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Militärische Macht als außenpolitisches Instrument im 21. Jahrhundert

von Hans-Georg Ehrhart

Kurzfassung

◄ In welchem Umfang das Militär zur Sicherheit des Staates beitragen kann, hängt von den internationalen Rahmenbedingungen und den außenpolitischen Zielen ab. Seit dem Ende der Bipolarität hat sich das Bedrohungsbild gewandelt, indem eine Phase der Unsicherheit eingetreten ist, in der militärische Gewalt ihren Charakter verändert hat: An die Stelle des konventionellen zwischenstaatlichen Krieges ist der Low Intensity Conflict (LIC) getreten, der vornehmlich innerstaatlich ausgetragen wird, neben öffentlichen auch private Akteure involviert und sich durch vergleichweise "einfache" Kriegsmittel auszeichnet.

Das postmoderne Militär unterliegt einem Wertewandel, der sich in der Relativierung militärischer Werte wie Ehre und Vaterland durch humanitäres Engagement artikuliert. Der Soldat ist nicht mehr nur Kämpfer, sondern auch Friedenswahrer und Diplomat. Sein Auftrag ist immer öfter Friedenssicherung oder Friedensschaffung (Peace Support Operations, PSO), sein Einsatz wird durch regionale oder internationale Organisationen legitimiert. Multinationale Streitkräftestrukturen tragen zur Internationalisierung des Militärs bei, das eine kooperative Sicherheitspolitik zu implementieren hat und dabei immer öfter mit zivilen internationalen Akteuren bzw. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zusammenarbeiten muss.

Die technologiegestützte Revolution in Military Affairs (RMA) verlangt eine Anpassung der Führungs- und Streitkräftestrukturen sowie der Ausbildungs- und Einsatzkonzepte. Die Ressource Mensch wird partiell durch neue Technologien ersetzt, die verbleibenden Soldaten sind zunehmend hoch qualifizierte Spezialisten. Das postmoderne Militär wird ferner mit der Privatisierung der Gewalt konfrontiert, der Gewaltausübung durch nichtstaatliche Akteure, wobei hier die Grenzen zur organisierten Kriminalität fließend sind.

Die Kernaufgaben des postmodernen Militärs sind PSO und LIC, die Hauptkriterien für Erfolg die Verbesserung der Lage der Menschen vor Ort und die Unversehrtheit der eigenen Soldaten. Im Kampf gegen nichtstaatliche Akteure zeigt sich das neue Sicherheitsdilemma, dem nur mit einem globalen Ansatz, mit Konfliktprävention durch Kooperation und Entwicklung begegnet werden kann. Die EU verfolgt mit ihrer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zumindest tendenziell einen solchen Sicherheitsansatz, doch geht ihr Aktionsplan im Zusammenhang mit der Terrorismusproblematik und der Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure nicht weit genug. Der laufende EU-Konvent wäre eine gute Gelegenheit, über die Bedeutung von Militärmacht für internationale Stabilität und Sicherheit im Zeichen der Globalisierung nachzudenken. ►


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Militärische Macht als außenpolitisches Instrument im 21. Jahrhundert

Nach Max Weber bezeichnet Macht jedes soziale Verhalten, in dem bestimmte Personen die Chance haben, bei anderen auch gegen Widerstreben Gehorsam zu finden, und zwar ungeachtet der eingesetzten Machtressourcen. Macht ist eine soziale Kategorie, die in allen gesellschaftlichen Beziehungen wirksam wird. Militärische Macht kommt nach herkömmlichem Verständnis insbesondere in zwischenstaatlichen Beziehungen zur Geltung. Die Herausbildung von Staaten geht einher mit der Zentralisierung der Gewalt. Der moderne Staat verfügt über das Monopol legitimer Gewaltausübung. Seine Herrschaft ist die institutionalisierte und legale Ausübung von Macht. Die Legitimität der Herrschaft gründet sich heute - zumindest in den industrialisierten Staaten der so genannten "OECD-Welt" - v.a. auf demokratische Verfahren und den Geltungsanspruch von Normen.

Das Militär ist eines der Machtinstrumente des Staates. Seine zentrale außenpolitische Funktion ist es, zur Sicherheit des Staates und seiner Bürger beizutragen. Wie das konkret zu geschehen hat, unterliegt dem Wandel der internationalen Rahmenbedingungen und der außenpolitischen Ziele. Wir befinden uns in einer Zeitenwende, in der sich das moderne Verständnis der Rolle militärischer Macht als staatlichem Instrument der Außenpolitik grundlegend verändert. Der Historiker Martin van Creveld prognostiziert sogar, dass die heutigen bürokratisierten Militärapparate der Staaten das Schicksal der Saurier ereilen wird. Die für das Zeitalter der Moderne charakteristische Differenzierung in Staat, Armee und Volk verblasst. Die Souveränität des Staates bröckelt erkennbar, seine Fähigkeit, Sicherheit zu gewährleisten nimmt ab. Gleichzeitig entstehen neue Akteure und Wirkkräfte, die trotz technologiegetriebener Globalisierung in ihren ideologischen Motivationen, organisatorischen Strukturen und Argumentationsmustern eher an das Mittelalter erinnern. So entsteht ein neues Sicherheitsdilemma, das die Außen- und Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert und das Militär als eines ihrer Instrumente vor große Herausforderungen stellt.

