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Die strategische Lage zum Jahreswechsel

von Lothar Rühl

Kurzfassung

◄ Das herausragende Ereignis des vergangenen Jahres war der Interventionskrieg der USA und Großbritanniens mit einigen Verbündeten in einer internationalen Koalition im Irak mit dem erklärten Ziel, einen Regimewechsel in Bagdad herbeizuführen und Saddam Hussein seiner Massenvernichtungsmittel zu berauben. Dieses von den USA vorgebrachte Argument erwies sich dabei als ebenso kontraproduktiv wie die Behauptung, der Irak unterstütze den internationalen Terrorismus: für beides konnten keine schlagkräftigen Beweise gefunden werden.

Washingtons Fokussierung auf den Irak hatte zur Folge, dass Afghanistan zu einem Nebenkriegsschauplatz verkam, der nur allzu gerne den Verbündeten der USA überlassen wurde, während der unbewältigte Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern aus dem Golfkrieg ausgeklammert wurde. So wurde Amerikas "Krieg gegen den Terrorismus" in arabischen Augen zu einem Krieg gegen die islamische Welt zwecks Sicherung der strategischen Ölreserven.

Abgesehen davon trieb der Krieg ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrats eine tiefe Kluft zwischen die USA und ihre europäischen Verbündeten, insbesondere Frankreich und Deutschland, die zusammen mit Russland Washingtons Bestrebungen konterkarierten, den Krieg legitimieren zu lassen. Die USA agierten gemäß ihrer im September 2002 verabschiedeten Nationalen Sicherheits-Strategie, die präemptive Prävention im direkten Zusammenhang mit pro-aktiver Bekämpfung des Terrorismus proklamierte, ohne potenzielle Folgen dieser Vorbildwirkung für die Gewaltanwendung durch andere Staaten zu bedenken.

Im Irak-Krieg traten weder die vorhergesagten pessimistischen Folgen des Krieges wie hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung und Streitkräften, die Eskalation des Konflikts auf Nachbarstaaten oder Flüchtlingsströme ein, noch erwiesen sich die amerikanischen Hoffnungen auf ein für die "Befreiung" dankbares irakisches Volk, das unverzüglich an den Wiederaufbau des Landes schreiten würde, als realistisch. Die Besetzung des Landes war schlecht vorbereitet, und das Widerstandspotenzial der irakischen Guerilla wurde ebenso unterschätzt wie die sich aus der Besetzung des Landes ergebenden Kosten.

Ein strategischer Rückzug wie aus Afghanistan 2002/03 ist für die USA im Irak keine Option wegen des damit verbundenen Prestigeverlustes und der von einem instabilen Irak ausgehenden Unsicherheit für die Region Mittlerer Osten, der längst zum Zentrum amerikanischer Machtpolitik geworden ist. Dabei geht es nicht nur um die Sicherung strategischer Ressourcen, sondern auch um die Demokratisierung der gesamten Region, was sich als allzu ehrgeiziger Plan herausstellen könnte.

Gegenüber dem Irak zeigte Nordkorea als offen proklamierter Proliferationsfall die Grenzen amerikanischer Machtpolitik auf: Washingtons Bereitschaft, Pjöngjang gegenüber jene Geduld zu üben, die man sich gegenüber dem Irak trotz des Drängens der Verbündeten versagte, machte dies mehr als deutlich. Hingegen half im Falle des dritten Staates der "Achse des Bösen", Iran, geschlossenes Auftreten, Teheran zu einem Einlenken in den Kontrollen seines Atomprogramms zu bewegen. ►


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Die strategische Lage zum Jahreswechsel

Das herausragende Ereignis des Jahres 2003 war der Krieg im Irak, geführt als Interventionskrieg der USA und Großbritanniens mit einigen Verbündeten in einer internationalen Koalition, mit dem erklärten Zweck einer "Entwaffnung" des Irak im Bereich "der Massenvernichtungsmittel" und als Mittel dafür einem "Regimewechsel" in Bagdad. Beide Zwecke sollten dem weiter gesteckten Ziel einer "strategischen Situationsveränderung" (US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld) im Mittleren Osten vom Golf bis zur Levante dienen. Der dritte Golfkrieg seit 1980 wurde von Präsident Bush jun. als Teil des "Krieges gegen den Terrorismus" bezeichnet, obwohl eine Verbindung des Irak unter der Diktatur Saddam Husseins zu derzeit aktiven, insbesondere islamistischen Terrororganisationen wie der Al Qaida bisher weder nachgewiesen werden konnte noch seither ABC-Kampfstoffe im Irak gefunden wurden.

Die politische Gleichung Irak-Terrordrohung erwies sich als ein Nachteil für die amerikanische Politik, weil die Konzentration auf den Irak - seit dem Sommer 2003 von Bush als "zentraler Schauplatz des Krieges gegen den Terrorismus" bezeichnet - die erkannten Urheber des Anschlags vom 11. September 2001, deren Herkunft, Operationsbasis, Unterstützung und Verbindungsnetze aus dem Zentrum des Geschehens verdrängte, den unbewältigten Konflikt samt der eskalierenden Unsicherheit in Afghanistan als einen Nebenkriegsschauplatz Verbündeten überließ und das internationale Problem der Terrorbedrohung auf ein arabisches Land mit einem großen Anteil am Golföl einengte.

Diese Fokussierung hatte für die US-Politik im Mittleren Osten auch wegen des noch immer unbewältigten Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern, die politisch von allen arabischen Staaten unterstützt wurden, einen kontraproduktiven Effekt. Beide Konflikte, der dritte Golfkrieg, gegen den Irak als Landkrieg von arabischem Boden aus geführt, und der Palästinakonflikt, der längst in einen akuten Kriegszustand eskaliert war, waren kontraproduktiv für die politische Strategie Washingtons zur Kontrolle der Golfregion. Das andauernde Versagen der amerikanischen Vermittlung zwischen Israel und den Palästinensern und das offensichtliche Unvermögen der Regierung Bush (wie zuvor der Regierung Clinton), Israel zu der notwendigen Mäßigung im Siedlungsausbau und in der gegenoffensiven Abwehr der Terrorbedrohung zu bewegen, Präsident Bushs Neigung auf die israelische Seite und die überwiegende Kritik an der palästinensischen Führung unter Arafat wegen deren mangelnder Bekämpfung der terroristischen Organisationen bestärkten die in der arabisch-islamischen Welt ohnehin vorherrschende Meinung, dass die USA mit dem jüdischen Staat gegen die Araber im Bunde und an einem territorialen Kompromiss über Palästina nicht wirklich interessiert seien. Trotz aller diplomatischen Versuche, auf beide Kontrahenten für einen historischen Kompromiss einzuwirken und den seit dem Herbst 2000 zusammengebrochenen "Friedensprozess" wieder in Gang zu bringen, erschienen die USA als Partei im Konflikt hinter Israel, der jüdische Staat in Palästina als amerikanischer Vorposten.

Der Krieg gegen den Terror: Völkerrechtliche Aspekte

So konnte der amerikanische Krieg gegen den Irak in arabischen Augen weniger als Teil des "Krieges gegen den Terrorismus" denn als Krieg zur Schwächung der Araber und zur Kontrolle des arabischen Golföls, ja des gesamten Mittleren Ostens erscheinen. Dieses Bild zeichneten nicht nur die islamistischen Terroristen der Al Qaida, sondern auch die arabischen Medien und viele islamische Prediger in den Moscheen. Entsprechend war das Bild, das sich das arabische und muslimische Publikum vom Irak-Krieg und von der amerikanischen Politik machte. Dieses Feindbild Amerika wurde aus der Kontroverse im UNO-Sicherheitsrat mit Verstärkung durch die französisch-deutsch-russische Opposition gegen die Ermächtigung der USA zur militärischen Gewaltanwendung zurückgespiegelt: die Bestreitung der internationalen "Legitimität" dieses Krieges ohne "UNO-Mandat".

