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Die zweite NATO-Osterweiterung

von Erich Reiter

Kurzfassung

◄ Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation stellte sich für die NATO die Sinnfrage, da ihr die Hauptfunktion als Verteidigungsbündnis abhanden gekommen war. Das nordatlantische Bündnis bewältigte aber diese Herausforderung rasch und schuf mit dem Nordatlantischen Kooperationsrat 1991 (seit 1997: Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat), der Partnerschaft für den Frieden 1994, dem Sicherheitsvertrag mit Russland, dem Beschluss um die Erweiterung der NATO um Polen, die Tschechische Republik und Ungarn sowie der Charta über die "besondere Partnerschaft" mit der Ukraine und dem Dialog mit ausgewählten Mittelmeeranrainerstaaten sicherheitspolitische Weichenstellungen, die seine Bedeutung für die europäische Sicherheitsarchitektur unterstreichen.

Mit dem strategischen Konzept von 1999 wurden die Aufgabenstellungen der NATO auch offiziell um Krisenmanagement und Partnerschaft mit Staaten der euroatlantischen Region zur Gestaltung gemeinsamer Aktionen erweitert. Seit den Terroranschlägen vom 11.9.2001 zeigt sich aber, dass die USA in der NATO nicht das geeignete Instrument sehen, ihre Interessen im globalen Rahmen wahrzunehmen. Die USA werfen den europäischen Verbündeten vor, dass sie zwar ihre Solidarität nach den Anschlägen bekundeten, aber nichts unternahmen, um die Aufstellung einer gemeinsamen, schnell verlegbaren Eingreiftruppe für Kampfeinsätze der NATO zu unterstützen.

Mit der Einladung an Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei stehen nun erstmals nicht nur ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten, sondern sogar Ex-Sowjetrepubliken vor der Aufnahme. Doch schon die erste Erweiterungsrunde hat gezeigt, dass die Beziehungen Russlands zu den USA bzw. zur NATO dadurch nicht gelitten haben. Die Einrichtung des NATO-Russland-Rates gibt Moskau ein Mitspracherecht in Belangen gemeinsamen Interesses, außerdem profitiert Russland vom Wandel der NATO von einem Militärbündnis zu einer mehr oder weniger politischen Organisation.

Die USA haben Mitte der 90er-Jahre die Führung in der Osterweiterung übernommen und so geschickt die Tendenzen zur Europäisierung der europäischen Sicherheit unterlaufen. Mit Hilfe der NATO sind die USA auch weiterhin als Führungsmacht in Europa präsent, wenn sich auch das nordatlantische Bündnis immer mehr zu einer bewaffneten Version der OSZE entwickelt. Je größer die NATO durch die Aufnahme neuer, militärisch nicht hoch gerüsteter Länder wird, desto gravierender werden die Unterschiede im Bündnis, das längst zu einer Zwei-, wenn nicht gar Drei-Klassen-Allianz geworden ist. ►


Volltextversion

Die zweite NATO-Osterweiterung

Die strategische Situation und die Entwicklung der transatlantischen Beziehungen

Die NATO hat sieben Länder zum Beitritt eingeladen: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei. Albanien, Kroatien und Mazedonien - die drei weiteren Kandidaten für eine Mitgliedschaft - müssen noch warten. Es ist dies die größte Erweiterung in der 53-jährigen Geschichte der NATO. Sie betrifft allerdings durchwegs kleinere Staaten, die zusammen nur etwa 40 Mio. Einwohner zählen.

Funktion der NATO

Traditionelle Funktionen

Die NATO war in erster Linie als ein Bündnis kollektiver Selbstverteidigung konzipiert. In der Zeit des Ost-West-Konfliktes diente sie als nordamerikanischwesteuropäisches Bündnis der Verteidigungsfähigkeit des freien Europas gegen die Sowjetunion, wobei die USA die Hauptlast der Verteidigungsanstrengungen zu tragen hatten und die glaubhafte atomare Abschreckungsfähigkeit bewirkten. Die eigentliche Aufgabe war die der Abschreckung der Sowjets vor Abenteuern, die einen "Dritten Weltkrieg" auslösen hätten können.

Als ein rein militärisches Bündnis kann man sie aber nur in ihrer allerersten Phase von 1949 bis 1955 bezeichnen. Seither hat sie sich zu einer politischen Organisation entwickelt, deren zivile Komponente in mancher Hinsicht ebenso bedeutsam ist wie die militärische. Die NATO förderte schon früh in vielfältiger Weise die Zusammenarbeit ihrer Mitglieder; die Themenpalette reichte beispielsweise bis hin zum Umweltschutz.

Die ursprüngliche politische Funktion der NATO war die Begrenzung des sowjetischrussischen Einflussbereiches in Europa oder die Verhinderung eines weiteren Vormarsches der Sowjetunion. Es ist zweifelhaft, ob die westeuropäischen Staaten alleine dazu im Stande gewesen wären. Zwar waren die Westeuropäer insgesamt nach der Bevölkerung und insbesondere nach der Wirtschaftskraft sowie dem technologischen Entwicklungsstand der Sowjetunion deutlich überlegen, aber es fehlte der Wille zum gemeinsamen Handeln. Die europäischen Westmächte waren noch dem Großmachtdenken verhaftet; sie dachten an Gleichgewichts- und Bündnispolitik, nicht nur gegen die Sowjets, sondern auch gegeneinander. Die NATO hat hier eine gravierende Veränderung gebracht, denn sie hat Hegemonialkämpfe unter den europäischen Mächten oder gar kontroverse Allianzbildungen einzelner von ihnen gegen andere verhindert, gleichsam die westeuropäischen Länder voreinander geschützt.

Die USA hatten großes Interesse daran, dass die Sowjets ihren Einflussbereich in Europa nicht weiter ausdehnen konnten, und formten so dieses Bündnis, das u.a. die Entstehung weiterer Atommächte in Europa (außer Großbritannien und Frankreich) verhinderte, den europäischen Verbündeten aber doch ein gewisses Maß an Mitsprache über die atomare Planung durch die NATO vermittelte.

Durch die Einbindung Deutschlands wurde eine eigenständige Rolle dieses Landes verhindert. Die enge Bindung der Briten an die USA trug ein Übriges dazu bei, dass es nicht zu innereuropäischen Allianzbildungen kommen konnte. Der Versuch Frankreichs, Sonderwege zu gehen, weil es die Dominanz der USA in Europa nicht akzeptierte, blieb somit begrenzt. In Konsequenz eben dieser Einbindung der Briten und Deutschen blieben, schon geografisch gesehen, einfach zu wenige Spielmöglichkeiten für eine Machtpolitik in (West-)Europa übrig.

Die Vorbereitung der NATO auf die konventionelle und nukleare Kriegführung erbrachte jene abschreckende Wirkung, auf der die Stabilität in der Zeit des Kalten Krieges beruhte; sie war nur durch das große Engagement der USA in Europa gegeben, da im Hinblick auf das atomare Patt auch für die Sowjets ein Angriff auf Westeuropa aus Eigeninteresse nicht in Frage kam und der Krieg letztlich als nicht führbar, weil nicht gewinnbar, erachtet wurde.

So hatte die NATO - im Verein mit der Vorgängerorganisation der EU, die ihrerseits diese Entwicklung wohl den durch die Existenz der NATO geschaffenen Bedingungen in Westeuropa verdankt - eine Zone friedlicher Kooperation in Westeuropa schaffen können.

