile des BMeiA und BMI auf dem Flughafen ein und nahmen unverzüglich die Arbeit zur Unterstützung der vor Ort befindlichen Österreicher auf. Die Situation auf dem bald von zehntausenden Ausreisewilligen belagerten Flughafen Tripolis wurde zusehends unerträglich. Die Beschaffung von Überflug-/Landegenehmigungen gestaltete sich schwierig, konnte aber durch das hartnäckige Engagement von Mag. Bachmann vor Ort gelöst werden. Nachdem Austrian Airlines die Flüge nach Tripolis eingestellt hatte, konnten noch am Abend des 21. Februar 62 österreichische und EU-Staatsbürger mit der C-130K des Bundesheeres ausgeflogen werden. Danach war aufgrund der Lageentwicklung die Verlegung des KUT in die Stadt vorerst nicht mehr möglich.

Am späten Nachmittag zeigte sich, dass eine Heimfahrt des Botschaftspersonals wegen der sich zuspitzenden Sicherheitslage nicht möglich war. Daher fiel der Entschluss zum gemeinsamen Beziehen des für das KUT geplanten Hotels in der Nähe der Botschaft.

Während gerade eine Besprechung im Zimmer der ÖB unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen (Lichtschutz!) stattfand, wurde um ca. 2200 Uhr ein Hinterhalt auf eine motorisierte Patrouille der 32. Brigade unmittelbar vor dem Hotel ausgelöst. In weiterer Folge fand ein heftiges Feuergefecht zuerst um das Hotel und dann im Hotel selbst statt, bei dem auch mehrere Zimmer getroffen wurden. Gegen 2330 Uhr beruhigte sich die Lage wieder.

Nach einer Entspannung der Situation auf der Straße zwischen dem Flughafen und der Stadt erreichten die KUT-Teile in den frühen Morgenstunden des 22. Februar das Hotel. Die restlichen Teile des Teams trafen am Nachmittag desselben Tages auf dem Flughafen ein.

Das KUT-Libyen

Die Struktur und Führung

Das gesamte KUT bestand aus elf Personen und setzte sich wie folgt zusammen:
  • Personal des Außenministeriums (v. a. zur Verstärkung des Konsularbereiches);
  • Personal des Innenministeriums (vier Beamte des Einsatzkommandos "Cobra" unter dem Kommando von Oberstleutnant Gerald Haider zur Sicherung der Botschaft, zum Personenschutz der ÖB, für Erkundungen und Unterstützungstätigkeiten am Flughafen);
  • Personal des HNaA;
  • Personal des Streitkräfteführungskommandos (SKFüKdo) und der fachlich für KUT zuständigen Abteilung des BMLVS (zum Führen der Lagekarte, für Unterstützungstätigkeiten am Flughafen und zur Spezialaufklärung);
  • sowie dem VA (wiederum in einer Doppelrolle als Mitglied der Botschaft & Leiter der BMLVS-Teile des KUT).

Die Gesamtführung vor Ort lag bei der österreichischen Botschafterin. Alle wesentlichen Entscheidungen wurden jeweils zu dritt von den höchsten Repräsentanten der drei Ministerien vor Ort (d. h. ÖB, VA und Kommandant EKO-Team) diskutiert und gemeinsam getroffen, zum Teil nach direkter Rücksprache mit den jeweiligen Ressortvertretern in der 3er-Lage, über die auch die nationale Führung des KUT erfolgte.

Die Koordination der "Stabsarbeit" erfolgte durch den VA. Über die sichere Verbindung des BMLVS wurde täglich vor Mitternacht ein gemeinsamer Bericht an die drei Ministerien abgesetzt.

Informationsbeschaffung und Lagebeurteilung

Die Informationsbeschaffung, die vitale Wichtigkeit für das Treffen der richtigen Entscheidungen hatte, erfolgte in erster Linie vor Ort durch den VA selbst, aber auch über die Botschafterin, das Personal des HNaA und Auslandsösterreicher bzw. deren Firmen.