Staat, Militär und Gesellschaft im Wandel

Um den Funktionswandel des Militärs als eines politischen Instruments zu verdeutlichen, vergegenwärtigen wir uns zunächst holzschnittartig einige wesentliche Merkmale aus der historischen Epoche des Mittelalters. Der Westfälische Friede von 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg beendet wurde, gilt als Beginn moderner Staatlichkeit. Organisatorische Vorläufer in den vorherigen Epochen waren Stämme, Stadtstaaten, Personenverbandstaaten, Reiche oder staatenlose Gesellschaften. Sie wurden geprägt durch personale Herrschaft. Die Vorstellung eines vom privaten Interesse zu unterscheidenden öffentlichen Interesses war ebenso unbekannt wie der Begriff des Interesses selbst. Herrscher und Herrschaft waren identisch. Im Mittelalter war der Militärdienst ein Privileg der Adeligen, die ihrer Lehenspflicht nachkamen. Ab Mitte des 14. Jahrhunderts entwickelte sich das Landsknechtwesen. Bewaffnete Kriegsunternehmer - heute würden wir von "warlords" sprechen - kämpften gegen Entlohnung für ihre adeligen oder städtischen Auftraggeber und für ihr eigenes Auskommen, meistens auf Kosten der Bevölkerung. Außenpolitik im heutigen Verständnis gab es nur in Ansätzen, weil noch keine konsolidierten Staaten existierten. Krieg und Frieden oblagen in der Regel der alleinigen Entscheidung des göttlich legitimierten Herrschers. Gekämpft wurde nicht für staatliche Interessen, sondern für die "gerechte Ordnung", aus religiösen Gründen oder für die Ehre, natürlich auch für so irdische Dinge wie Beute, Sklaven und Territorien.

Der Begriff des Interesses kam erst im Übergang zur Moderne auf. Die Entwicklung der Staaten sowie des modernen Interessen- und des Souveränitätsbegriffes waren miteinander verwoben. Öffentliche und private Angelegenheiten trennten sich zusehends. Der Staat als abstrakte Institution übte Zwang aus jenseits von Moral und göttlichem Recht. Zur Sicherung seines Sieges über Kirche, Adel und Städte bedurfte der absolutistische Staat nicht zuletzt eines stehenden Heeres. Mit der Unterscheidung zwischen Militärangehörigen und Zivilisten ging die Trennung zwischen Militär und Gesellschaft einher. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts setzte die Unterscheidung zwischen den für die äußere Sicherheit zuständigen Streitkräften und der für die öffentliche Ordnung zuständigen Polizei ein.

Es blieb Carl von Clausewitz vorbehalten, das für das Zeitalter der Moderne gültige außenpolitische Paradigma zu prägen, wonach Krieg die Fortsetzung der Politik unter Einmischung anderer Mittel ist. Dieses Verständnis wurzelte in der politischen Philosophie der Aufklärung und im europäischen Staatensystem. Ihm lag ein "rationales" und instrumentales Verständnis von Politik zu Grunde, das bis in die Gegenwart nachwirkt. Clausewitz orientierte sich an säkularen Kategorien wie souveräner Macht und Staatsinteresse sowie Kosten und Nutzen. Krieg wurde zum Instrument der Politik, welches wiederum von der Regierung einer von Volk und Militär getrennt gedachten abstrakten Körperschaft öffentlichen Rechts, genannt Staat, eingesetzt wurde. In der Zeit der Kabinettskriege kämpften die Armeen der Staaten gegeneinander, Kombattanten und Nichtkombattanten waren klar getrennt. Konfliktgegenstand waren in der Regel Machtambitionen und Territorialstreitigkeiten, denn Land bedeutete Einkünfte, womit wiederum Krieg refinanziert und Macht akkumuliert werden konnten.

Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht seit Napoleon Bonaparte und die Propagierung des totalen Krieges seit Beginn des 20. Jahrhunderts führten vor dem Hintergrund des sich entwickelnden Nationalismus und Imperialismus zu einer tendenziellen Militarisierung der europäischen Gesellschaften und zu einem Bedeutungszuwachs des Machtfaktors Militär, dessen geballte Kraft sich in den Zerstörungen und Millionen von Opfern beider Weltkriege widerspiegelte. Der Kabinettskrieg wurde durch den industrialisierten totalen Krieg abgelöst. Die Unterscheidung zwischen Kombattant und Nichtkombattant verschwamm ebenso wie jene zwischen Armee und Volk.

Ein Ergebnis des Grauens der Weltkriege ist das Verbot des Krieges als in freier Verfügung des Staates stehendes Instrument (Briand-Kellog-Pakt 1928, UNO-Charta 1945). Die Entwicklung der Nuklearwaffen läutete das Ende des Clausewitzschen Denkansatzes, vom Krieg als Fortsetzung der Politik, ein. Angesichts des Damoklesschwertes gegenseitiger nuklearer Vernichtung konnte Krieg kein rationales Mittel der zwischenstaatlichen Beziehungen mehr sein. Sowohl die bipolare Struktur des Ost-West-Konfliktes und das wachsende militärische Vernichtungspotenzial der Supermächte als auch die gesellschaftliche Akzeptanz und die völkerrechtlichen Normen beschränkten die Rolle des Militärs weit gehend auf Verteidigung und Abschreckung. Der territoriale Status quo wurde festgeschrieben, die gewaltsame Änderung von Staatsgrenzen völkerrechtlich delegitimiert. Die Rolle des Staates als souveräner Akteur in der internationalen Politik veränderte sich grundlegend. Nationale Sicherheit konnte nur noch kollektiv gewährleistet werden. Zwischenstaatliche Kriege wurden die Ausnahme. Der Übergang in eine neue Epoche hatte begonnen.

Gewalt in den "postinternationalen Beziehungen"

Historische Wendezeiten sind erst im Rückblick eindeutig als solche zu bestimmen. Die Zeit des Übergangs wird deshalb meist mit dem Zusatz "post" versehen. Damit wird angezeigt, dass etwas vorüber und etwas Neues, aber noch nicht deutlich Erfassbares im Entstehen ist. So ist in der angelsächsischen Fachliteratur von "postinternationalen Beziehungen" und von "postmodernem Militär" die Rede, um die sich abzeichnende neue Qualität in diesen Bereichen zu beschreiben. Das Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 wird gemeinhin als historischer Wendepunkt angesehen, wobei es unstrittig ist, dass komplexe gesellschaftliche und internationale Prozesse nicht auf ein bestimmtes Jahr verdichtet werden können.