Die NATO nach dem Kalten Krieg

Die NATO hat eine gewisse Hegemonie der USA über Westeuropa bewirkt, Hegemonialbestrebungen der westeuropäischen Mächte unterdrückt und den Hegemonialbereich der Sowjetunion in Europa begrenzt. Möglicherweise konnte dieser Zusammenhalt der westlichen Mächte - als Basis der Militärallianz, die das Sowjetimperium in Schach hielt - nur unter dem Aspekt der gesamthaften Bedrohung des Westens, also der nicht nur militärischen und politischen, sondern auch ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderung seitens der kommunistischen Sowjetunion erreicht werden. Nach dem Wegfall dieser umfassenden Bedrohung ist auch das Bedürfnis an der Sicherung des Zusammenhalts der westeuropäischen Länder deutlich schwächer geworden.

Das militärische Erbe der NATO in Europa ist im Bereich der Kommandostrukturen, der Infrastrukturen, der Erfahrungen und Kenntnisse hinsichtlich Zusammenarbeit, Standardisierung und Homogenisierung weltweit immer noch einmalig.

Da nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation die Hauptfunktion als Verteidigungsbündnis abhanden gekommen zu sein schien, stellte sich nach 1989 die Sinnfrage, oder zumindest die Frage nach der Weiterentwicklung. Solange die NATO weiter existiert, verhindert sie den Rückfall in die vollständige Renationalisierung der Sicherheitspolitik der Westeuropäer und erschwert die Machtpolitik im gesamten europäischen Raum, insbesondere weil sie mit dem wiedervereinigten Deutschland jene europäische Macht einbindet, die sowohl wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung als auch hinsichtlich der geografischen Lage wahrscheinlich als einziges westeuropäisches Land eine effektive Macht- und Bündnispolitik in Osteuropa betreiben hätte können.

Die NATO stellte auch nach 1989/91 eine gewisse militärische Rückversicherung für ihre Mitglieder dar und bietet die Basis für eine allfällige Rückkehr stärkerer US-Kräfte nach Europa für den Fall einer Änderung der Lage. Sie blieb das sicherheitspolitische Bindeglied zwischen den USA und Westeuropa und gibt den USA eine Mitwirkungsmöglichkeit in der europäischen Politik.

Mit einem neuen strategischen Konzept von 1991 reagierte die NATO sehr rasch auf die neuen sicherheitspolitischen Gegebenheiten. Der tief greifende Wandel des Sicherheitsumfeldes der NATO-Staaten hat auch eine Neubewertung der Bündnisstreitkräfte nach sich gezogen und schließlich zu umfassenden Reformen der Kommandostrukturen geführt. Weiters wurden im Kontext der Bereitstellung von Fähigkeiten und Mitteln der Allianz für europäische Zwecke im Rahmen des Krisenmanagements der Westeuropäischen Union (WEU) so genannte "Alliierte Streitkräfte-Kommandos" (Combined Joint Task Forces/CJTF) errichtet. Diesen CJTF sind bestimmte Hauptquartiere und Truppenteile aller Waffengattungen zugeordnet. Damit sollte die Allianz in die Lage versetzt werden, schnell auf Krisen zu reagieren und Friedensoperationen durchzuführen.

Die neue NATO

Die NATO hat durch ihre eigene Weiterentwicklung die sicherheitspolitische Situation Europas entscheidend geprägt. Das waren der 1991 ins Leben gerufene Nordatlantische Kooperationsrat, der 1997 vom Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat abgelöst wurde, die Partnerschaft für den Frieden 1994, der Sicherheitsvertrag der NATO mit Russland 1997 und der kurz darauf folgende Beschluss zur Erweiterung der NATO um Polen, die Tschechische Republik und Ungarn. Das kann man noch ergänzen durch die Charta über "besondere Partnerschaft" mit der Ukraine 1997 und die Einleitung eines Mittelmeerdialoges mit ausgewählten Mittelmeeranrainerstaaten, was zeigt, dass die NATO von einem Verteidigungsbündnis mit Abschreckungswirkung längst schon zu einer Mehrzweckorganisation geworden ist, die über die Funktion zur Stabilität Europas hinausgehend auch sicherheitspolitische Leistungen zur Weiterentwicklung der überregionalen Sicherheitsarchitektur erbracht hat.

Mit dem (neuen) strategischen Konzept von 1999 wurden die Aufgabenstellungen der NATO auch offiziell erweitert. Zu den Kernfunktionen der Aufrechterhaltung von Stabilität und Sicherheit, der Rolle der NATO als Konsultationsforum für Mitglieder nach Artikel IV des Washingtoner Vertrages und insbesondere der Abschreckung und kollektiven Verteidigung (im Sinne der Artikel V und VI des Washingtoner Vertrages) kamen als weitere Kernfunktionen nun die des Krisenmanagements sowie der Partnerschaft mit Staaten der euroatlantischen Region zur Gestaltung gemeinsamer Aktionen hinzu. (Sicherheitsinteressen des Bündnisses können auch von anderen Risiken umfassender Natur berührt werden wie Terrorakten, Sabotagen, organisierten Verbrechen oder der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen sowie der unkontrollierten Bewegung einer großen Zahl von Menschen.) Daneben sind auch die Aufgaben der Bekämpfung des Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen festgeschrieben. (Letzteres allerdings in recht unverbindlicher Form.) Es fragte sich aber von Anfang an, ob die NATO das richtige Instrument dazu ist - und die Ereignisse nach dem 11. September 2001 scheinen den Skeptikern diesbezüglich Recht gegeben zu haben. Die NATO stellte sich jedenfalls als eine Institution zur umfassenden Behandlung von sicherheitspolitischen Fragen dar, wobei insbesondere Konfliktprävention und das Krisenmanagement einschließlich militärischer Operationen zur Kriseneindämmung hervorzuheben waren.

Mit dem Einsatz der NATO in Bosnien-Herzegowina mit dem IFOR/SFOR-Kontingent, der im März 1999 vollzogenen ersten Erweiterung der NATO nach Osten und dem Luftkrieg gegen Jugoslawien zur Beendigung der serbischen Terrorherrschaft im Kosovo (Allied Force) hat die NATO neue Realitäten in Europa gesetzt.

Entwicklung der transatlantischen Beziehungen

Gemeinsame transatlantische Interessenwahrnehmung

Anstelle der früheren Debatten über das Burden sharing, also die Lastenverteilung innerhalb des Bündnisses, ist in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre die Debatte über die Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen von Amerikanern und Europäern getreten. Amerikanische Sicherheitspolitiker haben schon in der Mitte der 90er-Jahre die Sinnhaftigkeit des Fortbestandes der NATO davon abhängig gemacht, dass sie sich globalisiere, also zur weltweiten Wahrnehmung der gemeinsamen transatlantischen Interessen fähig werde. Wenn sich die USA für die europäische Sicherheit interessierten, dann müssten auch die Europäer gewillt sein, die gemeinsamen Interessen außerhalb Europas wahrzunehmen, auch im Bereich des Nahen und Mittleren Ostens.

Die Bereitschaft der meisten europäischen Ländern zu einem globalen Engagement blieb gering. Eine häufige europäische Befürchtung war die, dass eine Ausweitung des Handlungsrahmens der NATO als globaler Akteur von Russland als konfrontative Maßnahme gewertet würde. Den meisten europäischen Ländern ist viel an einer Einbindung Russlands in die europäischatlantische Sicherheitsarchitektur gelegen.