Die wichtigsten Kontakte des VA waren:

  • diverse Libyer, wichtige europäische und nordamerikanische sowie einzelne afrikanische und asiatische Botschaften;
  • das italienische operative Kommando COI (mit der dort befindlichen permanenten Verbindungszelle mehrerer NATO-Staaten; der VA Italien ist auch Verbindungsoffizier zum COI - Comando Operativo di Vertice Interforze; italienisches Einsatzführungskommando) und verschiedene italienische Kriegsschiffe vor der Küste (inklusive eines Flugzeugträgers);
  • militärische Elemente anderer westlicher Staaten in Libyen und an den Grenzen des Landes;
  • das multinationale NEOCC (Non-combatant Evacuation Operations Coordination Center, nach dessen Aktivierung am 24. Februar in Malta);
  • einzelne sehr hochrangige Offiziere in afrikanischen Nachbarstaaten.

Ein Informationsaustausch funktioniert in derartigen Krisensituationen nur auf der Basis "Geben & Nehmen". Wer nichts zu bieten hat, wird auch nicht kontaktiert. Die Zeit ist in derartigen Situationen einfach zu kostbar. Da die ÖB in Libyen sehr viel zu bieten hatte, wurde sie (bzw. der VA) auch laufend kontaktiert und entwickelte sich im Verlauf der Krise immer mehr zur Informationsdrehscheibe.

Trotz der schwierigen und unübersichtlichen Situation stand stets ein ziemlich genaues Lagebild zur Verfügung, das nach eingehender Analyse eine vorausschauende Beurteilung der weiteren Entwicklungen mit sehr hoher "Treffsicherheit" erlaubte. Dadurch waren die eigenen Maßnahmen den Ereignissen jeweils einen Schritt voraus.

Das KUT bei der Arbeit

Mittlerweile hatten sich die Kämpfe fast auf das ganze Land ausgebreitet. Ein Flüchtlingsstrom von mehreren 100 000 afrikanischen und asiatischen Gastarbeitern zog nach Tunesien und Ägypten und verstopfte die wenigen Grenzübergänge.

Aufgrund der sich weiter verschärfenden Sicherheitslage im Umfeld der Botschaft fiel am frühen Abend des 22. Februar der Entschluss zum Standortwechsel der ÖB in die Residenz der Botschafterin. Trotz sorgfältiger Routenwahl erfolgte die Fahrt des Konvois teilweise mitten durch Demonstrationen im Bereich der Stadtausfahrt.

Die vornehme Residenz der Botschafterin glich bald einem Heerlager. Zeitweise waren dort mehr als ein Dutzend zusätzliche Personen untergebracht. Das Speisezimmer wurde zum Lage- und Besprechungsraum umfunktioniert. Der Salon wurde zur Verbindungszentrale zu den Auslands­österreichern unter der Leitung des Vizekonsuls Mag. Wolfgang Gröblacher. Das TV-Zimmer diente für Besprechungen der drei höchsten Ressortvertreter. Die Beobachtung des Umfeldes konnte weitgehend von der Dachterrasse der Residenz sichergestellt werden. Als Versorgungsmaßnahme wurden Unmengen von Nudeln, Tomatensauce und Trinkwasser eingelagert, da in der Residenz zwar eine gewisse Menge an (Not-)Vorräten vorhanden war, aber nicht für eine so große Personenanzahl über mehrere Tage.

Da das Regime bemüht war, die Kommunikation der Aufständischen zu stören, waren die Handy-Netze ausgefallen. Auch bestimmte SATCOM-Netze wurden gestört. Lediglich eines der drei unterschiedlichen Systeme des KUT funktionierte zuverlässig.

Während der Nächte fanden im Umfeld der Residenz vereinzelte Gefechte statt. Aufgrund der mittlerweile völlig chaotischen Zustände auf dem Flughafen fiel am 23. Februar die Entscheidung zur weiteren Evakuierung aus Tripolitanien und der Cyrenaika auf dem Landweg. Die C-130K verblieb aber für allfällige Flüge in andere Landesteile und auch als Rückversicherung für das KUT selbst in Malta.