Während der Staat im Mittelpunkt des Denkens von Clausewitz und seinen Zeitgenossen stand, so bringt der Begriff der postinternationalen Beziehungen die Notwendigkeit zum Ausdruck, andere Wirkkräfte und Akteure in den Blick zu nehmen. Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass sich die Gewichtung der Machtressourcen umgekehrt hat. Knowhow gilt heute als die wichtigste Machtressource, gefolgt von Wirtschaftskraft und Militärmacht. Zudem haben sich die Beziehungen der Akteure verändert. So etabliert sich auf globaler Ebene neben den klassischen zwischenstaatlichen Beziehungen ein dichtes Geflecht nichtstaatlicher und transnationaler Akteure. Auf nationaler Ebene ist ein deutlicher Trend zu dezentralen Strukturen erkennbar. Auf substaatlicher Ebene entsteht eine Vielzahl von relativ autonomen, in Gruppen und Netzwerken organisierten Akteuren. Die technologische Entwicklung ermöglicht es allen, miteinander in Kontakt zu treten. Die wechselseitige Verflechtung hat ein bislang nicht gekanntes Ausmaß angenommen. Das birgt Chancen und Risiken.

Bereits der zu Beginn des Nuklearzeitalters geprägte Begriff von der "Interdependenz der gegenseitigen Vernichtbarkeit" bringt zum Ausdruck, dass die klassische Vorstellung vom Staat als einer harten, undurchdringlichen Schale, die äußere Sicherheit garantieren könne, überholt ist. Die seitdem erfolgten technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen haben die Relativierung der dominanten Stellung des Staates verstärkt. Die OECD-Staaten versuchen diesem Prozess mit kooperativen und integrativen Strategien zu begegnen. Gleichzeitig sind wir Zeuge von gegenläufigen, desintegrativen Entwicklungen, wie etwa der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens oder die zahlreichen Kriege in Afrika gezeigt haben.

Wir sind in eine Phase weltpolitischer Turbulenzen eingetreten, in der die bislang bestimmenden Kräfte und Strategien an Leistungskraft einbüßen, ohne dass es bereits einen neuen Ordnungsrahmen gibt. All dies hat Auswirkungen auf unser Verständnis von Sicherheit. Seit Ende des 20. Jahrhunderts wird denn auch die Notwendigkeit eines erweiterten Sicherheitsbegriffs propagiert. Dieser berücksichtigt neben militärischen eine Vielzahl anderer für die Sicherheitsgewährleistung relevanter Dimensionen wie etwa wirtschaftliche, gesellschaftliche, ökologische, migrationspolitische, klimatologische, transnationale oder ressourcenpolitische Aspekte. Wie diese Aspekte aber miteinander effektiv verknüpft werden können, ist noch weit gehend unklar.

Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass wir uns nach dem Ende der Bipolarität in einer Phase der Unsicherheit befinden, in der zwar die direkte militärische Bedrohung durch einen umfassenden Angriff verschwunden ist; dafür bergen die internationalen Turbulenzen aber schwer einzuschätzende Risiken und Konfliktpotenziale in sich. Einerseits führt die sich aus den Turbulenzen ergebende Unsicherheit nicht notwendigerweise zu Gewalt, denn sonst müsste es viel mehr Kriege geben. Andererseits sind gewaltsame Konflikte oder Krieg eine der möglichen Folgen. Während die Nutzung militärischer Gewalt im außenpolitischen Verkehr zwischen den OECD-Staaten gegenwärtig kaum vorstellbar ist, so ist sie doch Teil der internationalen Realität, wenn wir den Blick darüber hinaus richten.

Allerdings hat militärische Gewalt ihren Charakter verändert. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat es vergleichsweise wenige zwischenstaatliche Kriege gegeben. Der mittlerweile vorherrschende Kriegstyp ist der so genannte Low Intensity Conflict (LIC), der vom Nuklearkrieg und vom klassischen konventionellen Krieg unterschieden wird. Dieser etwas irreführende Begriff - die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Schäden kann die zerstörerische Wirkung von konventionellen zwischenstaatlichen Kriegen durchaus übertreffen - erfasst alle Kriegstypen, die nicht ausschließlich zwischen Staaten ausgetragen werden. Die Ursachen für solche bewaffneten Konflikte sind hauptsächlich das Ringen um Macht, Identität und/oder Ressourcen. Nach van Creveld sind für diesen LIC-Typ drei Merkmale charakteristisch: - Erstens findet er vornehmlich (aber nicht nur) innerhalb von Gesellschaften der Entwicklungsländer statt; - zweitens sind öffentliche und private Akteure involviert, d.h. es stehen sich nicht mehr nur reguläre Streitkräfte gegenüber; - drittens werden gerade von den irregulären Akteuren in der Regel keine komplexen, hoch entwickelten Waffensysteme eingesetzt, sondern die "einfachen" Mittel des Bürger- und Guerillakrieges, wozu auch Terrorakte gehören.

Seit dem Zweiten Weltkrieg waren drei Viertel aller Kriege LICs. Sie sind im Gegensatz zum konventionellen Krieg, der seit dem 17. Jahrhundert zur Konsolidierung des Nationalstaates beigetragen hat, zu einem neuen signifikanten Instrument des politischen Wandels des internationalen Systems geworden. Im 20. Jahrhundert konnten sich weder die Kolonialmächte gegen die "Aufständischen" und "Terroristen" durchsetzen noch die scheinbar übermächtigen "Supermächte". So scheiterten die Sowjetunion in Afghanistan und die USA in Vietnam, im Libanon und in Somalia. Gleichwohl gilt die asymmetrische Kriegführung, bei der militärische Hochtechnologie gegen einen rückständigen Gegner eingesetzt wird, als eine Erfolg versprechende Form, in künftigen LICs die Oberhand zu behalten. Ob diese Art der Kriegführung in dem von den USA ausgerufenen weltweiten Kampf gegen den Terrorismus erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Die in den letzten Jahrzehnten gemachten Erfahrungen sprechen allerdings nicht dafür.