Bislang ist es den Amerikanern nicht gelungen, ihre europäischen Bündnispartner auf eine konsistentere Politik gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und die Bekämpfung des Terrorismus sowie der internationalen Kriminalität im Rahmen der NATO festzulegen. Ob die neue Initiative der USA vom September 2002 zur Bildung einer schnell verlegbaren Einsatztruppe der NATO für Kampfeinsätze weit außerhalb der Bündnisgebiete tatsächlich Bewegung in Richtung global wirksame NATO bringt, bleibt abzuwarten.

Parallel dazu hat sich erwiesen, dass die von der NATO seit 1996 im Grundsatz akzeptierte "europäische Sicherheitsidentität" mit der Möglichkeit europäisch geführter Einsätze (im Rahmen der NATO) in jenen Fällen, in denen die USA nicht oder nur mittelbar involviert sein wollen, nicht zum Tragen kommt, obwohl im Frühjahr 1999 diese Option mit der aktivierten neuen Kommandostruktur der NATO operativ umgesetzt wurde (CJTF). Die Europäer haben vielmehr im Rahmen der GASP eine "Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik" zu entwickeln versucht und dafür auch eine Struktur und Organisation gefunden. (Was sie noch nicht haben, sind die ohnedies bescheiden geplanten militärischen Ressourcen im strategischen und hochtechnologischen Bereich für eine eigene Eingreiftruppe.) Afghanistan-Krieg als Einschnitt im transatlantischen Verhältnis

Die amerikanische Politik nach dem 11. September 2001 hat demonstriert, dass die USA die NATO derzeit nicht als das globale Instrument ansehen, mit dem sie ihre Interessen wahrnehmen können.

Die Anschläge des 11. September haben zwar in weiten Teilen der Welt und insbesondere in Europa große Betroffenheit und starke Anteilnahme sowohl am Schicksal der Menschen als auch am Staat USA hervorgerufen. Aber die Maßnahmen der USA in dem von ihnen erklärten Krieg gegen den Terrorismus haben die latenten Probleme zwischen den USA und Europa im sicherheitspolitischen Bereich aktiviert. Mangels der Fähigkeit (jedenfalls ausreichender Fähigkeit) der Europäer zu einer umfassenden Teilnahme an ihrem Kampf gegen das Taliban-Regime Afghanistans haben die Amerikaner in bilateralen Vereinigungen ihren Krieg vorbereitet und durchgeführt. Die Aktivierung des Artikels V des Washingtoner Vertrages kurz nach den Anschlägen des 11. September wurde zwar als Solidarisierung zur Kenntnis genommen, von manchen Amerikanern aber auch als überflüssige Deklaration betrachtet. Die Devise der USA war, dass sich aus den Zielen die Bündnisse ergeben und nicht umgekehrt, dass Bündnisse Zielsetzungen bestimmen. Europäische Appelle, an den Entscheidungen beteiligt zu werden, klangen fast bittend.

Die unterschiedlichen Auffassungen zwischen den USA und den Europäern kamen sehr deutlich zum Vorschein. Zwar drückten die amerikanischen Politiker und Analytiker immer wieder in warmen Worten ihre Bekenntnisse zur NATO und ihre Freundschaft zu den europäischen Verbündeten aus, doch sie machten den Europäern auch klar, dass für diesen Krieg eine hochtechnisch gerüstete Streitmacht erforderlich sei, wie sie nun einmal nur den USA zur Verfügung stünde. Die Europäer müssten eben deutlich mehr in ihre Streitkräfte investieren und diese sowohl technologisch als auch hinsichtlich der Interventionsfähigkeit massiv auf- bzw. umrüsten. Die Europäer gestanden ihre eigenen militärischen Defizite durchaus ein, beklagten diese auch und beteuerten, dass diese eigentlich beseitigt werden sollten. An die tatsächliche rasche Behebung ging man aber nicht heran. Dafür gab es verschiedene europäische Hinweise auf das Erfordernis, die Ursachen des Terrorismus zu beseitigen, die mit dem Nord-Süd-Konflikt sowie mit Armut und Hunger in der Dritten Welt identifiziert wurden. Den Amerikanern hingegen schien lediglich wichtig, ob ein Land bereit ist, an dem von ihnen geführten Krieg gegen den Terrorismus teilzunehmen, und in welcher Art es dazu fähig ist.

Die Hoffnung, dass die Tragödie vom 11. September die USA und Europa wieder enger zusammenschmieden werde, hat sich nicht erfüllt. In Europa hat sich viel Unmut über die amerikanische Weltpolitik, die Politik gegenüber Krisenregionen und den Problemstaaten aufgestaut und ist teilweise auch abgeladen worden. Angesichts der von den USA vorgeführten technischen Leistungsfähigkeit und militärischen Überlegenheit ist der Solidaritätsvorrat rasch geschrumpft. Von amerikanischer Überheblichkeit und Engstirnigkeit wurde und wird gesprochen.

Die Erfahrung ihrer Einflusslosigkeit und Machtlosigkeit ist es, die die Europäer gegen die Amerikaner aufbringt. Es sind reflexhafte Empörungen, die einem Amerika gelten, das nach dem Schock des 11. September nicht in sich ging und die Ursachen dafür erforschte, warum es zu diesen Anschlägen kam, nicht den Friedensdialog mit den Problemstaaten suchte und so weiter, sondern sich sehr schnell wieder gefunden hat, gegen seine (jedenfalls als solche gesehenen) Feinde aktiv vorgeht und seine Rolle als einzige Weltmacht bestätigt. Es lässt sich dabei von Freunden und Verbündeten keine Fesseln anlegen.

Wenn die Europäer im Rahmen der NATO gleichwertige Partner der USA sein wollen, damit die NATO selbst wiederum einen sowohl politisch als auch militärisch erstklassigen Stellenwert besitzt, so müssten sie die Fähigkeit zu modernem militärischen Konfliktmanagement erwerben. Es ist aber derzeit nicht zu ersehen, dass sie das tun werden. Auch aus der neuen (September 2002) nationalen Sicherheitsdoktrin der USA geht hervor, dass sich die Europäer (in der NATO) in Ausrüstung und Struktur den neuen Bedrohungen anpassen müssten, wenn sie wollten, dass die NATO so bedeutsam bleibt bzw. wieder wird wie in der Vergangenheit; sie muss ihre Bedeutung erst wiedererlangen, wozu sie für globale Einsätze fit sein müsste. Die US-Initiative für eine gemeinsame, schnell verlegbare Eingreiftruppe für Kampfeinsätze der NATO vom September 2002 sollte den Europäern wohl letztmalig eine Chance geben, den Stellenwert der NATO (und damit ihren eigenen) als auch militärisch (noch) relevante Institution wiederherzustellen. Diese Truppe müsste technisch im Stande sein, mit US-Streitkräften integriert zu werden, und rasch und effizient für Kampfeinsätze im feindlichen Gebiet verfügbar sein. Sie wäre nach US-Sicht eine Anpassung des Bündnisses an die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen, damit es kollektiv auf neue asymmetrische Bedrohungen wie Terrorismus und Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (offenbar im Sinn der neuen nationalen Verteidigungsstrategie der USA, die auch Präventionskriege gegen diese Bedrohungsarten vorsieht) reagieren kann. Es scheint völlig klar, dass die NATO als Militärorganisation für die USA nur relevant ist, wenn sie kollektiv auf globale Bedrohungen westlicher Interessen reagieren kann und will.