Daraufhin erfolgte die Zusammenstellung von Konvois in den einzelnen Landesteilen, die je nach Entwicklung der Sicherheitslage von Tripolis aus dirigiert wurden. Da an der Grenze nach Ägypten ein Chaos herrschte, waren dort gröbere Schwierigkeiten zu erwarten. Die Einreise der österreichischen Konvois konnte aber schließlich doch über einen ehemaligen Kurskameraden des VA, einen hochrangigen ägyptischen Offizier, problemlos sichergestellt werden.

Ein erster Konvoi aus Tripolis nach Tunesien wurde am frühen Morgen des 24. Februar unter Führung von zwei Beamten des EKO und in Begleitung von zwei Offizieren des ÖBH in Marsch gesetzt. Die Führung wurde dem EKO übertragen, da dessen Beamte für die Durchführung von Verhandlungen auf dem Weg besser geeignet erschienen.

Gleichzeitig begann sich der Austausch und das Abgleichen von Personenlisten mit anderen Staaten (und später auch mit dem NEOCC) voll zu bewähren. Dadurch konnten einzelne Österreicher mit britischen und italienischen Flugzeugen von entlegenen Plätzen in der Sahara abgeholt werden. Andere wurden von italienischen Kriegsschiffen ab Misratah und aus der Cyrenaika evakuiert.

Ein Problem bestand bei österreichischen Firmen mit einer größeren Anzahl an Mitarbeitern aus Staaten, die nicht der EU angehören. Diese wurden aber soweit wie nur möglich von der ÖB unterstützt. Letztendlich ließ keine der Firmen ausreisewillige nichtlibysche Mitarbeiter zurück. In Einzelfällen gelang großen Firmen die Abholung ihres Personals aus dem Osten und Süden des Landes mit eigenen Flugzeugen.

Maßnahmen anderer Länder

Im Laufe der nächsten Tage trafen zahlreiche KUT-ähnliche Teams anderer Länder mehr oder weniger gut vorbereitet in Tripolis ein, und das oben erwähnte NEOCC nahm die Arbeit auf.

Die USA evakuierten die Masse ihrer Staatsbürger mithilfe eines gecharterten Schiffes über den Hafen von Tripolis. Deutschland, Frankreich und Italien verwendeten mehrere militärische und zivile Transportflugzeuge, die verschiedene Flugplätze im Land anflogen. Italien setzte zusätzlich einige Kriegsschiffe für Landungsoperationen und einen Zerstörer zur Abholung von eigenen und EU-Staatsbürgern ein.

Im Laufe dieser Evakuierungen kam es auch zu mehreren Zwischenfällen. So wurde z. B. am 27. Februar die dreiköpfige Besatzung eines niederländischen Marinehubschraubers, der von der Fregatte HNLMS "Tromp" vor der libyschen Küste gestartet war, um in der Nähe von Sirte einen niederländischen und einen schwedischen Staatsbürger, in der Nacht ohne vorherige Information der libyschen Behörden, abzuholen, festgenommen und erst am 11. März nach Vermittlung Griechenlands freigelassen. Der Hubschrauber wurde beschlagnahmt.

Ein militärisches Transportflugzeug eines westlichen Landes, das ohne Genehmigung in den libyschen Luftraum eingeflogen und in Tripolis zur Abholung von Ausländern gelandet war, wurde festgehalten und erst nach Bezahlung eines Lösegeldes in sechsstelliger Höhe wieder freigelassen. Dies war der einzige Fall eines ungenehmigten Einfluges eines Transportflugzeuges nach Libyen während der gesamten Evakuierung.

Ein britisches Team mit sieben SAS-Soldaten und einem Offizier eines Nachrichtendienstes wurde am 4. März bei Benghazi von Rebellen festgenommen und erst am nächsten Tag wieder freigelassen. Es war ohne vorherige Absprache zur Kontaktaufnahme mit der Rebellen-Führung bei Nacht angelandet worden.