Damit aber war der Irak als Objekt einer "völkerrechtswidrigen" und "weder moralisch noch politisch akzeptablen" (Präsident Chirac) Invasion ausgewiesen und "die irakische Souveränität" - v.a. von Frankreich - zum Kriterium des Streits gemacht, mit der Konsequenz, dass den USA und Großbritannien "Völkerrechtsbruch" und "Angriffskrieg", dazu "Souveränitätsverletzung" und "Missachtung der Vereinten Nationen" vorgeworfen werden konnte. Die Debatte im britischen Unterhaus und die Diskussionen in Europa mit prononciert anti-amerikanischen Akzenten und einer in den Medien weit verbreiteten Polemik gegen die Regierung Bush und den "amerikanischen Imperialismus" schienen den Gegnern der USA in Asien und Afrika Recht zu geben und spiegelten eine "Isolierung" Amerikas vor, die mehr Schein als Wirklichkeit war. Aber dieses Bild bestätigte das arabische Wunschdenken. Schon deshalb reagierten die Volksmassen, "die arabische Straße", wütend auf die Kriegseröffnung gegen den Irak wie danach auf die andauernde anglo-amerikanische Besetzung des Landes. Damit war allen arabischen Regierungen, besonders den mit den USA liierten in Riad, Amman und Kairo, neben dem innenpolitischen Problem der Kontrolle ihrer Bevölkerungen auch ein akutes Problem des um sich greifenden Terrorismus im Namen des Islam und der arabischen Freiheit gestellt - so wie dies Osama bin Laden seit Jahren in seiner Agitation gegen die Klienten Amerikas, v.a. gegen die Monarchien der Golfstaaten, mit der Parole vom "Heiligen Krieg" und den Terrorakten der Al Qaida getan hatte.

Herrschaftsformen in Frage gestellt

Andererseits konnte auch die in Washington proklamierte "Iraqi Freedom" oder "Befreiung des irakischen Volkes" in den Augen der übrigen arabischen und sonstigen orientalischen oder afrikanischen Regime wenig Hoffnung auf bessere Zeiten unter der Sonne Amerikas als Universalverwalter der Menschenrechte und der Völkerfreiheit mit einem selbst verliehenen Vollstreckungsauftrag zur "Verteidigung der Zivilisation" (Bush) und "Demokratisierung" der Region verbreiten: Ein "demokratisches Modell Irak", in Washington den bestehenden absoluten Monarchien, Diktaturen und autoritären Regierungen des Mittleren Ostens gegenübergestellt, als Vorbild für eine "Liberalisierung" und "Demokratisierung" empfohlen, mit amerikanischer Kapitalinvestition auf der Basis der reichen Erdölreserven und des gewaltigen Nachholbedarfs an technischer Modernisierung und Infrastrukturerneuerung ausgerüstet, konnte (und wird künftig) kaum die Zustimmung der von einer solchen Entwicklung in ihrer Nachbarschaft bedrohten Machthaber finden. Dies ganz unabhängig von der offenen Frage, ob ein solches Modell-Experiment im Irak gelingen wird, denn schon der Versuch könnte andere Regime destabilisieren und alle Klienten Amerikas vor das Rätsel Washingtoner Politik stellen: Auf wen wird Amerika sich künftig im Mittleren Osten abstützen, wen wird es schützen und unterstützen, wenn die Transformation im Irak im amerikanischen Sinne gelingen sollte? Wenn, wie die US-Regierung erklärt, "das Erdöl des Irak dem irakischen Volke gehört", wem soll künftig das Öl in Saudi-Arabien oder in Kuwait und in den kleineren Golf-Emiraten gehören?

Für die etablierten Monarchien und Diktaturen ist diese Parole vom Volkseigentum an den Bodenschätzen der Region ein revolutionärer Appell, der nur zu Unruhe und Umsturz im eigenen Land ermutigen kann.

Seit dem Frühjahr 2002 hatten die USA eine für ihre Politik extrem ungünstige Stimmungslage und dazu eine ambivalente Interessenlage für die verschiedenen Regierungen im Orient geschaffen. Da kein einziges Land zwischen Indien und der Türkei eine frei gewählte demokratische Regierung und rechtsstaatliche Ordnung hat, war in der Irak-Krise jedes Regime im weiteren Mittleren Osten dem doppelten Risiko innerer Unruhen und einer amerikanischen Interventionsdrohung wegen angenommener Unterstützung von Terroristen und "terroristischen Staaten" nach amerikanischem Urteil ausgesetzt. Diese potenzielle Gefahr bewirkte eine politische Solidarität der gegenseitigen Rückversicherung in einer diplomatischen Abwehrfront bei der UNO und in den regionalen Organisationen, besonders in der Konferenz Islamischer Staaten und in der Arabischen Liga, für den unwahrscheinlichen, aber nicht ausgeschlossenen Fall amerikanischer Präventiv- oder Vergeltungsschläge gegen andere Länder über die völkerrechtlichen Barrieren, die UNO-Satzung und internationale Grenzen hinweg. Dies war schon im Frühjahr 1999 anlässlich des Kosovo-Krieges der NATO ohne UNO-Ermächtigung nicht anders gewesen. Aber dabei handelte es sich um ein europäisches Problem, und der kurze Krieg fand in Europa statt. 2003 wurde der Krieg auf arabischem Boden in einem alten Kulturland des Orients geführt.

Das unmittelbare politische Resultat der Verbindung des Irak-Krieges mit der andauernden israelischen Wiederbesetzung großer Teile des Autonomiegebietes im Westjordanland seit Beginn der zweiten Intifada Ende September 2000 mit zunehmenden Terrorakten auf palästinensischer und Vergeltungsschlägen auf israelischer Seite war die Aufspaltung der nach dem 11. September 2001 von den USA zusammengebrachten "internationalen Koalition" für den Kampf gegen den Terrorismus im Allgemeinen und gegen den islamistischen Terror im Besonderen. Obwohl gute Gründe, beruhend auf unbestreitbaren Tatsachen und seit langem erkannten Zusammenhängen im Mittleren Osten, dafür sprachen, den Irak politisch durch internationalen Druck oder notfalls durch einen Krieg zu entwaffnen, um das Aggressionspotenzial und das latente Risiko einer irakischen Kontrolle über den arabischen Teil des Golföls in der Zukunft definitiv zu beseitigen, war ein Krieg wegen der politischen Folgen im Irak selber und in der Region, die unberechenbar waren, riskant. Um die Sicherheitslage Saudi-Arabiens und der kleineren arabischen Golfstaten zu verbessern und den Feinden eines Friedens zwischen Israel und den Arabern in Palästina den Rückhalt in Bagdad zu nehmen, war die Identifizierung des Irak als "Terrorstaat" (Bush) und dessen Einordnung zusammen mit dem Iran und Nordkorea auf einer "Achse des Bösen" eine unnötige und ebenso fragwürdige wie für die USA im Orient nachteilige Feindansprache, die früher oder später einen politischen Zwang zum Krieg ausüben musste - gleichgültig, ob ein Krieg gegen den Irak wirklich notwendig, der Ausgang für die USA nützlich und dessen Folgen für die Region positiv sein würden. Die Einwände gegen die Kriegsoption 2002/03 betrafen auch das Verhältnis zu Europa, die unvermeidliche Belastung der atlantischen Allianz, die sich gerade nach dem 11. September 2001 geschlossen an die Seite Amerikas gestellt, den Bündnisfall proklamiert und militärischen Beistand angeboten hatte, die seit Herbst 2001 auch indirekt durch mehrere ihrer Mitglieder militärisch in Afghanistan, in Ostafrika und in den angrenzenden Seegebieten engagiert war, und natürlich die Beziehungen Washingtons zur UNO.