Ein entsprechender Beschluss zur Aufstellung dieser Eingreiftruppe ist am NATO-Gipfel in Prag (21./22.11.2002) gefallen. Ob dieser Beschluss im Gegensatz zu bisherigen Absichtserklärungen zur Steigerung der militärischen Fähigkeiten relevante reale Folgen haben wird, bleibt abzuwarten. Größte Skepsis ist aus der Erfahrung und einer realistischen und vorsichtigen Einschätzung europäischer Politik dabei angebracht.

Die Zukunft der NATO

Die gesamte sicherheitspolitische Situation, also die globale Lage und innerhalb derselben die strategische Situation Europas, stellt den Rahmen für die Weiterentwicklungsmöglichkeiten der NATO dar. Die künftige Rolle und Bedeutung der NATO hängt nicht alleine von ihren militärischen Kernaufgaben und von ihrer Möglichkeit als globaler Akteur im Rahmen von Krisen- und Konfliktmanagementaufgaben ab. In Zeiten eines geänderten Risikobildes gibt es auch andere Herausforderungen, deren Bewältigung von herausragender Bedeutung ist.

Globale Situation

Die internationale Ordnung und die Machtverhältnisse werden durch das Verhalten der größeren Mächte bestimmt, die politische, ökonomische und militärische Stärke besitzen und im Stande sind, in ihrem regionalen Rahmen prägend zu wirken und durch die Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen und der Verhältnisse zu den anderen Staaten nachhaltige Wirkung zu erzielen. Dadurch spielen die Anzahl der großen Akteure und die von ihnen gestalteten Bündnisse und Kooperationsformen insbesondere dann eine wichtige Rolle, wenn größere Mächte untereinander selbst Bündnisse abschließen.

Zu den großen Akteuren der Welt rechnet man allgemein die USA, die Europäische Union, Russland, China und Japan. Jüngst ist die Jungatommacht Indien in diesen Kreis aufgerückt. Eine reale Weltmacht von all diesen sind aber nur die USA. Russland ist es trotz seines Atompotenzials und seiner großen konventionellen Streitkräfte auf Grund seiner wirtschaftlichen Schwäche und seiner sozialen Probleme nicht; die weitere Entwicklung ist ungewiss. Die EU ist zwar eine wirtschaftliche Großmacht, eine globale politische Macht aber ist sie nicht und eine militärische Macht erst recht nicht. Ähnliches gilt für Japan, das allerdings Anzeichen einer Entwicklung zu größerer politischer Aktivität - und eines Tages wohl auch zu größerer militärischer Fähigkeit - zeigt. China ist eine regionale Großmacht und im asiatischpazifischen Raum der eigentliche Herausforderer der Weltmacht USA im Ringen um Einfluss. Ob es China allerdings in absehbarer Zeit gelingen wird, eine Weltmachtrolle einzunehmen, bleibt dahingestellt, insbesondere auch im Hinblick darauf, dass die innere Entwicklung des Riesenreiches schwer voraussagbar ist. Indien gewinnt zunehmend Bedeutung als künftiger strategischer Partner der USA, ohne seine Bindungen mit Russland zu reduzieren.

Trotz der dominierenden Rolle der USA kann man nicht von einer unipolaren Welt sprechen. Denn trotz ihrer strategischen Überlegenheit und ihrem großen und derzeit uneinholbar erscheinenden militärtechnologischen Vorsprung sind auch die USA von der Kooperation mit Verbündeten abhängig. Auch die USA haben nur begrenzte Ressourcen, auch militärisch, und sie mussten ihr Konzept, gleichzeitig zwei größere regionale Kriege auf verschiedenen Schauplätzen führen zu können, bereits revidieren. Die von den Amerikanern eingeleitete strategische Wende im Hinblick auf die Entwicklung einer Raketenabwehr und die Militarisierung des Weltalls wird möglicherweise eine neue Situation ergeben. Aber auch diese Maßnahmen dienen mehr dem Schutz des eigenen Landes als der militärischen Beherrschung des Restes der Welt.

Wir leben also in einer quasimultipolaren Welt, in der neben den größeren Akteuren auch noch eine Reihe kleinerer regionaler Mächte mitzuspielen versucht. In dieser Welt sind die USA mit Abstand die größte Kraft, die einzige Weltmacht, aber nicht die Beherrscherin der Welt. Um eine dominierende Rolle spielen zu können, werden die USA weiterhin auf ihre traditionellen Bündnisse, insbesondere auf die NATO in Europa und auf Japan für Ostasien angewiesen sein.

Die künftigen Funktionen der NATO sollen deshalb unter dem Aspekt betrachtet werden, was sich Amerikaner und Europäer jeweils von der NATO erwarten (können). (Dabei werden spezifische Interessen Kanadas ebenso außer Acht gelassen wie die der Türkei.) Die Nützlichkeit der NATO für die USA und die Europäer

Auf Grund der weit gehenden Deckungsgleichheit von EU und NATO-Europa - jedenfalls was die größeren Akteure anlangt - ist und bleibt die NATO weiterhin eine sicherheitspolitische Parallele zur EU. Die NATO gibt den USA somit Einflussmöglichkeiten auf die europäische Weiterentwicklung, die sie sonst nicht hätten.

Durch die Existenz der NATO wird die Notwendigkeit zur Entwicklung einer eigenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) relativiert. Solange es die NATO gibt, ist die ESVP keine absolute Notwendigkeit, weshalb ihre Realisierung auch auf die lange Bank geschoben wird - und eine eigenständige Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegt nicht im strategischen Interesse der USA, denen eine Mehrzahl von Bündnispartnern lieber ist als ein großer Gesprächspartner.

Die NATO gibt nicht nur den USA Einflussmöglichkeiten auf die europäische Entwicklung, sie begrenzt auch den Einflussbereich Russlands. Trotz der ersichtlichen - jedoch keineswegs irreversiblen - Verbesserung der strategischen Beziehungen USA-Russland kann den USA nicht an einem großen Einflussbereich Russlands gelegen sein. NATO und NATO-Erweiterung dienen deshalb der Reduzierung der Möglichkeit einer künftigen russischen Hegemonialrolle.

Organisation und militärische Strukturen der NATO geben den USA in Europa eine große Basis für militärische Maßnahmen und Vorkehrungen, wie sie sie sonst auf der Welt nicht vorfinden. Die europäische Infrastruktur ist auch weiterhin im Hinblick auf den Nahen bzw. Mittleren Osten für die USA unverzichtbar.

Schließlich hat die NATO auch für die USA eine Reservefunktion im militärischen Bereich. Man weiß letztlich nicht, wie sich die Situation morgen oder übermorgen entwickeln wird, weshalb die Allianz im Hinblick auf die Erhaltung des Einflussbereiches am eurasischen Doppelkontinent auf absehbare Zeit unverzichtbar ist.

Die NATO gibt auch den Europäern eine militärische Rückversicherung, hält die USA in Europa und veranlasst die USA, sich auch mit europäischen Problemen (wie Bosnien-Herzegowina oder das Kosovo) in höherem Maße auseinander zu setzen als sonst.

Für den Fall der Wiederkehr des Erfordernisses nuklearer Abschreckung ist die NATO der Garant für Nuklearschutz durch die USA.

Solange das Militärbündnis NATO existiert, haben die Europäer keine Notwendigkeit, eigene vereinte starke Streitkräfte aufzustellen und noch im nationalen Bereich ernsthafte Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Verteidigungsfähigkeit vorzunehmen, weil sie sich in der Stärke des Militärbündnisses als solchem ausreichend wohl fühlen.