Das postmoderne Militär

Als der Begriff der Postmoderne in den 70er-Jahren von dem amerikanischen Soziologen Ronald Inglehard geprägt wurde, bezeichnete er damit einen gesellschaftlichen Wertewandel in Richtung eines verstärkten Individualismus und Hedonismus. Bezogen auf die Streitkräfte bedeutet das Adjektiv signifikante Veränderungen der Werte, Struktur und Rolle des Militärs. Diese Veränderungen werden v.a. durch folgende Entwicklungen charakterisiert: Werte

Der Wandel wird etwa illustriert mit der Relativierung militärischer Werte wie Ehre und Vaterland durch solche wie humanitäres Engagement und Selbstverwirklichung. Frauen sind mittlerweile integriert, Homosexuelle akzeptiert. Zivile Angestellte und Experten werden immer wichtiger, die gegenseitige Durchdringung von Militär und Gesellschaft nimmt zu. Verteidigte der Soldat früher in erster Linie sein Vaterland, so wird er künftig v.a. für zivile Werte wie Freiheit, Demokratie und Recht einzutreten haben. Dadurch wird er aber noch nicht zu einem Kosmopoliten. Diese Werte werden ihm durch das nationale Erziehungssystem vermittelt und im internationalen Kontext verteidigt. Das Militär und das Militärische haben bei weitem nicht mehr den gesellschaftlichen Stellenwert, den sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten. Mit den jüngsten Entwicklungen verändert sich auch das Soldatenbild. Militärische Entscheidungsträger müssen heute angesichts der multilateralen Einbindung und der internationalen Konsequenzen mehr denn je in der Lage sein, die politischen Folgen ihres Handelns zu bedenken. Postmoderne Soldaten sind nicht mehr nur Kämpfer, sondern auch Friedenswahrer, Diplomaten und Entwicklungshelfer. Ihre Motivation wird allerdings nicht von purem Idealismus gespeist, sondern idealiter vom Bewusstsein, dass sie Teil einer Werte- und Risiko-Gemeinschaft von potenziell universellem Ausmaß sind. Aus der so verstandenen Globalisierung ergibt sich der Imperativ einer kooperativen Sicherheitspolitik, die den Aufbau einer mit Erzwingungsmitteln ausgestatteten Rechtsgemeinschaft zum Ziel hat.

Auftrag

Der militärische Auftrag wandelt sich. Die Kriegführung, die, wie das Unternehmen Enduring Freedom in Afghanistan zeigt, keineswegs obsolet geworden ist, ist zu Gunsten anderer Aufträge in den Hintergrund getreten. Im Fachjargon wird von "Missions other than War" (MOW) gesprochen. Diese reichen von der Friedenssicherung über den Bau von Flüchtlingslagern, Minenräumung, Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung, Aufbau von Verwaltungsstrukturen, Entwaffnung von Kampfverbänden und Überwachung von Grenzen, Wahlen, Embargos oder Schutzzonen bis hin zu polizeiartigen Spezialeinsätzen zur Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung. Insbesondere so genannte Friedensunterstützungsoperationen oder, um die Terminologie der NATO zu verwenden, Peace Support Operations (PSO) sind seit Ende der 80er-Jahre die dominierende Einsatzform. Sie finden in der Regel innerhalb von Staaten statt, die von Bürgerkrieg oder ethnopolitischen Konflikten bedroht oder zerrüttet sind. Zerfallene Staatsstrukturen bieten zudem eine ideale Brutstätte oder einen willkommenen Standort für das transnational operierende organisierte Verbrechen in den Bereichen Drogen-, Menschen- oder Waffenhandel sowie für den ebenfalls transnational tätigen Terrorismus. Die Frage ist, warum gerade Streitkräfte außer der Sicherheitsgewährleistung auch Aufgaben übernehmen müssen, die eigentlich zivile Aufgaben sind. Damit ist insbesondere in amerikanischen Militärkreisen die Befürchtung verbunden, dass die Kampfkraft untergraben und die Leistungsfähigkeit überdehnt werden könnte. Dem steht wiederum das Argument gegenüber, dass viele Aufgaben zunächst nur von den Streitkräften zu bewältigen sind, weil sie am schnellsten vor Ort sein können und über die erforderlichen organisatorischen Fähigkeiten verfügen. Wichtiger ist hingegen etwas anderes: Die strikte Trennung zwischen Militär- und Polizeiaufgaben löst sich tendenziell auf. Während die Polizei zunehmend mit einer militarisierten politischen Kriminalität konfrontiert wird, muss sich das Militär verstärkt mit Problemen auseinandersetzen, die innerstaatlicher Natur sind und ein polizeiartiges Vorgehen verlangen.