Die Neuordnung des Mittleren Ostens

Diese schon seit dem Frühjahr 2002 deutlich erkennbare Verlagerung der amerikanischen Prioritäten von Afghanistan auf den Mittleren Osten, wo ein alter Feind endgültig niederzuwerfen war, sollte im Frühjahr 2003 mit dem militärischen Sieg und der Einnahme Bagdads am 9.4. gekrönt, danach zu einer großen Operation der amerikanischen Politik im Mittleren Osten, eben der "strategischen Situationsveränderung", genutzt werden. Die Regierung Bush versprach sich davon, wie ihre Minister und der Präsident selber deutlich machten, eine nachhaltige Entlastung ihrer arabischen Verbündeten von der US-Militärpräsenz am Golf, die noch für unbestimmte Zeit zur Erhaltung der regionalen Sicherheit nützlich sein würde, den lange Zeit verfehlten Durchbruch zu einer Friedensregelung in Palästina und die Neuorientierung der arabischen Politik auf Kooperation mit Israel unter dem Schutzschirm der amerikanischen Vormacht. Das Beispiel Irak sollte auf den Iran und auf Syrien in diesem Sinne wirken. Ein "Modell Irak" für einen Prozess der Demokratisierung im Inneren eines föderativen Staates sollte auch ein Beispiel für Demokratisierung und Liberalisierung der arabischen Welt wie im Osten des Iran geben. Die Golfregion würde auf diese Weise zu einer Stabilitätszone auf der Basis demokratischer Entwicklung bei weiterer Öffnung nach Westen und in enger Verbindung zu Amerika werden. Der Zugang zum Golföl würde langfristig gesichert - was besonders für Europa und Japan von Vorteil wäre -, und eine Abrüstung aller Länder der Region auf das für ihre Verteidigung notwendige Maß würde eine Entmilitarisierung der Politik im Mittleren Osten möglich machen. Die verbündete Türkei würde als regionaler Stabilitätsanker und strategischer Partner der USA als Interventionsbasis an der Kontrolle des Mittleren Ostens beteiligt, sodass US-Militärpräsenz nicht überwiegend auf arabischen Boden abgestützt werden müsste. Demokratische Regierungen oder jedenfalls solche in einem Transformationsprozess ihrer Länder in Richtung auf demokratische Verhältnisse würden zuverlässigere Partner sein. Andererseits war weiterhin Rücksicht auf die absoluten Monarchien der Golfstaaten und auf autoritäre Regime wie das in Kairo geboten, um die bestehende politische Stabilität nicht zu erschüttern, sondern allmählichen inneren Wandel herbeizuführen. Mit der Verlegung des Schwerpunkts der US-Militärpräsenz am Golf aus Saudi-Arabien nach Kuwait, Katar und in andere kleine Küstenstaaten, die schon vor dem Kriegsbeginn vollzogen war, würde es möglich, künftig die Golfküsten von See her, aber auf die Küste abgestützt, militärisch zu kontrollieren.

Die Niederlage des Irak sollte den terroristischen Organisationen eine Basis entziehen und die Proliferation nuklearer Rüstung in der Region definitiv unterdrücken. Der Irak-Krieg hatte deshalb eine geopolitisch-strategische Bedeutung weit über das irakische Erdöl hinaus. Er öffnete eine Perspektive für den Versuch einer politischen Neuordnung des Mittleren Ostens.

In diesem Ansatz lag der Hauptvorgang der internationalen Politik im Jahre 2003, eine Entwicklung, die weit über dieses Jahr hinaus wirken dürfte und noch lange nicht abgeschlossen ist - unabhängig vom Ausgang dieser neuen Partie des "Great Game" um eine Neuordnung des "Larger Middle East" zwischen Indien, Zentralasien, dem Golf und dem Mittelmeer, verbunden damit um eine für die Weltwirtschaft nützliche und für Amerika vorteilhafte Ressourcenkontrolle in einer kritischen Region an der Peripherie des zwei der drei weltwirtschaftlichen Großräume einschließenden eurasischen Kontinents und damit kritisch auch für die materielle Grundlage einer stabilen globalen Sicherheitsordnung.

Priorität Mittlerer Osten

Diese Bedeutung aller mittelöstlichen Vorgänge ist schon seit mehr als hundert Jahren evident. Sie war der Hauptgrund für die imperialen Rivalitäten und die Ressourcenkonkurrenz zwischen den europäischen Großmächten vom Ende des 19. Jahrhunderts bis nach dem Zweiten Weltkrieg, als die USA gegenüber der Sowjetunion als neuer Gegenspieler an die Stelle des britischen Empire traten und sich als die dominante externe Macht zu etablieren begannen - ohne bisher als Ordnungsmacht die politischen Verhältnisse gestalten oder die Abgrenzungen zwischen den meist künstlichen Staaten der Region verändern zu können. Für die amerikanische Politik gab es seit dem Ende des Ost-West-Konflikts in der noch nicht abgeschlossenen Zeit des Übergangs von der globalstrategischen Bipolarität Moskau - Washington, mit Peking als dem dritten Machtpol noch nicht über dem Horizont, zu einer Situation, in der Amerika als "singuläre Weltmacht" für einen historischen Moment dominiert, keine andere Priorität globaler Aktion: Weder die Neuordnung Europas, die zwar noch nicht abgeschlossen ist, aber von Washington aus gelenkt werden kann, noch die Herausforderungen im Fernen Osten zwischen Japan, China und Russland mit der koreanischen Halbinsel und Taiwan als Brennpunkten einer unbewältigten Nachkriegsproblematik oder die in Südasien zwischen Indien und Pakistan mit dauernder Kriegsgefahr konnten mit dem Vorrangproblem Mittlerer Osten um die Priorität auf dem Welthorizont Amerikas konkurrieren. Selbst die Herausforderung durch Nordkorea und dessen eingeleitete Atomrüstung mit dem Bruch, danach der Aufkündigung des Kernwaffensperrvertrags konnte - wie schon seit zehn Jahren - hingenommen werden, solange die Optionen für Gegenproliferation offen gehalten werden konnten. Die Priorität am Golf war mit Vorrang durch Intervention zu bedienen. Diese Auffassung herrschte auch im Kongress der USA und in der öffentlichen Meinung Amerikas vor.

Dies wäre auch so gewesen, wenn am 11. September 2001 nicht in Amerika "der Blitz eingeschlagen" (Bush) hätte. Doch die Verbindung zwischen diesem Ereignis, das Amerika das Gefühl der Unverwundbarkeit nahm und Washington zum Gegenschlag zwang, mit dem islamischen Orient fokussierte die Reaktion der USA nach dem Feldzug in Afghanistan sofort auf den Mittleren Osten. Dort liegt das größere Potenzial für Angriffe auf die nationale Sicherheit Amerikas, für eine ständige Bedrohung Europas und amerikanischer Verbündeter mit einer in absehbarer Zukunft durchaus möglichen Kombination zwischen den wachsenden Einkünften aus dem Erdöl, der Wirtschaftsmacht des vom Golf gesteuerten Ölkartells, ABC-Waffen (Massenvernichtungsmittel), Raketenrüstung und Terror als Angriffsmethode mit Hilfe von im Orient entstehenden Untergrundorganisationen, die sich dank ihrer internationalen Verbindungen und der Handelsbeziehungen global ausbreiten, aber gegen Amerika oder Europa, Australien oder südostasiatische Verbündete der USA als Angriffsziele zuspitzen können. Eben dies war offensichtlich das seit dem ersten Terroranschlag mit Sprengstoff auf das World Trade Center in New York 1993 gestellte, aber nicht bewältigte große Sicherheitsproblem.