Gerade im Hinblick auf künftige Herausforderungen (wie z.B. die einer europäischen Raketenabwehr), die jedoch von den Europäern nicht rechtzeitig in Angriff genommen werden, kann das Bündnis mit den USA für die europäischen Interessen existenziell werden, weshalb es töricht wäre, die NATO von europäischer Seite in Frage zu stellen.

Den Europäern blieb dank der US-Führung in der NATO die Rivalität um eine europäische Führungsmacht erspart; diese wäre dem Aufbau einer europäischen Verteidigungsorganisation gegen die Sowjets nicht förderlich gewesen. Auch für heute gilt, dass Europa keine eigene militärische Führungsmacht braucht, weil diese nach wie vor über die NATO in den USA gegeben ist.

Die Rolle der NATO ist unter dem Aspekt des strategischen Bedeutungsverlustes zu sehen. Der Sinn der NATO ist heute nicht die Antwort auf die Frage nach einem einzelnen Zweck, sondern auf die Frage, welchen Beitrag die NATO zur euroatlantischen Sicherheitsarchitektur leistet.

Die Bedeutung der NATO sowohl für die USA als auch für die Europäer lässt sich in geopolitischen und geostrategischen Überlegungen ersehen. Die NATO wird dabei in ihrer Bedeutung für die USA zunehmend in eine Reservefunktion gedrängt. Die Bedeutung ist daher relativ geringer, insbesondere deshalb, weil die Europäer mangels ausreichender moderner militärischer Interventionsfähigkeit kein nützlicher Partner für globale Aktionen der USA sind, was die Europäer eigentlich überwiegend auch gar nicht sein wollen. Da aber auch anderen Staaten diese Interventionsfähigkeit fehlt, ist es nur logisch, wenn sich die USA für ihre Aktionen und Vorhaben jeweils Partner oder Verbündete unter regionalen Gesichtspunkten auswählen. Dabei haben die europäischen NATO-Länder selbstverständlich auch einen hervorragenden Stellenwert als regionale Bündnispartner. Aus einer geopolitischen Betrachtung sind dabei Deutschland und Polen die wichtigsten Verbündeten. Man wird sich aber hüten, die europäische NATO auseinander zu dividieren, um spezielle Beziehungen mit hervorstechenden Partnerländern ersichtlich zu machen.

Wenn nun der Stellenwert der NATO geringer erscheint als in der Zeit des Ost-West-Konfliktes, so liegt das ganz einfach daran, dass Europa nicht mehr dieselbe Bedeutung hat wie früher. Das lässt sich weder durch Reformen noch durch neue Aufgaben ändern.

Die Rolle Europas wiederum würde dadurch bedeutender, dass die EU im Stande wäre, eine diesen Namen auch verdienende GASP zu betreiben, und sich zum Aufbau einer gemeinsamen Interventionsstreitmacht (womit nicht die Abstellung von Landeskontingenten gemeint ist) von anderer Qualität und Quantität als den äußerst bescheidenen ESVP-Zielsetzungen entschlösse. Dann hätte sich der Zweck der NATO in der jetzigen Form erübrigt, und nur dann entstünde eine transatlantische Allianz in gleichberechtigter Partnerschaft. So wird es aber höchstwahrscheinlich nicht werden. Die transatlantischen Beziehungen werden - bei gleichzeitiger Relativierung ihrer Bedeutung überhaupt - noch etliche Zeit dem alten Auf und Ab unterliegen, ohne zu zerbrechen.

Von der ersten zur zweiten NATO-Osterweiterung

Strategische Perspektiven zur NATO-Osterweiterung

Bei der NATO-Erweiterung ging es um die Festlegung der neuen Machtverhältnisse in Europa, deren markanteste Punkte - solange es keine sicherheitspolitisch handlungsfähige EU gibt - der Stellenwert und die Rolle Deutschlands, die Präsenz und das Engagement der USA in Europa und die Rolle Russlands (dessen Status als Weltmacht oder nur als regionale Macht) sind. Im eigenen Interesse, den politischen Westen nach Osten zu verschieben, ist Deutschland der Promotor der Osterweiterung gewesen, während Russland diese zu verhindern bzw. zu verzögern versuchte und versucht, um den Raum für eigene Wirkungsmöglichkeiten möglichst groß zu halten. Die US-Politik unterlag Schwankungen, die meist Resultate der Innenpolitik waren. Letztlich spielten aber strategische Aspekte eine entscheidende Rolle für die US-Positionen zur NATO-Erweiterung.

Ohne Osterweiterung der NATO und im Hinblick auf die naturgemäße Schwerfälligkeit des Erweiterungsprozesses der EU musste befürchtet werden, dass das Umfeld der NATO in Mittelost- und Osteuropa instabil bleiben und ein Gebiet konkurrierender Einflusssphären werden würde. Es konnte schwerlich im NATO-Interesse liegen, dass Ostmitteleuropa eine sicherheitspolitische Grauzone bleibt.

NATO-Erweiterung und Russland

Vor der ersten Osterweiterung der NATO waren die strategischen Überlegungen fast ausschließlich auf Russland abgestellt. Aus eigener Sicht hatte Russland immerhin große Opfer erbracht, indem es seine Truppen und Waffen aus Mittel- und Osteuropa zurückgezogen hatte - und die Antwort der NATO darauf war die Erweiterung ihrer militärischen Allianz bis zu den Grenzen zuerst der Sowjetunion und dann Russlands hin. Durch die NATO-Erweiterung wird Russland seine Pufferzone entzogen und werden für Russland neue gefährliche Bedingungen geschaffen, weil es durch die NATO-Erweiterung von "feindlichen" Kräften eingekreist wird. Auch wenn die NATO im Moment nicht aggressiv ist, so kann doch künftig eine Situation entstehen, dass Druck ausgeübt wird, um militärische Macht zu benützen oder um spezifische Ziele zu erreichen. Deshalb könnte die Situation des Kalten Krieges wiederkehren, denn Russland würde nicht zögern, seine strategischen Ziele auch außer Landes zu verteidigen (z.B. indem es Nuklearwaffen auf neue osteuropäische Mitglieder richtet oder im Abrüstungsbereich innehält). So die Überlegung am Vorabend der ersten Osterweiterung.

Eine zentrale Frage war, wie sich Russland durch die Osterweiterung der NATO verhalten wird bzw. ob dieses Verhalten kalkulierbar ist. Auf Grund des von Politologen so genannten anarchischen Systems der Staatengemeinschaft, weil es keine Zentralinstanz gibt, die die Sicherheit der einzelnen Staaten gewährleisten kann, muss jeder Staat selbst für seine Sicherheit vorsorgen. Die Verteidigungsrüstung des einen wird vom anderen als potenzielle Offensivrüstung verstanden. Rüstungswettläufe sind die Folgen. Nicht die Absicht des anderen zählt, sondern das, was er tun könnte. Aus dieser Logik musste Russland die NATO-Osterweiterung als bedrohlich ansehen.