Die Evakuierung der ÖB

Am Abend des 24. Februar waren fast alle ausreisewilligen Österreicher aus Tripolitanien entweder bereits evakuiert oder in Tripolis zusammengeführt.

Die Lage spitzte sich nunmehr auch im Umfeld der Residenz und auf den Routen nach Tunesien immer mehr zu. In den westlichen Vororten der Hauptstadt fanden einzelne Gefechte statt. Bei dem mittlerweile von Rebellen eroberten Zawiyah stand eine Gegenoffensive der Regierungstruppen bevor. Die Berberstadt Zuwarah knapp vor der Grenze war ebenfalls in der Hand der Aufständischen. Auch dort zeichnete sich ein Gegenschlag der Regierungstruppen ab.

Da die Führung bzw. Unterstützung der restlichen Österreicher im Fezzan und in der Cyrenaika nicht notwendigerweise von Tripolis aus erfolgen musste (die einzelnen Ausreisen und Evakuierungen waren schon organisiert), fiel der Entschluss zur Evakuierung des Personals der ÖB unter Mitnahme der letzten ausreisewilligen Österreicher in Tripolis.

Daher erging der Auftrag an das Begleitteam des ersten Konvois zum sofortigen Einrichten eines neuen "Ausweichgefechtsstandes" in Zarzis in Tunesien (mit Unterstützung des krisenbewährten Teams der ÖB Tunis vor Ort). Das Team übernahm die Führung der noch im Fezzan und in der Cyrenaika befindlichen restlichen Österreicher ab dem Beginn der Verlegung der ÖB, da kein funktionierendes SATCOM "on the move" zur Verfügung stand.

Am Abend wurden alle verbliebenen ausreisewilligen Österreicher sowie einige weitere EU-Bürger in der Residenz und im Haus der Sekretärin der ÖB zusammengezogen, um eine rasche Abfahrt am nächsten Tag sicherstellen zu können. Der VA führte eine Detail­abklärung der Sicherheitslage an der gewählten Route durch.

Die Abfahrt erfolgte noch vor Sonnenaufgang, um die Stadt selbst während der ruhigsten Zeit des Tages verlassen zu können. Die Reise endete aber beinahe schon kurz nach Tripolis an einem Checkpoint der mittlerweile berühmt-berüchtigten 32. Brigade. Da die erforderlichen Papiere nicht vorhanden waren (und auch nicht sein konnten), sollte der Konvoi nach Tripolis zurückkehren. Dank des Verhandlungsgeschicks des Konvoiführers Oberstleutnant Haider und seines einheimischen Dolmetschers konnte die Fahrt nach längerem Aufenthalt aber doch fortgesetzt werden. Die Information über den österreichischen Konvoi wurde sogar an die nächsten Armee-Checkpoints weitergegeben, um Probleme zu vermeiden.

Doch die nächsten Schwierigkeiten kamen schon nach wenigen Kilometern. Da die Gegenoffensive der Regierungstruppen in Zawiyah bereits anlief, war die Durchzugsstraße gesperrt. Der VA lotste den Konvoi mit Hilfe von GPS-Navigation gezielt um die Gefechtszonen herum, wobei man teilweise unmittelbar hinter Feuerstellungen von Kampfpanzern des Regimes passierte.

Nach insgesamt 26 Checkpoints von Regierungstruppen und Rebellen, die zumeist problemlos passiert werden konnten, wurde die Grenze zu Tunesien um 1040 Uhr erreicht.

Dort kam es aufgrund eines Passvergehens eines Österreichers erneut zu Schwierigkeiten. Während der Schweizer Max Göldi wegen eines ähnlichen Vergehens fast zwei Jahre in Libyen festgehalten wurde, durfte der Österreicher dank der Hartnäckigkeit und dem Verhandlungsgeschick der Botschafterin schließlich doch nach Tunesien ausreisen.

Unmittelbar nach der Grenze wurde die erlösende Nachricht über die erfolgreiche Ausreise nach Wien abgesetzt, bevor Scharen von Journalisten über die Österreicher herfielen, um neueste Informationen über die Lage in Libyen zu erhalten.