Clintons Vorarbeit

Diese neue Herausforderung war in Washington längst erkannt. Die Regierung Bush jun. nahm sie nur in einer durch den Anschlag vom 11. September 2001 dramatisch veränderten psychologischen Situation Amerikas und des Orients wieder auf. Schon Präsident Clinton hatte Dutzende von Marschflugkörpern mit konventionellen Gefechtsköpfen auf Ziele in Afghanistan und im Irak abfeuern lassen. Allerdings hatte die Regierung Clinton sich nicht besonders für die damals schon bekannte Al Qaida und die Person des international notorischen Osama bin Laden interessiert, dessen Auslieferung der Sudan Washington und Riad angeboten hatte, dafür umso mehr für den Irak und Saddam Hussein als Hauptfeind und größere Gefahr. Es war die Regierung Clinton, die den Irak als Paradebeispiel für "rogue states" (Schurkenstaaten) ausgewählt und mit der möglichen Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel identifiziert hatte. Es war auch die Regierung Clinton, der als erster von europäischen Partnern, in erster Linie Frankreich, von Russland und China, damals auch von Indien, "Unilateralismus" in der internationalen Politik vorgeworfen worden war. Präsident Clinton hatte während seiner Regierung den Leitsatz aufgestellt, die USA würden allgemeine internationale Interessen im Rahmen der UNO und mit allen interessierten Staaten verfolgen, regionale Interessen v.a. mit regionalen Partnern, insbesondere mit ihren Verbündeten in Europa oder Asien, exklusive nationale Interessen oder solche, mit denen andere Staaten nicht übereinstimmten, aber allein mit ihren eigenen Mitteln zu eigenen nationalen Zwecken. Schon in diesem Leitsatz war der Vorbehalt deutlich, notfalls oder auch mit Vorrang allein zu handeln und nur solche Partner zu beteiligen, die etwas Nützliches beitragen könnten.

Schon vor der Jahrhundertwende war in Washington der Satz von der "Koalition der Fähigen und der Willigen" (coalition of the able and the willing) geprägt und offiziell benutzt worden: "Ad-hoc-Koalitionen" für bestimmte Sicherheitsbedürfnisse und Krisenfälle außerhalb der gemeinsamen Verteidigung. Insofern hat die Regierung Bush mit ihrer Strategie für nationale Sicherheit durch Präventivschläge und Intervention mit ausgewählten Partnern nichts erfunden, wohl aber frühere Konzepte neu aufgearbeitet und in eine prägnante Form gebracht, die Ende September 2002, ein Jahr nach dem Terrorangriff auf Amerika, in dem Dokument "Nationale Sicherheits-Strategie" als geschlossene Konzeption neu aufgelegt wurde. Die operativen Schlüsselbegriffe im militärischen Teil dieser Strategie, "präemptive Prävention" und "antizipatorische Reaktion" durch "offensive Defensive", stehen in direktem Zusammenhang mit der "pro-aktiven" Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Weiterverbreitung von ABC- Massenvernichtungsmitteln, damit auch von Ländern, in denen diese erzeugt, gelagert, weitergegeben oder für Anwendung gegen andere Länder bereitgehalten werden. Doch sie sollen auch Anwendung auf jede andere Bedrohung der Sicherheit Amerikas oder überseeischer Positionen der USA inklusive mit diesen verbündeter Länder finden.

Anarchie durch Prävention

"Präemptive" Angriffe sollen unmittelbare Bedrohungen beseitigen; sie stellen die Speerspitze der militärischen Prävention dar, anders gesagt: die vorauseilende Vorhut einer weit ausgreifenden beweglichen Vorwärtsverteidigung Nordamerikas. Jede Strategie der Prävention, umso mehr eine solche "präemptiver" Präventivschläge (wie sie in der nuklearen Strategie im Falle eines Raketenstartalarms gegen erkannte Raketenstellungen und Raketen-U-Boote auf Angriffsreichweite in See vorgesehen waren), setzt die Initiative zur Kriegseröffnung, also im Zweifel zu einem Angriffskrieg, voraus. Mit dem Völkerrecht, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde, ist eine solche Präventivaktion nicht vereinbar. So verstanden es auch die meisten Regierungen, darunter die Alliierten der USA in der NATO und im Orient. Die Reaktionen auf die neue Sicherheits-Strategie für Amerika machten deshalb schon Monate vor dem Beginn des Irak-Krieges die Ablehnung amerikanischer Präventivkriegsaktionen gegen andere Länder und die Besorgnisse über eine Entwicklung deutlich, deren Resultat einerseits ein Faustrecht der stärksten Macht in Verfolgung eigener Interessen bei Bevormundung ihrer Verbündeten und politischen Klienten, andererseits aber auch ein Nachahmungseffekt seitens anderer größerer Länder mit hoch entwickelten technischen und militärischen Fähigkeiten mit der Folge einer Anarchie nationaler Gewaltanwendung sein könnte - und aller Erfahrung nach auch sein würde. In jedem Falle aber bedeutet Präventivangriffsstrategie seitens einer dominanten Großmacht, sei es Amerika, China, Russland, eines Tages auch Indien, dass eine solche Macht die politische und militärische Bedeutung anderer größerer Länder, mit denen sie konkurriert, herabsetzen und sich durch ihre Bereitschaft, überlegene militärische Fähigkeiten anzuwenden, um Konflikte zu entscheiden und ihre Interessen zu wahren, überspielen, marginalisieren oder sogar neutralisieren könnte. Diese strategische Eskalationsdominanz in einer internationalen Krise schafft oder stärkt Hierarchien zwischen den Nationen.

Im Falle Amerikas bedeutet sie die konsequente Nutzung einer Weltmachtstellung und militärischen Überlegenheit zur regionalen wie zur globalen Machtentfaltung: am Golf, im Indischen Ozean, im Mittelmeer, in Europa wie auf dem Atlantik und im Pazifik. Hier liegen die erkennbaren objektiven Gründe für die politische Opposition Frankreichs gegen die "Hypermacht" Amerika, eine Vokabel, die vom damaligen französischen Außenminister Hubert Védrine schon lange vor dem dritten Golfkrieg gegen die USA unter der Regierung Clinton gebraucht wurde und seither von ihm und von anderen französischen Politikern benutzt wird, um eine politische Pathologie der Machthypertrophie im Falle der USA zu konstatieren und daraus den Schluss abzuleiten, dass diese Hypermacht gemeingefährlich sei und deshalb in ihre Schranken gewiesen werden müsse.

Unipolarität versus Multipolarität

Die Schranken konnten im Weltsicherheitsrat der UNO bei Abstimmungen über Resolutionen zur Gewaltermächtigung gegen Länder, die in Washingtoner Sicht Bedrohungen der internationalen Sicherheit oder sogar konkret der Sicherheit Amerikas darstellten, aufgerichtet werden. Dies war die Ausgangslage für den politischen Konflikt um die Kriegsoption der USA gegen den Irak, der ausbrach, als Washington sich für eine internationale militärische Intervention im Irak zunächst auf die Resolution 1441 vom November 2002 berief, die nach amerikanischer Lesart schon eine bedingte Ermächtigung enthielt, später aber zeitweilig eine explizite Ermächtigung zum gewaltsamen Eingriff im Irak in einer neuen Resolution suchte. Frankreichs Staatspräsident Chirac versuchte in Europa und bei der UNO in New York dagegen eine Sperrstellung aufzubauen und darüber hinaus eine internationale Koalition als Gegenmacht zu den USA auf einer europäischen Achse Paris-Berlin-Moskau mit einer Verlängerung nach Peking zu bilden.