Die NATO-Erweiterung hat Russland dazu herausgefordert, seinen künftigen Stellenwert bzw. sein Selbstverständnis als politische und militärische Macht früher energisch zu diskutieren, als dies sonst der Fall gewesen wäre. Weil die Ressourcen des Landes in keiner Hinsicht für eine aktuelle Großmachtrolle ausreichen - wenn man vom Umstand absieht, dass das riesige Territorium Russland von sich aus eine gewisse weltweite Bedeutung verschafft -, muss Russland die Bestätigung seiner Großmachtrolle nun in der internationalen Politik suchen. Diese besteht in Gegenmaßnahmen gegenüber westlichen, insbesondere amerikanischen Intentionen. Insbesondere bemüht sich Russland um Gesprächsbeziehungen mit und Einflussnahme auf verschiedene Länder, die ihrerseits im Visier des Westens bzw. der USA sind. Konkret wurden die Beziehungen zum Irak und Iran verbessert, und Russland hat sich bemüht, die traditionell guten Beziehungen zu Indien wieder zu aktivieren. Es versucht, sich immer wieder in die westliche Nahost- und Mittelostpolitik einzumischen und sich als natürliche Gegengröße zu den USA darzustellen. Im Sinne der Begrenzung amerikanischen Einflusses ergeben sich auch Ansätze einer strategischen Kooperation mit China. Die NATO-Erweiterung hat zu diesen Entwicklungen beigetragen.

Tatsächlich hat die erste Osterweiterung der NATO die Beziehungen der USA zur NATO weniger belastet als angenommen worden war. Allerdings war die erste Erweiterung in geopolitischer und geostrategischer Hinsicht noch nicht so tief greifend, und es wurde verschiedentlich argumentiert, dass eine zweite NATO-Osterweiterung mehr umstritten sein würde als die erste. Freilich, die Angst vor der NATO ist in Russland mehr ein politisches Instrument der Nationalisten als ein reales Gefühl. Entsprechend gering ist deshalb aber auch die Möglichkeit des Westens, diese Angst oder Aversion durch Wohlverhalten abzubauen. Die heraufbeschworene Gefahr besteht nicht in aggressiven Aktionen der NATO gegen Russland, sondern sie besteht in der Behauptung, dass sich die NATO bis zur russischen Grenze ausweiten will. Das ist das Problem. Trotz der mehrfachen Westöffnungen Russlands bzw. der russischen Führungen (zuletzt die Wladimir Putins im Frühjahr 2001) ist ein Abrücken Russlands vom Widerstand gegen die NATO wegen dessen emotionaler Verankerung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.

Die Ausgangslage zur zweiten Osterweiterung

Neun Kandidaten für die NATO-Aufnahme bereiten sich seit 1999 mit dem so genannten Membership Action Plan (MAP) auf die Aufnahme in das Bündnis vor. (Albanien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Mazedonien, Rumänien, Slowenien und die Slowakei. 2002 erhielt noch Kroatien als zehntes Land den Status eines Beitrittskandidaten.) Durch den MAP erfuhr die Erweiterung, die letztlich eine politische Entscheidung bleibt, eine gewisse Objektivierung. Es geht dabei um die politischen und wirtschaftlichen Reformen, um die Umstellung der Streitkräfte auf die NATO-Standards, die Bereitstellung hinreichender Mittel für die Verteidigungsausgaben, den Schutz von Geheimdokumenten und die Anpassung von Vorschriften und Gesetzen im Hinblick auf den NATO-Beitritt. Vor dem Sommer 2002 stellte sich die Situation so dar, dass Estland, Lettland und Litauen bei der Verwirklichung von militärischen und politischen Reformen bislang am besten dastanden, gefolgt von Slowenien und der Slowakei, die etwa den Stand hatten wie die beiden neuen NATO-Mitglieder Tschechische Republik und Polen vor der Erweiterung 1999. Bulgarien und Rumänien fallen aber im Vergleich zu den anderen noch weit zurück. Mazedonien und Albanien kommen für eine baldige NATO-Mitgliedschaft ganz offensichtlich noch nicht in Frage. Kroatien sollte in den Vorbereitungsprozess aufgenommen werden, also den Status eines Aufnahmewerbers erhalten.

Für die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens sprechen wiederum politische und geostrategische Gründe. Dadurch würde der westliche Einfluss am Balkan abgesichert und der Russlands praktisch ausgeschaltet. Durch die Mitgliedschaft dieser beiden Länder gibt es keine abgelegene Position von Griechenland und der Türkei, sondern ein zusammenhängendes großes NATO-Territorium im Bereich Südosteuropa-Kleinasien. Die Schwarzmeerküste ist dann zu mehr als 50% im Besitz von NATO-Ländern.

Am NATO-Gipfel in Prag vom 21./22.11.2002 ist dann die definitive Entscheidung gefallen, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei zum Beitritt einzuladen.

Der Stellenwert militärischer Eignung der Kandidaten scheint in den letzten Jahren an Gewicht verloren zu haben. Das Verhalten der USA gegenüber der NATO nach dem 11. September 2001 hat dargelegt, dass die NATO des 21. Jahrhunderts v.a. eine politische und erst in zweiter Linie eine militärische Organisation sein wird. (Gemeinsame Verteidigung und die Beistandspflicht sind zur Zeit nicht aktuell.) Die USA haben mit den meisten ihrer Bündnispartner hinsichtlich deren Beteiligung an der Operation Enduring Freedom bilaterale Abmachungen getroffen. Man kann darin ein Modell für die Zukunft sehen, wonach die NATO dann militärisch eine Art Baukasten wäre, aus dem von Fall zu Fall für Operationen unter amerikanischer Führung die benötigten militärischen Fähigkeiten zusammengestellt werden.

In diesem Wandel der NATO zu einer mehr politischen Organisation ist wohl auch - zumindest teilweise - die stillschweigende Akzeptanz der NATO-Erweiterung durch Russland zu erklären. Noch 1999 sprach man von einer "roten Linie", nämlich der Grenze der ehemaligen Sowjetunion. Die Aufnahme ehemaliger Sowjetrepubliken, konkret etwa der baltischen Staaten, würde die politische Landschaft verändern. Wenn die NATO diese Linie überschreitet, dann würde sich das Verhältnis Russlands zur NATO grundsätzlich verändern und wäre eine Zusammenarbeit mit der NATO nicht mehr möglich(FN1).

Die Beziehungen der USA bzw. der NATO zu Russland haben durch die erste NATO-Erweiterung tatsächlich keine ernste Beeinträchtigung erfahren. Trotz der Aufkündigung des Anti-Ballistic-Missile (ABM)-Vertrages von 1972 über die Begrenzung der strategischen Raketenabwehr hat sich durch die bilaterale Kooperation der USA mit Russland der Prozess zur weiteren Reduzierung der Nukleararsenale fortgesetzt und im Mai 2002 zu dem von Russland gewünschten Vertrag geführt, wonach bis 2012 die strategischen Atomwaffen auf zirka ein Drittel des derzeitigen Bestandes reduziert werden sollen. Auch die Kooperation Russlands mit der NATO hat eine positive Entwicklung genommen. Zur besseren Einbindung Russlands wurde am 28.5.2002 an Stelle des alten "Ständigen Gemeinsamen NATO-Russland-Rates" der "NATO-Russland-Rat" installiert, bei dem die Konsultationen und Entscheidungen nicht mehr wie früher im Format 19 plus 1 (hier die 19 NATO-Mitglieder und dort Russland) erfolgen sollen, sondern Russland gleichberechtigt mit allen NATO-Mitgliedern teilnimmt, also ein Rat der 20 geschaffen wurde. Dies ist allerdings auf Gebiete von gemeinsamem Interesse beschränkt; das Bündnis behält sich das Recht zu unabhängigem Handeln weiterhin vor. Zum Bereich des gemeinsamen Interesses sollen Themen wie Terrorismus, Nichtverbreitung von ABC-Waffen, Krisenmanagement, Katastrophenschutz, Rüstungskontrolle und Abrüstung gehören. Russland soll dadurch ohne formelle Mitgliedschaft die Möglichkeit erhalten, wichtige Entscheidungen gemeinsam mit dem Bündnis zu treffen. Der neue NATO-Russland-Rat ist auch als Ergebnis pragmatischer russischer Politik zu bewerten, wonach die offene Gegnerschaft zur NATO aufgegeben wurde, weil sie Russland letztlich keine Vorteile brachte.