Nach kurzem Aufenthalt wurde die Fahrt nach Zarzis fortgesetzt, wo der vom Begleitteam des ersten Konvois bereits aufgebaute "Ausweichgefechtsstand" bezogen wurde.

Ab dem nächsten Tag wurden Erkundungstätigkeiten und Gesprächsaufklärung an den beiden Grenzübergängen und entlang der Sahara-Grenze durch das ÖBH und die EKO-Teams durchgeführt, um das Lagebild weiter zu verdichten. Nach der Evakuierung der letzten ca. 250 ausreisewilligen Österreicher aus dem Süden des Landes im Wege internationaler Kooperation konnte der KUT-Einsatz Anfang März beendet werden. Die Ausweich-Botschaft wurde in Dscherba in bester internationaler und libyscher "Gesellschaft" eingerichtet und blieb auch für die nächsten Monate dort.

Lehren

Die drei wichtigsten Lehren aus den beiden erfolgreichen KUT-Einsätzen in Tunesien und Libyen sind:

Eine gründliche Vorbereitung legt den Grundstein für den Erfolg.

Beschaffung von Information, deren richtige Analyse und das korrekte Beurteilen der weiteren Entwicklungen sind die Voraussetzung für richtige Entschlüsse. Die Basis dafür wird durch eine entsprechende Ausbildung, fundierte Landeskenntnisse und ein dichtes Informationsnetzwerk gelegt.

Besonders wichtig ist die charakterliche Eignung der Teammitglieder. Selbstdarsteller, Egoisten und Ressortdenker haben in einem KUT keinen Platz. Es werden Teamspieler benötigt, die über entsprechende Sprachkenntnisse, Verhandlungsgeschick und kulturelles Einfühlungsvermögen verfügen.

Nachklang

Für den VA war es nur ein kurzer Abschied aus dem Kriegsgebiet. Bereits nach wenigen Wochen befand er sich erneut in der Region.

Nachdem Ende August Tripolis in die Hand der Rebellen gefallen war, wurde wiederum ein KUT zur Erkundung der Sicherheitslage und Vorbereitung der Wiedereröffnung der ÖB in Marsch gesetzt.


Autor: Oberst dG Mag. Wolfgang Pusztai, Jahrgang 1964. Einrückungstermin 1983; Einjährig-Freiwilligen-Ausbildung 1983/84 als Jäger/Jagdkämpfer; nach der Theresianischen Militärakademie ab 1987 Zugskommandant und stellvertretender Kommandant einer Ausbildungskompanie/Pionier beim Landwehrstammregiment 11; ab 1990 Kommandant einer Ausbildungskompanie/Jäger beim Landwehrstammregiment 11 bzw. Jägerregiment 11. Absolvierung des 14. Generalstabskurses (1993-1997, Magister); ab 1997 Verwendungen in der Vorschriftenabteilung des BMLV, als G3 und Leiter/Einsatzstab beim Militärkommando Burgenland, beim I. Korps und in der Generalstabsgruppe B/BMLV; ab 2003 Referatsleiter und später stellvertretender Leiter der Abteilung Militärpolitik sowie stellvertretender Leiter der Abteilung Strukturplanung/BMLV. Auslandseinsätze/-verwendungen als Staff Officer J5/9 (CJTF) RHQ AFSOUTH, J2 EU Command Element/Operation Concordia (FYROM), Chief of Staff/MNTF(N)EUFOR/BiH, National War College/National Defense University, Washington D.C., USA (2006/07, Master of Science in National Security Strategy, Distinguished Graduate). Ab Ende 2007 Verteidigungsattaché in Italien, Griechenland, Tunesien und Libyen sowie Verbindungsoffizier zum COI (italienisches Einsatzführungskommando). 2011 Leiter der KUT (Krisenunterstützungsteams)/BMLVS in Tunesien und Libyen. Ab August 2012 stellvertretender Leiter der Abteilung Militärstrategie/BMLVS. Seit Juli 2013 mit der Führung der Abteilung Militärstrategie/BMLVS betraut.

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