Er hatte schon seit seinem Amtsantritt 1995 mehrere Initiativen in dieser eurasischen Richtung wie in Westeuropa ergriffen und dafür - ganz im Sinne früherer russischer und chinesischer Reaktionen auf amerikanische Machtentfaltung - das Wortbild "Multipolarität versus Unipolarität" der internationalen Verantwortung für die globale Sicherheit gewählt. Der Begriff "Multipolarität" war weder in Paris noch in Moskau oder in Peking je konkret definiert worden. Auch war die angestrebte Konsequenz eines "multipolaren" internationalen Systems nicht verdeutlicht worden: Was soll eine "multipolare" Sicherheit sein und was soll sie den Nationen oder der UNO an Stabilität bieten? Die offensichtliche Folge würde eine globale Gleichgewichtspolitik zwischen den größeren Mächten sein, die alle anderen Staaten dominieren würde, solange sie funktionierte, oder die mit der UNO auch alle anderen Länder mit weniger Macht und Einfluss einem ungeregelten Kräftespiel zwischen gegensätzlichen Interessen aussetzen würde. Wäre dann die reale Alternative geteilte Dominanz einiger Großmächte oder Anarchie? Oder könnte es zu einer Harmonie kommen, die nur von der singulären "Hypermacht" Amerika verhindert würde? Antworten auf solche Fragen wurden von keinem der Kandidaten für ein solches Großmächte-Konzert der "Multipolarität" gegeben. Dagegen wurde dem "amerikanischen Unilateralismus" das Versprechen einer "Multilateralität" der internationalen Sicherheit und Ordnung zwischen mehreren "Zentren der Entscheidung" gegenübergestellt, jedoch nicht mitgeteilt, wo solche Zentren dem amerikanischen Machtpol gegenübergestellt werden könnten - außer in Paris, Moskau und Peking.

Russland und - etwas weiter von der Ablehnungsfront abgesetzt - China unterstützten die französische Opposition gegen jede Gewaltaktion zur "Entwaffnung" des Irak. Doch beide behielten sich in der Krise des Weltsicherheitsrates im Frühjahr 2003 vor, wie weit sie in dieser Opposition gehen und wo sie in Washington ihren Vorteil suchen würden. Die Konstellation der Mächte zueinander war wie die der Interessen aller regionalen Akteure im Mittleren Osten zerbrechlich und hinter der Front der UNO-Diplomatie politisch nicht belastbar. Dasselbe galt für die Konstellation in der EU und im weiteren Europa. Es war von vornherein offensichtlich, dass keine Macht der Welt die USA an einem Krieg gegen den Irak Saddam Husseins hindern könnte, und dass es in Wahrheit nur noch darum ging, einem amerikanischen Krieg die internationale Legitimität zu verweigern. Das Letztere war mit einem hohen Risiko für die Handlungsfähigkeit des UNO-Sicherheitsrates und mit politischen Risiken im Verhältnis zum Irak, dazu mit schweren Belastungen der Beziehungen zu den USA, verbunden.

Prognosen zum Krieg

Dies war die Ausgangslage für den Konflikt, der nach einem letzten Ultimatum Washingtons in der Nacht zum 20.3. mit Luftangriffen auf ausgewählte strategische Ziele nach einem verfehlten "Enthauptungsschlag" gegen die Person Saddam Husseins im Irak begann und in New York bei der UNO auf der diplomatischen Ebene für die Dauer des angloamerikanischen Feldzugs, dessen Ende Präsident Bush auf den 1.5. als "Ende der militärischen Hauptkampfhandlungen" ansetzte, unterbrochen wurde. Dieser weitere Irak-Konflikt erfasste politisch die gesamte arabisch-islamische Welt, das Verhältnis Europas zu Amerika mit der Doppelspitze der französisch-deutschen Opposition, die von einer neuen - schon vor Kriegsbeginn vom Verhalten der einzelnen Mitgliedstaaten markierten - Frontenstellung gespaltene EU und die gleichfalls politisch in zwei Lager geteilte NATO, die von der Blockierung ihres Sicherheitsrates gelähmte UNO und die Beziehungen nahezu aller Länder Asiens und Afrikas zu Amerika.

Im Irak selber hielten sich die vorhergesagten unmittelbaren Folgen des Krieges, die tatsächlich eintraten, und die Annahmen über Kriegsverlauf und Kriegsfolgen, die sich nicht bestätigten, die Waage: Die Vorhersagen über hohe Verluste der irakischen Bevölkerung, von manchen (v.a. von Vertretern "humanitärer Organisationen") in ihren Schätzungen nach Hunderttausenden beziffert, über landesweite Zerstörungen durch die ohne Begründung und Hinweise auf Tatsachen als "Bombenkrieg" bezeichneten Luftangriffe und den Landkrieg, über "Massaker" in blutigen Schlachten, über "ein zweites Stalingrad" in Bagdad mit den US-Truppen in der Verlierer-Rolle, schließlich über die angeblich unvermeidliche "Eskalation" des Krieges vom Irak auf Nachbarländer und über "Volksaufstände" mit der Folge des Einsturzes ganzer arabischer Staatsordnungen, insbesondere der saudi-arabischen Monarchie, über eine Eskalation auch der Terroranschläge im Mittleren Osten und gegen Amerika, schließlich die Vorhersage eines gewaltigen Flüchtlingsstroms aus dem Irak in die Nachbarländer - wo schon grenznah Aufnahmelager errichtet wurden, in denen dann Rotes Kreuz und Roter Halbmond vergeblich auf den Zustrom warteten - erwiesen sich sämtlich als falsch.

Auf der anderen Seite wurden politische Annahmen, v.a. die von einer für ihre "Befreiung" dankbaren Bevölkerung, welche die Amerikaner und Briten tatkräftig unterstützen und alsbald mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau beginnen würde, über den in wenigen Wochen aus den Ölquellen sprudelnden Energiefluss, über die Auffindung der "Massenvernichtungsmittel", die Saddam Hussein verborgen hätte, über den raschen Erfolg der Besatzungspolitik mit Kollaboration der irakischen Behörden, soweit diese nach politischer Säuberung reaktiviert würden, und über die definitive Liquidation des Baath-Partei-Regimes, vom Verhalten der Iraker und von den nicht erwarteten Untergrund-Aktivitäten des abgetauchten Regimes schmerzhaft für die neuen Besatzungsmächte widerlegt. Die in Washington gehegte Erwartung, dass die schiitische Bevölkerungsmehrheit (etwa 60%) zu aktiver Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Iraqi Freedom für den Aufbau eines neuen irakischen Staates unter der amerikanischen Schirmherrschaft mit US-Militärkontrolle für eine noch unbestimmte Übergangszeit bereit wäre, wurde enttäuscht.

Die erfolgreiche militärische Operation

Der sechswöchige Feldzug war im Großen und Ganzen nach den Erwartungen verlaufen. Obwohl die Türkei sich als das für eine offensive Nordfront gegen den Raum Mossul-Kirkuk-Tikrit ausgewählte Durchzugsland verweigerte und den Aufmarsch eines Korps von bis zu 50.000 US-Soldaten nach langwierigen und konfusen Verhandlungen über drei Wochen lang verzögerte, so dass eine Nordfront nicht zu Stande kam und die dafür vorgesehenen Truppen ihren Kriegseinsatz verpassten, reichte der schmale Kräfteansatz von bis zu 170.000 Soldaten für eine Offensiv-Front von Süd nach Nord aus, um das militärische Ziel, die Niederwerfung der irakischen Armee bei möglichst geringen Verlusten und ohne für das Land oder dessen Bevölkerung ruinöse Zerstörungen, zu erreichen. Bagdad fiel schon nach drei Wochen. Zwar störte die Guerilla-Taktik der Iraker den amerikanischen Nachschub, doch den Vormarsch der gepanzerten und von den Kampffliegern bei totaler Luftherrschaft der für die irakische Boden-Flugabwehr übermächtigen US-Luftstreitkräfte unterstützten Kampfverbände konnten diese Angriffe weder aufhalten noch verzögern.