Internationale Legitimation

Der Einsatz von Streitkräften erfolgt zunehmend durch eine regionale oder internationale Organisation oder wird von einer solchen legitimiert. Wichtig ist v.a. die Legitimation des Einsatzes von Zwangsmitteln durch die Vereinten Nationen (VN). Der Streit, ob ein Mandat dieser Organisation in jedem Fall notwendig ist, beschäftigt die Experten bis heute. Die einen argumentieren unter Verweis auf die VN-Charta, das internationale Gewaltmonopol liege beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Erstens verbiete Artikel 2. Abs. 4 die Androhung und Anwendung von Gewalt durch einen Staat gegenüber einem anderen. Zweitens sei der Einsatz von Zwangsmitteln nur erlaubt, wenn der Sicherheitsrat dies ausdrücklich genehmige oder im Falle individueller und kollektiver Selbstverteidigung. Das Recht der Selbstverteidigung darf aber nur ausgeübt werden, solange der Sicherheitsrat keine Gegenmaßnahmen ergriffen hat (Artikel 51). Die Gegenposition verweist u.a. darauf, dass es Notwehrsituationen jenseits des Verteidigungsfalls gebe, die zum Handeln zwängen. In diesem Zusammenhang wird auch ein "Recht auf humanitäre Intervention" postuliert. Die überwiegende Zahl der Völkerrechtler lehnt ein solches Recht ohne VN-Mandat ab. Andere vertreten die Position, das Völkerrecht verändere sich in diese Richtung. Wie dem auch sei, es bleibt festzustellen, dass es intervenierende Akteure auf jeden Fall vorziehen, auf der Basis eines legitimierenden VN-Mandats zu agieren. Das trifft insbesondere auf jene Staaten zu, die sich, wie etwa die Mitglieder der Europäischen Union, dem Multilateralismus und dem Grundsatz verschrieben haben, dass das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts abzulösen sei. Einerseits hat der Kosovo-Krieg belegt, dass auch diese Staaten bereit sind, sich in völkerrechtliche Grauzonen zu begeben anderseits zeigen die nachträglichen Bemühungen um ein VN-Mandat für den Einsatz im Kosovo oder die frühzeitigen amerikanischen Bemühungen um eine völkerrechtliche Legitimationsbasis für den Kampf gegen den Terrorismus, dass die Staaten nicht mehr ohne weiteres aus eigener Machtvollkommenheit agieren können oder wollen. Sie sind schließlich die Nutznießer eines globalen Ordnungsrahmens, der für eine funktionierende Weltwirtschaft unentbehrlich ist.

Internationalisierung

Das Militär wird zunehmend selbst internationalisiert. Multinationale Streitkräftestrukturen wie das Eurokorps, die bi- und multinationalen Divisionen der NATO oder die Standby High Readiness Brigade der UNO stehen für diesen Trend. Mit Ausnahme der USA ist kein Staat der Welt mehr in der Lage, klassische Großmachtpolitik mit militärischen Mitteln zu betreiben. Das öffentliche Gut äußerer Sicherheitsgewährleistung kann nur noch im kollektiven Verbund bereitgestellt werden. Kleinere Staaten wie Belgien oder die Niederlande verzichten auf nationale Führungsfähigkeit. Aber auch in den größeren EU-Staaten wird angesichts der sicherheitspolitischen Lage und der budgetären Zwänge diskutiert, wo Synergien durch verstärkte Kooperation, Arbeitsteilung und Spezialisierung erreicht werden können. Es geht nicht nur um gemeinsame Krisenbewältigung. Gefordert sind vielmehr Kooperation und Konvergenz in den Bereichen Planung, Forschung und Entwicklung, Versorgung, Ausbildung, Beschaffung, Rüstung, Transport, Wartung und Aufklärung. Letztlich geht der Trend zu gemeinsamen europäischen Streitkräften, so dass perspektivisch nur noch begrenzt von nationalem Militär und nationaler Außenpolitik gesprochen werden kann. Doch der Prozess der Internationalisierung umfasst auch zwei weitere Aspekte. Zum einen erfordern PSO eine vor kurzem noch unvorstellbare Kooperation zwischen internationalen Organisationen. Das gilt nicht nur für "hybride Sicherheitsorganisationen" ) wie NATO, OSZE, EU und VN, sondern auch für andere internationale Akteure wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz oder den Hohen Flüchtlingskommissar der VN. Zum anderen muss im Rahmen der zivilmilitärischen Beziehungen (CIMIC) im Krisengebiet die Zusammenarbeit mit zahlreichen nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen gewährleistet werden.

Technologische Revolutionierung

Die technologiegestützte so genannte "Revolution in Military Affairs" (RMA) führt zu einer bis dahin nicht bekannten Integration von Waffensystemen, Kommandostellen und Kontrollnetzwerken. Es ist unstrittig, dass wir uns seit längerem in einer Phase der technologischen Revolution befinden, deren Motoren die Elektronik, die Informatik und die Telekommunikation sind. Ihre Auswirkungen auf Gesellschaften, Arbeitsorganisation und Unternehmensstrukturen sind evident. Schlagworte dafür sind Individualisierung, Qualifikation, flache Hierarchien, Netzwerke, schlanke Produktion, just in time, modulare Dezentralisation, Koalitionsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Mobilität oder Entmaterialisierung. Dieser Prozess hat durch die RMA auch das Militär ergriffen. Im Mittelpunkt steht nicht mehr und nicht weniger als eine neue Konzeption von Kriegführung, die auf drei Fähigkeiten oder Systemen beruht: Erstellung eines umfassenden Lagebildes (Informationsüberlegenheit), Kommunikation (C4) und weit reichendes präzises Feuer. Es handelt sich dabei nicht bloß um Streitkräftemultiplikatoren, sondern um konditionierende Systeme, die zu einem Gesamtsystem integriert werden. Seine Auswirkungen auf das Militär sind umfassend: Führungs- und Streitkräftestrukturen sowie Einsatz- und Ausbildungskonzepte müssen angepasst werden. Der Kampf mit verbundenen Waffen wird zur Regel. Die Waffen entmaterialisieren sich tendenziell, elektronische Kriegführung gewinnt an Bedeutung. Wie in der Wirtschaft, so wird auch im Militär die Ressource Mensch durch neue Technologien partiell ersetzt. Die verbleibenden Soldaten sind zunehmend hoch qualifizierte Spezialisten. Das Schlachtfeld leert sich, gekämpft wird aus großer Distanz, etwa mit luftgestützten Abstandswaffen, Marschflugkörpern oder Drohnen. Die Logistik wird just in time und nachfrageorientiert ausgerichtet und kann deshalb stark reduziert werden. Das alles klingt wie Zukunftsmusik und ist doch dabei, mittel- und langfristig Realität zu werden.