Strategische Situation vor der zweiten NATO-Erweiterung

Strategische Westöffnung Russlands

Die strategische Situation ist v.a. gekennzeichnet durch die strategische Westöffnung, die Präsident Putin 2001 eingeleitet hat (und zwar vor den Anschlägen des 11. Septembers 2001). Der neue NATO-Russland-Rat und die Absicht zur Reduzierung der strategischen Atomwaffen wurden - zumindest im Westen - verschiedentlich als das definitive Ende jenes Denkens beurteilt, das den Kalten Krieg bestimmt hatte. Die ehemaligen Sowjetrepubliken gehören nicht mehr zum exklusiven Einflussbereich Russlands; die rote Linie existiert nicht mehr. Die NATO ist für manche Russen nicht mehr eine Furcht erregende Sache, sondern mutiert immer mehr von einer militärischen zu einer politischen Allianz. Die Kündigung des ABM-Vertrages von 1972 durch die USA ist hingenommen worden und damit praktisch auch der Umstand akzeptiert, dass die USA im militärtechnologischen Bereich an Russland vorbeiziehen und ihre strategische Position weiterhin ausbauen werden.

Russland vertritt zwar nach wie vor die Auffassung einer multipolaren Ordnung und wird mit anderen Ländern in diesem Sinne zusammenarbeiten (insbesondere mit China und Indien). Es will aber auch Anerkennung im Westen, und es will von den USA als Kooperationspartner anerkannt werden. Der offizielle Status eines führenden Industrielandes und die Umwandlung der G7 zur G8 mit vollwertiger Mitgliedschaft Russlands waren dazu sicherlich förderlich. Realpolitik gebietet es einfach, die Gegebenheiten zur Kenntnis zu nehmen und ihrerseits das Beste daraus zu machen: Eine nicht verhinderbare NATO-Erweiterung ist eine solche Realität. Das ändert nichts an den Möglichkeiten Russlands, mit Staaten zusammenzuarbeiten, deren Politik gegen den Westen bzw. gegen die westliche Politik gerichtet ist, wie z.B. dem Irak und dem Iran.

Die derzeitige überragende Stellung der USA gegenüber deren europäischen Bündnispartnern bietet aber auch noch eine weitere Möglichkeit für Russland. Aus der militärischen Schwäche der Europäer resultiert deren eher geringes politisches Gewicht; sie vermögen die Ordnungsvorstellungen der USA kaum noch zu beeinflussen. Dazu kommt, dass die zunehmende Konzentration der Amerikaner auf den asiatischpazifischen Bereich und die abnehmende geostrategische Bedeutung des europäischen Schauplatzes den Stellenwert Europas ohnedies herabsetzen. So kann sich Russland als interessanterer Kooperationspartner erweisen als einzelne europäische Staaten. Und warum sollte Russland eine solche Herausforderung - wenngleich nur als Juniorpartner der USA - nicht annehmen? Jedenfalls kann Russland in sicherheitspolitischer Hinsicht als bedeutsamer als jede andere europäische Macht darstellen, vielleicht sogar als bedeutsamer als die ganze EU.

Die zweite Osterweiterung verstärkt den Trend zur politischen NATO

Auch den Beitrittskandidaten der NATO der zweiten Erweiterungsrunde war klar, dass es sich bei der NATO nicht mehr um jene Organisation handelt, der sie einmal beitreten wollten, weil das Bündnis einem rasanten Wandel unterworfen ist. Sie selbst bzw. die Aufnahme noch ziemlich armer Länder mit veralteten Streitkräfteausrüstungen, die kaum im Besitz moderner Militärtechnologie sind, leistet einen nicht unerheblichen Beitrag dazu, dass die Verteidigungskapazitäten der NATO im Durchschnitt noch geringer werden. Durch die steigende Anzahl der Mitglieder wird die NATO noch schwerfälliger und noch weniger zu effektiven Handlungen im Stande sein. Die Erweiterung trägt also dazu bei, den Prozess der Entwicklung der NATO zu einer mehr politischen als militärischen Institution zu verfestigen. Gegen eine solche NATO hat Russland aber weniger einzuwenden.

Nach der zweiten NATO-Erweiterung ergibt sich nun ein neues strategisches Interesse der NATO bzw. des Westens für die Länder, die östlich der neuen NATO-Linie liegen. Es dürfen dort keine neuen Zonen der Instabilität und der Unsicherheit entstehen, weshalb insbesondere der Ukraine Augenmerk zugewendet werden muss. Die Stimmen in den USA, dass sowohl der Ukraine als auch einzelnen Ländern des Kaukasus der Zugang zum Verteidigungsbündnis geboten werden sollte, sind - so sonderbar das für manche "Westler" klingen muss - unüberhörbar. Die immer stärkere Einbindung Russlands in die NATO ist eine Parallelmaßnahme dazu. Wenn man sich heute die sicherheitspolitische Literatur vor einigen Jahren vor Augen führt, so ist eine ganz wesentliche Veränderung festzustellen. Denn noch vor wenigen Jahren hat man ein Abrücken des russischen Widerstandes gegen die NATO-Erweiterung alleine schon wegen der emotionalen Verankerung dieses Themas in der russischen Öffentlichkeit in einer überschaubaren Zukunft nicht erwarten können.(FN2) Sicherheitspolitische Bedürfnisse der Kandidaten

Unabhängig von ihrem militärischen Charakter sahen die Aufnahmekandidaten in der NATO auch eine Wertegemeinschaft, der man angehören wollte. Die Aufnahme in die NATO wurde deshalb im historischen Sinn als eine Rückkehr nach Europa empfunden(FN3). Wird die NATO-Erweiterung im Englischen statt mit dem von ihren Kritikern benützten (aggressiver klingenden) Begriff Expansion, von den Förderern mit der behutsameren Bezeichnung Enlargement bezeichnet, so wird auch im Deutschen häufig von der "Öffnung der NATO" gesprochen, womit gezeigt werden soll, dass es sich bei der Erweiterung nicht um eine Maßnahme im Bereich veralteter Denkmuster hinsichtlich Macht und Einflussbereich handle. Vielmehr solle sie eine Antwort auf das Streben der mittel- und osteuropäischen Staaten nach Integration in die westlichen Strukturen sein.(FN4) Verständlich ist nicht nur das Streben der Staaten Ost-, Mittel- und Südosteuropas in die westliche Wertegemeinschaft, sondern v.a. in das westliche sicherheitspolitische Institutionengefüge. Im 20. Jahrhundert hatten sie ja die Funktion eines Cordon sanitaire zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Dieses Zwischeneuropa diente vor dem und während des Zweiten Weltkrieges als Spielraum für die Machtpolitik der beiden damals dominierenden Mächte Kontinentaleuropas. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren diese Staaten im Sicherheitsgürtel der Sowjetunion bzw. im Rahmen des Warschauer Paktes auch unter ihrer direkten Kontrolle. Sie bildeten einen Cordon sanitaire für die Sowjetunion selbst, wobei sie gegen fremde Einflüsse abgeschirmt und gleichzeitig auch Ausgangsbasis offensiver sowjetischer Politik waren. Aus dieser historischen Erfahrung heraus kann es nicht verwundern, wenn es den mittel- und osteuropäischen Ländern beim Wunsch nach einem NATO-Beitritt um ein prinzipielles Anliegen, eine Identitätssuche als dem freien Europa anzugehören, geht, obwohl sie keiner akuten Bedrohungssituation ausgesetzt sind. In Ländern wie Polen und Tschechien werden sowohl Russland als auch Deutschland als Angstfaktoren betrachtet, deren Potenzial nur durch die USA ausgeglichen werden kann, weshalb die von den USA geführte NATO als eine wesentliche Institution für ihre Sicherheit erscheint. Die Präsenz der USA im Rahmen der NATO in Europa ist auch das Gegengewicht zu Deutschland. Immerhin gab es schon über ihren Kopf hinweg gefällte Absprachen zwischen Deutschland und Russland, aber auch zwischen den Westmächten Europas und dem Deutschen Reich.