Dieser Erfolg gegen einen in jeder Hinsicht unterlegenen Feind stand nie in Zweifel, und er wurde bei ausnehmend niedrigen eigenen Verlusten mit einem Waffeneinsatz und Munitionsverbrauch von nur einem Bruchteil dessen, was im zweiten Golfkrieg 1991 aufgewandt worden war, erreicht. Die Überlegenheit der amerikanischen Kriegstechnik und militärischen Organisation inklusive der Logistik konnte operativ nahezu optimal genutzt werden. Dieser zweite amerikanische Krieg zu Beginn des 21. Jahrhunderts sah die Wirkung der in den USA seit über zehn Jahren in Gang gekommenen neuen Revolution in Military Affairs: eine Potenzierung jedes Waffensystems und jeder taktischen Einheit durch die modernsten Errungenschaften im Bereich der Präzisionswaffen, der zielsuchenden Munition, der Aufklärung und der Zielerfassung, der beweglichen Führungstechnik im Feld und einer operativen Planung bei nur noch geringem Zeitverzug zwischen Auswertung der Aufklärungsbilder, Einsatzplanung und Umsetzung gegen die ausgesuchten oder sich bietenden Ziele.

Den Frieden gewinnen

Andererseits war die Besetzung des Landes schlecht vorbereitet. Obwohl, wie auch eine 13 Bände umfassende Expertenstudie des US-Außenministeriums, die kurz vor Kriegsbeginn - im Februar - dem US-Verteidigungsministerium zugänglich gemacht wurde, feststellte, die Landeskenner, darunter viele Iraker im Exil, vor dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung im Augenblick der Niederlage des Irak gewarnt und auf die Gefahren von Plünderungen, Brandstiftung, gewalttätigem Vandalismus und Sabotage inklusive Terroranschlägen hingewiesen hatten, hatte sich die Militärführung nicht für solche Eventualitäten gerüstet. Die Kampftruppen waren für Polizeiaufgaben nicht ausgebildet, und ihre Kommandeure sahen den Schutz von Elektrizitäts- und Wasserwerken, Krankenhäusern, Warenlagern, Ministerien und Regierungspalästen, Museen, Bibliotheken, Hochschulen und Ausgrabungsstätten, die sämtlich bekannt und auf Landkarten genau markiert waren, nicht als ihren Auftrag an.

Diese Zurückhaltung wurde in den ersten entscheidenden Tagen nach dem Fall Bagdads am 9.4. auch nicht korrigiert. Verteidigungsminister Rumsfeld sah die Plünderungen und Zerstörungen nach dem Ende der bewaffneten Feindseligkeiten als normalen Vorgang im Augenblick der "Befreiung vom Joch der Diktatur" an und meinte, die anarchische Gewalt und die Raubkriminalität würden sich schon bald legen. Dieser Irrtum trug zu der sich stetig und rapide verschlechternden Sicherheitslage in einem Land bei, in dem die Amerikaner im Laufe des Sommers etwa 700.000 Tonnen scharfe Munition aller Arten fanden, ohne diese schnell zerstören oder sichern und bewachen zu können. Auch die Auflösung der irakischen Armee ohne Soldauszahlung an die Soldaten und Abfindung der Offiziere und Unteroffiziere bei nur geringen Aussichten für eine Aufnahme in die neue Armee oder Polizei des Irak, die unter der Aufsicht der Besatzungsmacht aufgestellt werden sollte, war ein kapitaler Fehler, trieb sie doch viele an den Waffen ausgebildete junge Männer in den Untergrund zu den verborgenen Kadern der Baath-Partei, des Geheimdienstes und der versprengten Sondereinheiten, die schon zwölf Jahre zuvor Kuwait ausgeplündert und terrorisiert hatten.

Schließlich unterschätzte die US-Regierung das Nationalgefühl der irakischen Bevölkerung und das Ressentiment eines sowohl im Innern unterdrückten als auch von außen, von einer fremden Macht, durch die Niederlage und Besetzung zunächst entmündigten, aber auch in seinem Stolz gedemütigten Volkes - wie zerstritten in Bevölkerungsgruppen und islamische Konfessionen auch immer. Das Programm "Nation building" oder "Nationsbildung", also Stiftung einer irakischen Nation durch Amerikaner, Briten, Australier, dazu Spanier, Polen, später nach den Plänen auch Inder und Türken, konnte nicht ohne weiteres angenommen werden, eben weil es von außen auferlegt wurde. Die sich häufenden Anschläge auf alliierte Soldaten der "Koalitions-Streitkräfte" Wochen nach dem Ende der "Hauptkampfhandlungen" am 1. Mai waren nicht sämtlich auf Terroristen aus dem vorbereiteten Untergrund, in den das Baath-Regime und die höhere Verwaltung Anfang April abgetaucht waren - ein erstmaliger Vorgang in der modernen Geschichte -, sondern in zunehmender Zahl ehemalige Soldaten ohne Sold und Arbeit, die sich aber Sprengstoff und Waffen samt großer Mengen Munition besorgen konnten, junge Leute ohne Arbeit und Aussicht auf ein besseres Leben zurückzuführen. In dieser Hinsicht hatte der französische Präsident Chirac ohne Zweifel Recht, als er sagte, der Widerstand in der irakischen Bevölkerung sei der gefährlichere als die Anschläge aus einem politischen Untergrundmilieu und also seitens professioneller und ideologisch motivierter "Terroristen". Dessen ungeachtet haben die Anschläge auf die alliierten Soldaten und die neue irakische Polizei nach dem Urteil der US-Militärbehörden im Irak, wie der Oberkommandierende General Sanchez schon im Sommer öffentlich erklärte, an "Raffinesse und Professionalität gewonnen". Die Rivalitäten zwischen militanten Schiiten-Fraktionen um einzelne Mullahs kommen als Unsicherheitsmoment hinzu, wie die Terroranschläge gegen führende Geistliche, die sich moderat gaben und sich zur Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht bereit zeigten, lehren.

Die selbst gestellte Doppelfalle

Die negative Situationsveränderung zwischen dem Ende des Feldzugs im April und dem Herbst des Jahres 2003 hat bestätigt, dass die amerikanische wie jede fremde Besatzungsmacht auch nach einem militärischen Sieg im Kriege in einem nicht unterworfenen Land, in dem sie zwar die öffentliche Gewalt ausübt, aber die Bevölkerung und die einheimischen politischen Kräfte, im Falle des Irak die arabischen Stämme, die Religionen und die kurdische Volksgruppe nicht kontrolliert, sondern bestenfalls mit den einen gegen die anderen verbündet sein, aber nicht den Schiedsrichter über sie spielen kann, großen Hindernissen, politischen Risiken und wachsender Opposition konfrontiert wird. Dies umso mehr, als ihr das Recht dazu international bestritten und sie von anderen Mächten gedrängt wird, die "Souveränität" des besetzten Landes unter ihrer Militärverwaltung zu achten, die öffentliche Gewalt schnellstens den einheimischen "Autoritäten und Institutionen" (der französische Außenminister de Villepin) zurückzugeben - selbst wenn solche zunächst einmal ermittelt und eingesetzt werden müssen. Im Irak befinden sich die USA in der von ihnen selbst aufgestellten Doppelfalle von nationaler Souveränität und Demokratie durch allgemeine, freie und geheime Wahlen (ein Mann eine Stimme, eine Frau eine Stimme, persönlich in einer Kabine ohne Aufsicht abzugeben) zwischen verschiedenen Parteien, die es bisher im Orient außer in Israel, im Libanon, in Jordanien und in der Türkei noch nirgendwo gegeben hat.

