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Psychologie: Der Wille zu überleben

Der Marathonläufer, der gerade die 17-km-Marke passiert hat, denkt, völlig auf das Hier und Jetzt fokussiert, nur an die nächsten paar Schritte, möglicherweise noch an die nächste Hälfte der Strecke. Er wird sich aber tunlichst nicht mit den noch bevorstehenden Kilometern bis zum Zieleinlauf beschäftigen.

Szenenwechsel: Alexander Huber, einer der weltbesten Kletterer und Bergsteiger unserer Zeit, bei einer seiner "Free Solo"-(Alleine-und-ohne-Sicherung-)Begehungen: In der Wand, so beschreibt er, ist er ganz im Hier und Jetzt, seine Gedanken kreisen lediglich um den nächsten Zug, vielleicht noch um den übernächsten. Er verlässt gedanklich nicht seine unmittelbaren eineinhalb Quadratmeter. Die noch folgenden 500 Höhenmeter sind in dieser Situation für ihn kein Thema.

Szenenwechsel: Winter 1942/1943: Die 6. Armee ist in hoffnungsloser Situation in Stalingrad eingekesselt. Die Soldaten können weder vor noch zurück. Jeder einzelne hat seinen Blick auf die wenigen hundert Meter vor sich gerichtet und überwacht ausschließlich diesen Bereich. Im Hier und Jetzt werden keine Gedanken an weitere große Herausforderungen verschwendet.

Dies alles sind unterschiedliche Herausforderungen, und trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten. Natürlich ist es für den einen oder anderen von uns einfacher, sich die Extremsituation "Durchsteigung einen senkrechten 1 000-Meter-Wand" vorzustellen, als die furchtbaren Grausamkeiten, wie unsagbarer Hunger, Elend und dauernd präsenter Tod am Kriegsschauplatz. Verschiedene Quellen berichten, dass der menschliche Körper erstaunlich belastbar ist und wahrlich unmenschliche Qualen erleiden kann. Relativ lange Zeit können Menschen ohne Nahrung und Wasser auskommen und unter unvorstellbaren Umständen leben. Allerdings immer unter einer Voraussetzung: Der Wille zu überleben muss intakt sein!

Für den Marathonläufer ist es relativ einfach, sein Ziel zu erreichen. Rund 42 Kilometer und damit drei, vier oder fünf Stunden Anstrengung: eine außergewöhnliche persönliche Leistung, die in der Regel ohne große eigene Gefährdung mit hoher Motivation und Training zu bewerkstelligen ist. Und selbst wenn er es nicht erreicht, besteht die Möglichkeit, mit dem Bus ins Zielgebiet zu gelangen. Etwas anders ist die Situation für den Extrembergsteiger. Ein falscher Tritt oder der Ausbruch eines Griffes führen unweigerlich zum Tod. Trotzdem werden solche Höchstleistungen immer wieder vollbracht. Hier zählen jahrelanges Training und eine große Portion Motivation zu den Erfolgsgaranten.

Im Kriegseinsatz allerdings herrschen völlig andere Voraussetzungen. Sicher sind die Soldaten gut trainiert und dazu in der Lage, außergewöhnliche Belastungen zu ertragen. Doch die Unsicherheiten des täglichen Lebens in militärischen Extremsituationen und eine vielleicht fehlende Motivation tragen nicht unbedingt zum Gelingen bei. Wichtig ist dabei der Wille, die Qualen zu überstehen, um anschließend ein persönliches Ziel zu erreichen. Fehlender Überlebenswille und damit das Fehlen persönlicher Ziele - selbst in Freiheit - führen letztendlich trotzdem zum Untergang. Darüber berichten beispielsweise die Erinnerungen von Befreiern der Konzentrationslager zu Kriegsende 1945. Obwohl frei und wieder verpflegt, starben Insassen aufgrund des Mangels am Überlebenswillen.

Aufzeichnungen aus verschiedenen Kriegsschauplätzen lassen die Sorge um die Familie und die Daheimgebliebenen als wichtigstes Überlebensmotiv aufscheinen. Im jeweiligen Moment allerdings können andere Motive die Oberhand gewinnen wie die Unterstützung der Kameraden bei einer bevorstehenden militärischen Aktion. Hier kommt vor allem der kurzfristigen Zielsetzung große Bedeutung zu. Wie man sich beim Sport vorwärts hantelt, so müssen auch Soldaten ihre kleinen Ziele erreichen. Nicht umsonst werden große militärische Pläne in kleinere Zwischenziele untergliedert, die den Rahmen überschaubar werden lassen. Diese kleinen Ziele sind für Soldaten im Kriegseinsatz überaus wichtig und unterschiedlich. Denkt der eine an die nächste Mahlzeit, die ein Überleben erst möglich macht, versucht ein anderer die Zeit bis zur Ankunft der nächsten Nachricht aus der Heimat zu überstehen. Gerade die Verbindung zu den nächsten Angehörigen ist bei den meisten eine wesentliche Grundlage für den Überlebenswillen. Das große Ziel, nämlich die Rückkehr in die Heimat, wurde bei den Soldaten der 6. Armee vor Stalingrad ebenfalls in kleine Zwischenschritte unterteilt. Die nächste Mahlzeit und die Nachricht von Zuhause haben dabei weit größeren Stellenwert gehabt als der ursprüngliche militärische oder gar politische Auftrag. Der Wille zum Überleben hängt also von sehr persönlichen Zielsetzungen ab. Deswegen darf dieser persönliche Bereich auch nicht beschnitten werden.

In Extremsituationen ist der Überlebenswille wesentlich. Nur die Auseinandersetzung mit persönlichen Motiven führt letztendlich zu Ressourcen jedes Einzelnen, die uns dazu verhelfen, solche Extremsituationen zu bewältigen.

Major dhmfD Ing. Mag. Stefan Rakowsky

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