Privatisierung der Gewalt

Die Privatisierung der Gewalt ist ein zentrales Faktum, mit dem das postmoderne Militär konfrontiert ist. Organisierte Gewalt wird zunehmend von nichtstaatlichen Akteuren ausgeübt. So werden Teile der Sicherheitskräfte mit staatlicher Billigung als bewaffnete Banden eingesetzt. Oder einzelne Einheiten verselbständigen sich im Laufe des Staatszerfalls dauerhaft zu privaten bewaffneten Formationen. Die Privatisierung der Gewalt wird v.a. durch all jene nichtstaatlichen Akteure gefördert, die ihre Ziele mit Mitteln der organisierten Gewalt durchsetzen wollen. Mag die Bezeichnung der Akteure vielfältig und umstritten sein, z.B. irreguläre Kämpfer, Aufständische, Terroristen, Freiheitskämpfer oder Gotteskrieger, sie kämpfen jedenfalls nicht im Namen eines staatlichen Interesses, sondern für "ihre gerechte Sache". Dabei kommt es oftmals zu Verquickungen mit dem internationalen organisierten Verbrechen. Da jede Form von Krieg finanziert werden muss, werden alle zur Verfügung stehenden Erwerbsquellen genutzt: Waffen-, Drogen- und Menschenschmuggel oder andere Formen der Raubwirtschaft. Schließlich seien die international agierenden privaten Sicherheitsfirmen und Söldnertruppen erwähnt, die zunehmend für staatliche und nichtstaatliche Akteure tätig sind. Sie sind ein weiterer Beleg für den vielschichtigen Prozess der Privatisierung der Gewalt, der Staat und Sicherheitskräfte vor große Herausforderungen stellt.

Das neue Sicherheitsdilemma

Welche außenpolitische Funktion hat also die Militärmacht eines demokratischen Staates bei der Gestaltung der postinternationalen Beziehungen? Beispielsweise geht es gemäß der offiziellen deutschen Sprachregelung nach wie vor um Landes- und Bündnisverteidigung, Friedenseinsätze sowie Partnerschaft und Kooperation. Die eigentlichen Kernaufgaben des postmodernen Militärs bestehen aber aus PSOs und asymmetrischer Kriegführung. Beide Einsatzformen sind höchst problematisch, komplex und in ihrem Ausgang - schon wegen der unvermeidlichen Friktionen - ungewiss. Sie sind Begleiterscheinungen der Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert und Ausdruck eines neuen Sicherheitsdilemmas, dessen Auswirkungen wir bislang nur erahnen können.

PSOs sind notwendig zur Stabilisierung krisenhafter Länder oder Regionen. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese zu den Randgebieten gehören, die an das unmittelbar zu schützende Gebiet angrenzen. Normative, ordnungs- und sicherheitspolitische Gründe sprechen eigentlich gegen eine regionalzentristische Sichtweise. Dennoch kamen in den 90er-Jahren 80% der Einheiten für Friedenseinsätze aus den Entwicklungsländern. Deshalb ist die Verbesserung des Standby-Systems der VN ein Hauptanliegen des Brahimi-Reports, der Empfehlungen für eine Verbesserung von Krisenprävention und Friedenseinsätzen der VN enthält. Auch die NATO hat umfassende Lehren für künftige PSOs insbesondere aus den Erfahrungen aus Bosnien gezogen, die denen des Brahimi-Reports ähneln. Als Stichworte seien nur genannt: enge Verbindung zwischen Mandat, Mission und Fähigkeiten; integrierte, zivilmilitärische Hauptquartiere, robuste Fähigkeiten, harmonisierte Ziele und Konzepte der teilnehmenden internationalen Organisationen.

PSOs werden in der postmodernen Gesellschaft aber nur akzeptiert, wenn sie erfolgreich sind. Ein Erfolgskriterium ist die Verbesserung der Lage der Menschen vor Ort. Dafür ist ein nachhaltiges entwicklungspolitisches Engagement der internationalen Staatengemeinschaft notwendig, woran es freilich oftmals mangelt. Ein anderes Erfolgskriterium ist, dass die eigenen Soldaten den Auftrag möglichst unbeschadet überstehen. Das kann dazu führen, dass zivile Opfer in Kauf genommen werden, wodurch wiederum die Legitimität der ganzen Mission in Frage gestellt werden kann. Solche Zweifel werden durch das Problem der Doppelstandards gefördert. Warum wird in einem Fall mit Verweis auf massive Menschenrechtsverletzungen militärisch interveniert, in anderen Fällen jedoch nicht? Schließlich besteht das Problem, dass PSOs in asymmetrische Kriege umschlagen können.

Asymmetrische Kriege oder LICs sind auf globaler Ebene das dominierende Kriegsbild der Zukunft. Den Krieg gegen das Taliban-Regime in Afghanistan konnten die USA schnell gewinnen, den Krieg gegen die terroristischen Netzwerke aber nicht. Während sich der Starke modernster Kriegstechnik bedient, operiert der Schwache mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Es handelt sich um einen transnationalen Gegner ohne klare Konturen und ohne Territorium, der zuschlägt, wann, wo und wie es ihm richtig erscheint. Da er einer "höheren" Sache dient und sein Leben zu opfern bereit ist, kann er nur schwer abgeschreckt werden. Selbst wenn dem nicht so ist, besteht für ihn kein Anlass, seinen komparativen Vorteil - den irregulären Kampf - aufzugeben, solange sein Anliegen nicht als politisch berechtigt anerkannt ist oder er militärisch besiegt wird.