Die Verweigerung der internationalen Legitimität des Kriegsunternehmens Iraqi Freedom bei Blockierung des UNO-Sicherheitsrates durch französische (und im Hintergrund bereitgehaltene russische) Vetodrohungen, ohne Mehrheit für einen Ermächtigungsbeschluss im März 2003 und damit für die USA und Großbritannien ohne Alternative zum Alleingang mit ihren Verbündeten der Koalition, hat aus dem formalen Völkerrechtsproblem - Auslegung der UNO-Satzung in einem solchen Fall der Selbstneutralisierung des UNO-Sicherheitsrates durch Unfähigkeit zum Handeln kraft eines gültigen Beschlusses - ein politisches Problem der internationalen "Legitimität" der Besatzungsmacht nach Kriegsende und der völkerrechtlichen Legalität ihres Handelns gemacht, dazu eines der Autorität der UNO. Da die USA und Großbritannien aber inzwischen von der UNO als faktische Inhaber der öffentlichen Gewalt im Irak anerkannt und damit den für fremde Besatzung im Kriegszustand vorgesehenen Regeln der Haager Landkriegsordnung in ihrem Handeln - auch als Treuhänder der irakischen Souveränität bei Achtung der Gesetze - verpflichtet sind, ist ein für die Sicherheitslage sowohl der Besatzungstruppen als auch der irakischen Bevölkerung riskantes Imbroglio widersprüchlicher Notwendigkeiten entstanden. Dieser Zustand begünstigt die Tendenzen zur Anarchie, zur Privatisierung der öffentlichen Gewalt und des nationalen Eigentums, damit die organisierte Kriminalität und das Verwaltungschaos improvisierter Behörden auf Abruf in der Perspektive einer neuen Umwälzung als Folge der angesagten Wahlen, während bewaffnete Gruppen sich zum Wahlkampf rüsten, schließlich zur Abspaltung schon autonomer Gebiete an den Außengrenzen wie dem der Kurden im Nordirak.

Der "lange, harte Marsch"

Für die USA, deren militärische Kräfte im Irak schon äußerst angespannt sind - etwa die Hälfte der aktiven Kampfbrigaden der U.S. Army (16 von 33) waren im Herbst im Irak als Besatzungstruppen mit rund 143.000 Soldaten gebunden, Truppenverringerungen und Truppenrotation mussten wegen Ersatzmangels verzögert werden -, hat am Golf erst das Ende des Feldzugs den Härtetest der Nachhaltigkeit und Anpassung an unbekannte, vorher nicht eingeübte Lagen gebracht. Die Kosten hatten sich im Sommer auf vier Mrd. USD im Monat verdoppelt, und Präsident Bush musste einen Nachtragshaushalt für den "Krieg gegen den Terrorismus" in Höhe von rund 87,5 Mrd. USD, davon 20 für Afghanistan und 20 für den Aufbau im Irak, den Rest für die Streitkräfte am Golf, beantragen. In einem internen Memorandum fragte Verteidigungsminister Rumsfeld im Oktober, ob man im Irak "das Richtige" tue, ob die US-Streitkräfte "gewinnen oder verlieren". Öffentlich bekannte sich der Minister am 22.10. zu diesem Dokument, das er als Manöverkritik der Besetzung bezeichnete, und sprach von einem "langen, harten Marsch".

Ein strategischer Rückzug wie in Afghanistan 2002/2003 ist im Irak nicht möglich und würde nach dem langen Abwarten unter dem Druck der Guerilla- und Terror-Angriffe auch einen Prestigeverlust für die Weltmacht bedeuten, dazu den Irak mehr oder weniger in Unordnung und Unsicherheit sich selber überlassen. Zwar entsandten einige NATO-Alliierte Truppen in den Irak unter amerikanischem Befehl, aber schon die Türkei stellte Bedingungen für selbstständiges nationales Handeln in einem auszuhandelnden Rahmen. Die NATO stand als Bündnis nicht zur Ablösung zur Verfügung. Strategisch büßte Amerika durch den Irak-Krieg zunächst seine politische Handlungsfreiheit ein, während es mit der militärischen keine Gestaltungsmacht ausüben konnte. Trotzdem schien die Chance auf eine positive und für die USA wie für die UNO und die amerikanischen Verbündeten akzeptable politische Lösung der Nachkriegsprobleme im Irak und in der Golfregion gewahrt: Nach dem Krieg war der Friede noch zu gewinnen, wenn die Amerikaner sich geschmeidiger und diplomatischer zeigten. Die Wiederholung einer 15:0 Mehrheit im UNO-Sicherheitsrat für die Nachkriegsresolution über die beschränkte Rolle der UNO bei Anerkennung der Kontrolle durch die Besatzungsmächte im Oktober 2003 trotz Vorbehalten wies in diese Richtung für einen Ausweg aus einer politischen Zwangslage bei militärischer Bindung an ein erobertes Land.

Nukleare Erpressung

Der politische Konflikt mit Nordkorea und der Streit mit dem Iran über die Verifizierung der Einhaltung des Kernwaffensperrvertrags NPT durch ausgeweitete Kontrollen und Inspektionen der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, die im Herbst kulminierten und weitere Verhandlungen nötig machten, standen wie der Palästinakonflikt, in dem Israel als Besatzungsmacht in Palästina für sich auch einen "Terrorabwehrkampf" reklamierte, in einem Zusammenhang mit dem Irak-Problem und dem dritten Golfkrieg. Für Nordkorea war diese Verbindung schon seit 1993 gegeben, für den Iran latent noch länger.

Während Saddam Hussein in Bagdad nach dem zweiten Golfkrieg und der Beseitigung der noch embryonalen Rüstung für Kernwaffen damals mit der Wiederaufrüstung begann, eröffnete Nordkorea die zweite Proliferationsfront mit der Weigerung, der internationalen Inspektion bestimmte, bis dahin nicht erklärte Anlagen zu öffnen.

Nachdem man in Pjöngjang im Laufe des Jahres 2002 - in der üblichen halboffiziellen Form durch informelle, aber suggestive Drohungen mit Atomrüstung - durch weit tragende Raketenversuche, durch militärische Machtdemonstrationen und im Herbst 2003 durch die Mitteilung, man habe die Brennstäbe aus der Reaktoranlage zur Wiederaufbereitung (wobei waffenfähiges spaltbares Material anfällt) genommen und könne jederzeit einen Atomwaffentest veranstalten, schließlich mit der Aufkündigung des Sperrvertrags eine nukleare Drohkulisse aufgebaut und diplomatische Gespräche in China abgebrochen hatte, war eine Konfrontationsstellung zu den USA bezogen. Die unveränderte Forderung Pjöngjangs nach einem bilateralen Abkommen mit den USA über Kooperation und Wirtschaftshilfe und nach einem bilateralen Nichtangriffspakt mit einer Sicherheitsgarantie der USA für Nordkorea wurde mit der Drohung verbunden, falls die USA "ihre feindselige Politik" gegenüber Nordkorea nicht aufgäben, die "Demokratische Volksrepublik Korea" ihre "nukleare Abschreckung verstärken" (der Generalstabschef) würde. Der nukleare Erpressungsversuch war damit offen und eindeutig geworden.