US-Position gestärkt

Zumindest in der Zeit unmittelbar nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation war die Osterweiterung der NATO auch prioritäres strategisches Interesse Deutschlands. Nach dem Einbezug der ehemaligen DDR und Polens in die NATO konnte Deutschland aus der Randlage herauskommen. Bei großer Rücksichtnahme auf die russischen Empfindlichkeiten und durch geschickte Politik übernahm Deutschland in der Ära des Bundeskanzlers Kohl die Rolle des Anwaltes der mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten. Die USA sind 1994 auf die deutsche Linie eingeschwenkt und haben dann selbst die Führung in der NATO-Osterweiterungspolitik übernommen. Dies war eine Gegenstrategie zur europäischen Vorstellung der Europäisierung der europäischen Sicherheit. Die USA verblieben mit Hilfe der Allianz weiterhin als Führungsmacht in Europa präsent. Im Vorlauf zur ersten Osterweiterung der NATO war diese aus amerikanischer Sicht sicherlich noch als zuallererst militärische Verteidigungsorganisation zu sehen. Neben der Verhinderung einer sicherheitspolitischen Grauzone oder eines neuen Zwischeneuropas galt es, die Frontlinie der Allianz nach Osten zu verschieben und räumliche Tiefe zu schaffen. Die erste NATO-Erweiterung nach Osten ist sicher nicht als eine rein politische zu sehen; sie hatte noch einen prioritär militärpolitischen Charakter. Dass es trotz der NATO-Osterweiterung keine Belastung des deutschrussischen Verhältnisses und sogar eine positive Entwicklung des russischamerikanischen Verhältnisses gab, zeigt, dass die erste NATO-Erweiterung die Interessen Russlands nicht tief verletzt hat.

Polen, Tschechien und Ungarn gehören ja auch nach russischer Einschätzung zum Westen. Die gegebene Situation ermöglicht es eben den Russen nicht, ihren Einfluss auf diese Länder und damit ihren Cordon sanitaire aufrechtzuerhalten. Dies, obwohl laut Michael Gorbatschow beim Abschluss des 2-plus-4-Vertrages 1990, der den Weg zur Deutschen Einheit geebnet hatte, Einigkeit darüber bestanden haben soll, dass nach dem Abzug der russischen Truppen aus der damaligen DDR auf eine NATO-Ausdehnung nach Osten verzichtet werde.(FN5) Die NATO-Osterweiterung war und ist somit auch ein Unternehmen, um die amerikanische Präsenz in Europa aufrechtzuerhalten. Rechtzeitig wandelt sie sich zu einer Art bewaffneter Version der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und wird damit auch für Russland akzeptabel. Und die NATO ist mit sich selbst sehr beschäftigt, mehr als in früheren Zeiten. Diese Aktivitäten betreffen weniger die kollektiven Verteidigungsvorkehrungen und auch nicht Maßnahmen der gemeinsamen Verteidigung gegen den internationalen Terrorismus oder zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen usw., sondern sie betreffen Peacekeeping-Operationen, Vorbereitung der Beitrittskandidaten, Betreuung der bereits beigetretenen NATO-Mitglieder und die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten im Hinblick auf Interventionen.

Die Protagonisten einer weiterhin militärisch effizienten NATO hatten Bedenken gegen die Osterweiterung und haben sie noch. Je größer die NATO durch Aufnahme weiterer - und zwar militärisch nicht ausgezeichnet gerüsteter - Länder wird, desto mehr verwässert das die NATO. Aber die NATO ist in Wahrheit heute schon eine Zwei-Klassen-Allianz, wenn nicht eine Drei-Klassen-Allianz. Dieser Zustand wird durch die Erweiterung verstärkt. Dazu kommt, dass die meisten NATO-Kandidaten (ausgenommen Slowenien) nach der ersten Erweiterung außer ihren militärischen Schwächen auch Probleme hinsichtlich ihrer politischen Stabilität haben. Es geht also letztlich sogar darum, noch relativ schwache Demokratien in die NATO einzubringen. Freilich kann man den Einbezug noch nicht ganz gefestigter Demokratien in die NATO auch als eine Politik zur Stabilisierung derselben betrachten. Auch kann es als Akt nachträglicher Gerechtigkeit betrachtet werden, wenn Länder der NATO beitreten, die früher unter der Unfreiheit durch die Teilung des Kontinents gelitten haben. Aber in die "alte" NATO wären sie wohl nicht aufgenommen worden.

ANMERKUNGEN:

(FN1) So etwa der stellvertretende russische Außenminister Gusarow bei der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik laut FAZ vom 8.2.1999.

(FN2) Vgl. etwa Martin Malek: Russland und die NATO-Osterweiterung: Konfrontation oder Kooperation? In: Erich Reiter (Hg.): Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 1999, S.310-341.

(FN3) Heinz Brill: Die NATO-Osterweiterung und die geopolitischen Interessen der Mächte. In: ÖMZ 6/1998.

(FN4) So etwa der frühere deutsche Außenminister Klaus Kinkel: Die Öffnung der NATO für neue Mitglieder. Stabilitätspolitik für ganz Europa. In: Europäische Sicherheit 6/1998.

(FN5) Zitiert bei Wolfgang Leonhard: Spiel mit dem Feuer. Russlands schmerzhafter Weg zur Demokratie. Bergisch Gladbach 1996. Auch der frühere außenpolitische Berater Gorbatschows, Tschernjajew, hat bei einer Tagung ausgeführt, dass Gorbatschow mehrmals mündlich zugesagt worden sei, dass es nicht zu einer Osterweiterung der NATO kommen werde (zitiert in FAZ vom 8.5.1995).

Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. Erich Reiter

Geb. 1944; Sektionschef; Beauftragter für Strategische Studien des Bundesministeriums für Landesverteidigung (zugleich Leiter des Militärwissenschaftlichen Büros); vormals Leiter der Präsidial- und Rechtssektion im Bundesministerium für Landesverteidigung; langjähriger Leiter des Ludwig-Boltzmann-Institutes für politische Soziologie; Honorarprofessor an der Universität Graz; Mitglied des ISS und Vizepräsident der österreichischen Gesellschaft für Politisch-Strategische Studien.



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Die Lage in Europa 1989.
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Der Prozess der NATO-Erweiterung 2002.
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Der Prozess der NATO-Erweiterung 2002.

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