Der Starke scheint also im Kampf mit dem Schwachen immer auf der Verliererstraße zu sein. Bereits die Tatsache, dass er sich auf einen militärischen Konflikt mit einem nichtstaatlichen Akteur einlässt, trägt zur Schwächung des internationalen Staatensystems bei. Respektiert er dabei die eigenen ethischen Grundsätze und die (völker)rechtlichen Normen, so dürfte er Schwierigkeiten haben bei einem Gegner, dem das alles nichts bedeutet, weil er einer anderen "Rationalität" folgt. Passt sich der Starke an die Methoden des Gegners an und lässt sich auf einen "schmutzigen Krieg" ein, so untergräbt er nicht nur die Moral der Streitkräfte, sondern auch die ethischen Grundlagen der eigenen Gesellschaft.

Ob und wie die demokratischen Staaten aus dieser Lage herauskommen, ist nicht abzusehen. Sie ist Teil eines neuen Sicherheitsdilemmas, das sich nach dem Ende des "Westfälischen Zeitalters" abzuzeichnen beginnt. Letztlich geht es um die Beantwortung folgender Frage: Wie kann Sicherheit in hoch komplexen und verwundbaren Gesellschaften angesichts der zunehmenden Privatisierung der Gewalt unter den Bedingungen der Globalisierung und des strukturellen Wandels des internationalen Systems künftig gewährleistet werden?

Das klassische Sicherheitsdilemma ist Ergebnis einer zwischenstaatlichen Interaktion. Es besteht darin, dass ein Staat seine Sicherheit gegenüber einem anderen Staat durch das Ansammeln von Machtmitteln erhöhen will, damit aber das Gegenteil erreicht, weil dies zu entsprechenden Reaktionen führt, die in eine Rüstungsspirale und letztlich in Krieg münden können.

Das neue Sicherheitsdilemma ist Ergebnis einer Interaktion zwischen Staaten- und Gesellschaftswelt. Es ergibt sich zum einen aus der erhöhten Teilbarkeit des Nutzens in einer globalisierten Weltwirtschaft und zum anderen aus der abnehmenden Effizienz des Staatensystems, Abweichungen von den Regeln durch nichtstaatliche Akteure zu verhindern. Für letztgenannte steigt der Anreiz, sich zwecks Nutzenmaximierung vom Staatensystem überhaupt loszusagen und dadurch Unsicherheit zu produzieren. Versuche, Sicherheit durch Intervention wieder herzustellen, können zu Rückschlägen und, vermittelt über die Wechselwirkungen mit komplexen Globalisierungsprozessen, zu neuer Unsicherheit führen.

Diese Wechselwirkungen können beispielsweise hervorgerufen werden durch transnationale Machtnetzwerke, das Aufbrechen neuer grenzüberschreitender Konflikte, die Berichterstattung internationaler Medien oder die Entstehung von Gewaltmärkten. Diesem Dilemma müsste mit einem entsprechend ausgestalteten System von International Governance auf regionaler und globaler Ebene begegnet werden. Die gegenwärtige Lage ist jedoch noch weit davon entfernt. Sie ist u.a. gekennzeichnet durch - eine Vielzahl konkurrierender und sich partiell überlappender Institutionen, - durchlässigere Grenzen und erhöhte Mobilität, - wachsende Entfremdung zwischen hoch entwickelten Zentren und einem fragmentierten, chancenlosen Hinterland, - multiple und fragmentierte Loyalitäten und Identitäten, - zunehmende internationale Rechtsunsicherheit, - sich ausbreitende geografische und soziale Grauzonen, in denen die Herrschaft des Rechts durch private Gewalt verdrängt worden ist.

Vorausschauende Politik ließe es erst gar nicht zu einer solchen Lage kommen. Wohl wissend, dass Prävention fehlschlagen kann, setzt kluge Machtanwendung v.a. auf eine Strategie des friedlichen Wandels bzw. auf die Prävention von gewaltsamen Konflikten durch Kooperation und Entwicklung. Der Präsident der Weltbank, James Wolfensohn, ermahnte die Politiker der Industrieländer zu Recht, mehr Geld für Entwicklungshilfe auszugeben, weil dies eine Versicherungspolizze gegen den Terrorismus sei. Die 1969 von den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen festgelegte Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7% des Bruttosozialprodukts ist nach über drei Jahrzehnten immer noch in weiter Ferne (EU 0,33; Japan 0,27; USA 0,1%). ) Es bedarf keiner besonderen Betonung, dass Armut oder Religion nicht die primären Ursachen für LICs sind. Es ist vielmehr die Unfähigkeit der Staaten, ihren Bürgern ein Minimum an sozialer Sicherheit und politischer Freiheit zu garantieren. Dies kann zu sozialer Fragmentierung, Politisierung ethnischer Zugehörigkeit und übersteigerter Suche nach Gruppenidentität führen, was schließlich in einem pathologischen Prozess von Gewalt und Zerstörung enden kann. ) In dieser Lage bietet nur ein umfassender, alle vorhandenen Instrumente integrierender Ansatz die Chance, zumindest zu einem suboptimalen Ergebnis zu kommen.

Zur Rolle der ESVP

Die EU verfolgt mit ihrer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zumindest tendenziell einen solchen Sicherheitsansatz. Er baut auf zivile und militärische Fähigkeiten zur Krisenbearbeitung, die das diplomatische, handels- und entwicklungspolitische Instrumentarium ergänzen sollen. Doch sind die einzelnen Elemente der ESVP weder weit genug gediehen, noch sind sie zu einer kohärenten Politik zusammengefügt worden. Der 11. September hat sich allenfalls im nichtmilitärischen Bereich partiell als "menace fédératrice" erwiesen. Erwähnt seien beispielsweise die Einigung über den europäischen Haftbefehl, die Bildung einer Task Force für Antiterrorismus im Rahmen von Europol oder die EU-Gesetzgebung zum Trockenlegen illegaler Finanzquellen. In militärischen Fragen kam es hingegen wiederum zu einem "Schönheitswettbewerb" der Großen. Statt den Vorschlag der belgischen Ratspräsidentschaft zu einem gemeinsamen Vorgehen aufzugreifen, nutzten Großbritannien, Frankreich und Deutschland die Gelegenheit zu einer Demonstration ihrer fragwürdigen verteidigungspolitischen Eigenständigkeit und erwiesen der ESVP damit einen Bärendienst.