Für die amerikanische Politik wurde damit das Paradoxon, gegen den Irak präventiv zur Beseitigung einer vermuteten Rüstung mit ABC-Waffen einen Entwaffnungskrieg mit Regimesturz zu führen, Nordkorea als offen erklärten Proliferationsfall mit einer expliziten Atomrüstungsdrohung als Druckmittel gegen die USA und Bedrohung der amerikanischen Verbündeten Japan und Südkorea aber in Ruhe zu lassen und weiterhin als Verhandlungsgegner im Kreise von sechs ostasiatischen Ländern zu akzeptieren, zu einer peinlichen Zurschaustellung beschränkter Handlungsfreiheit in einer für amerikanische Politik ungünstigen Konstellation. In diesem Sinne handelte es sich um eine ernstere Herausforderung der amerikanischen Weltmacht als durch den Irak. Zudem konnte Nordkorea nicht nur Südkorea und Japan mit Raketen angreifen und nuklear (mit noch nicht einsatzfähigen Atomwaffen) bedrohen, sondern mit einigen seiner neueren Raketen sogar US-Gebiet in Alaska erreichen. Der frühere US-Verteidigungsminister William Perry (erste Regierung Clinton) schätzte im Juli 2003, dass Nordkorea bis Jahresende drei Atomwaffen bauen und danach im Jahr je fünf neue hinzufügen könnte.

Unabhängig davon, ob diese Schätzung des zeitweiligen Beauftragten für die Verhandlungen mit Nordkorea über dessen Kernenergieprogramm richtig war und ob sie künftig realisiert werden würde, machte sie deutlich, dass es sich bei Nordkorea um einen potenten Nuklearwaffen-Proliferateur handeln dürfte, selbst wenn in Pjöngjang nur ein gefährliches Schattenspiel mit realen Brennstäben, virtuellen Raketen und potenziellen Kernwaffen zur Beeindruckung der Außenwelt und Erpressung Amerikas aufgeführt würde. Obwohl der Beginn der nordkoreanischen Atomrüstungspolitik in Verletzung des internationalen Sperrvertrags NPT etwa zehn Jahre zurückliegt und die politische Kontroverse um das Atomenergieprogramm Pjöngjangs schon vor der Eskalation des Irak-Konflikts nach dem 11. September 2001 begann, ist es plausibel, dass die Bedrohung und dann die Invasion des Irak ohne internationales Mandat durch die USA für die kommunistische Diktatur Nordkoreas ein Grund mehr ist, mit dem Bau von Atomwaffen und mit weit reichenden Raketen zu drohen, um den USA ein hohes Risiko für den Fall von militärischer Gewaltanwendung gegen Nordkorea vor Augen zu führen - ein Risiko für Japan und Südkorea in jedem Fall, für Alaska und künftig auch für Taiwan und Nordkalifornien potenziell.

Dass eine solche nukleare Drohpose für Nordkorea lebensgefährlich und das Risiko nicht berechenbar ist - wie auf der anderen Seite für die USA auch nicht -, gehört zur Psychologie der Abschreckung durch die Drohung mit Zerstörung wie zur politischen Pathologie totalitärer Diktaturen.

Der Iran als Teil der Achse

Die amerikanische Bereitschaft, im Falle Nordkorea die Geduld zu üben, die man sich gegenüber dem Irak trotz Drängen nahezu aller Partner und Verbündeten versagte, weist auf die notwendige Rücksichtnahme auf wirklich psychopathische Gewaltherrscher und autistische Oligarchien an der Macht wie auf gefährdete Verbündete wie Japan und Südkorea und auf Gegenspieler-Partner, auf die selbst die "singuläre Weltmacht" Amerika für globale und für regionale Sicherheit in Asien angewiesen ist: China und Russland.

Anders und nicht so dringend für eine politische Lösung stellte sich 2003 das Problem Iran. Zwischen Irak und Nordkorea vom Präsidenten der USA auf der "Achse des Bösen" eingeordnet, in der Realität zwischen einem bisher meist aggressiven Irak, der chemische Waffen schon im Krieg 1980-89 gegen den Iran eingesetzt hatte, der aber nach dem dritten Golfkrieg nicht mehr angriffsfähig ist und den man von Teheran her politisch über die schiitische Bevölkerungsmehrheit zumindest beeinflussen könnte, und einem in seiner inneren Entwicklung und Außenpolitik nicht berechenbaren, nuklear bewaffneten Pakistan in einer offenkundigen Kriegsbereitschaft über Kaschmir gegenüber Indien, einem Land, das "die islamische Atombombe" besitzt, ist die Vorstellung, selber als regionale Macht nuklear zu rüsten, durchaus plausibel.

Die Existenz des nuklear bewaffneten Israel, dessen Waffen den gesamten Mittleren Osten mit ihren Reichweiten, ihrer Präzision und ihrer Durchschlagskraft erfassen können, fügt dieser Überlegung noch einen weiteren Grund und ein altes Feindbild hinzu. Die USA als strategischer Protektor hinter Israel und die amerikanischen Interventionskriege am Golf lassen ein umfassendes Bedrohungsbild entstehen, zumal die USA auch militärisch in Zentralasien im Nordosten des Iran und noch immer in Afghanistan präsent sind, dazu im Indischen Ozean und im Persischen Golf mit Flottenverbänden, abgestützt auf der arabischen Küste, operieren.

In einer solchen Lage strategischer Beschränkungen und Abhängigkeiten von anderen Akteuren kann sich ein nukleares Rüstungsprogramm ebenso aufdrängen wie der Versuch eines Handels mit dem noch immer als Feind angesehenen mächtigen Gegner USA. Im Fall Iran zeigte sich 2003 auch der Wert internationaler Geschlossenheit zur Verhinderung nuklearer Proliferation und zur Durchsetzung des Kernwaffensperrvertrags gegen Opposition: Nicht nur die USA, die Teheran "eine letzte Chance bis Ende Oktober 2003" (Bush) gaben, weil dies der Termin war, zu dem die IAEA über den Stand ihrer Kontrollen im Iran dem UNO-Sicherheitsrat zu berichten hatte, sondern die IAEA selber - also ein UNO-Sicherheitsorgan -, der UNO-Generalsekretär, Russland (das Nukleartechnik an den Iran lieferte wie China) und die EU bestanden auf dem notwendigen Entgegenkommen Teherans für ausreichende Inspektionen seiner Nuklearanlagen, in denen man im Sommer 2003 hoch angereichertes, waffenfähiges Uran fand. Die Verbindung von europäischer Diplomatie, personifiziert durch die Reise der Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands nach Teheran im Oktober für den Abschluss eines Kompromissabkommens zur Unterstützung eines international durch die IAEA kontrollierten zivilen Atomenergie-Programms (das Iran zur Elektrizitätsgewinnung nicht braucht) als Gegenleistung für die Ausweitung der Inspektionen und die Zusicherung, keine Kernwaffenforschung zu betreiben (was ohnehin NPT-Vertragspflicht aller Nichtkernwaffenstaaten ist), und amerikanischer Pressionen vor dem Hintergrund des Krieges gegen den Irak erwies sich als wirksam. Damit war ein potenzieller Grund für die Eskalation der Konflikte am Golf zunächst neutralisiert, wenn auch noch nicht beseitigt. Insofern zeitigte der dritte Golfkrieg eine heilsame Wirkung im Mittleren Osten, der weitere folgen könnten.

Prof. Dr. Lothar Rühl

Staatssekretär a.D. (ehemals im Bundesverteidigungsministerium, Bonn); Professor für Internationale Beziehungen am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät; Ehemals Vorstandsmitglied der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen, und des SIPRI Stockholm.



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Die wesentlichen Konfliktherde 2003.
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