Die Ereignisse des 11. September zeigen ganz deutlich, dass es zu einem engeren Zusammenspiel der verschiedenen EU-Pfeiler kommen muss. Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen zusehends, so dass ein neuer trade off zwischen projection und protection angestrebt werden sollte. Was die Projektion von Stabilität betrifft, so stellte der außerordentliche Europäische Rat zehn Tage nach dem Terroranschlag in den USA fest, dass "it is by developing the Common Foreign and Security Policy (CDSP) and by making the European Security and Defence Policy (ESDP) operational at the earliest opportunity that the Union will be most effective”. Was die innere Sicherheit betrifft, so hat der Europäische Rat einen Aktionsplan beschlossen, der u.a. eine Verstärkung der Kooperation in den Bereichen Polizei und Justiz, eine Stärkung der internationalen Rechtsinstrumente oder der Sicherheitsmaßnahmen im Luftverkehr vorsieht.

Aber das alles wird wohl kaum ausreichen. So muss die Rolle der ESVP in LICs, insbesondere im Zusammenhang mit der Terrorismusproblematik und der Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure, diskutiert werden. Was folgt daraus für die ESVP? Sollen die Headline-Goals erweitert werden? Welche Anpassungen sind nötig im Hinblick auf Streitkräftestrukturen, Einsatzdoktrin und Ausrüstung? Sind die Mitgliedstaaten bereit, die entsprechenden Investitionen zu leisten? Sind die neuen politischmilitärischen Strukturen der ESVP problemadäquat? Welchen Stellenwert soll die Aufklärung erhalten? Wie kann die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste verbessert werden?

Der Europäische Rat unterstrich in seiner Reaktion auf den 11. September, dass "the integration of all countries into a fair world system of security, prosperity and improved development is the condition for a strong and sustainable community for combating terrorism”. ) Die EU plädiert gegen eine, so Chris Patten, "simplistische Politik", die davon ausgeht, "that the projection of military power is the only basis of true security". ) Sie bevorzugt vielmehr eine komplexere Herangehensweise, die v.a. auf Gewaltprävention sowie friedlichen Wandel setzt. Sie entspricht damit zumindest programmatisch dem Erfordernis, Konfliktprävention als Querschnittsaufgabe zu betrachten. Aber was heißt das konkret? Wie kann effektive Krisenprävention gestärkt werden? Sind die Mitgliedstaaten bereit, die notwendigen Ressourcen für ein solches langfristiges Engagement aufzubringen? Wie können mehr Synergien zwischen den drei EU-Pfeilern und den Staaten generiert werden? Wie kann die Sicherheitskooperation mit regionalen und internationalen Organisationen, aber auch mit nichtstaatlichen Akteuren verbessert werden?

Militärmacht und postmoderne Außenpolitik

In der Deklaration von Laeken haben die Staats- und Regierungschefs der EU erklärt, dass sich Europa "seiner Verantwortung hinsichtlich der Gestaltung der Globalisierung stellen (muss). Die Rolle, die es spielen muss, ist die einer Macht, die jeder Form von Gewalt, Terror und Fanatismus entschlossen den Kampf ansagt, die aber die Augen nicht vor dem schreienden Unrecht in der Welt verschließt". ) Die ESVP trägt als Bestandteil der "zusammengesetzten Außenpolitik" der EU zur Umsetzung dieses Vorhabens bei. Der Aufbau entsprechender ziviler und militärischer Fähigkeiten und ihre Einbindung in eine umfassende Strategie von Konfliktprävention und Krisenmanagement ergibt sich aus der Notwendigkeit, dass internationale Stabilität und Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung nur durch eine aktive Gestaltung des strukturellen Wandels des internationalen Systems gewährleistet werden können. Militärmacht wird also auch in einer postmodernen Außenpolitik unter den Bedingungen des neuen Sicherheitsdilemmas eine Rolle spielen.

Die EU durchläuft seit den 90er-Jahren einen schwierigen Anpassungsprozess, der zunehmend auch sicherheitspolitische Probleme einschließt. Die dramatischen Ereignisse des 11. September drängen zur Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen. Sie reichen von der Beziehung zwischen Werten und Interessenpolitik über die künftige sicherheitspolitische Funktion von ESVP und NATO bis hin zur Frage, welche Art von Sicherheit die Unionsbürger wollen und was das für die Streitkräfte als Instrument postmoderner Außenpolitik bedeutet. Der im Februar begonnene Konvent, der über die Zukunft der EU nachdenken und Reformvorschläge unterbreiten soll, bietet eine gute Gelegenheit, zumindest einen Teil dieser Fragen zu erörtern.

Dr. Hans-Georg Ehrhart

Geb. 1955; Studium der Politikwissenschaften, Soziologie und Philosophie an der Universität Bonn, 1983 M.A., 1986 Dr. phil.; 1987-1989 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Studiengruppe "Sicherheit und Abrüstung" des Forschungsinstitutes der Friedrich-Ebert-Stiftung; 1988 Forschungsaufenthalt an der Stiftung für Nationale Verteidigungsstudien, Paris; seit 1989 Wissenschaftlicher Referent am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg; 1990-1998 Leiter des Forschungsschwerpunktes "Osteuropa"; seit 1992 Mitglied des Redaktionsrates der Reihe "Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik"; 1993 Forschungsaufenthalt in Kanada; seit 1996 Leiter des Internationalen Fellowship-Programms Graf Baudissin.



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