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Die geopolitischen Veränderung und ihre Analyse - Überlegungen am Beispiel Südasiens

von Rahul Peter Das

Kurzfassung

◄ Südasien ist im Begriff, sich zu einer der wichtigsten Regionen im geopolitischen Machtgefüge zu entwickeln, ohne dass die europäischen Staaten - mit der möglichen Ausnahme Großbritanniens und Frankreichs -sich dieses Umstandes bewusst wären. Ganz anders die USA: Ihr verstärktes Engagement in Asien trägt das Potenzial einer graduellen Abkoppelung von Europa in sich, was nachhaltige sicherheitspolitische Konsequenzen für den alten Kontinent bedeuten könnte.

Russland, China, Indien und Japan sind die vier asiatischen Staaten, die Großmachtstatus entweder besitzen oder anstreben; die ersten drei stellen zwei Fünftel der Weltbevölkerung und sind Atommächte mit einem ambivalenten Verhältnis zu den USA und der NATO. China expandiert direkt in den Einflussbereich der USA, was Washington zwingt, asiatische Verbündete zu suchen. Als solche bieten sich wegen der noch immer problematischen Beziehungen der USA zu Russland eigentlich nur Japan und Indien an, wobei Ersteres wegen seiner Bedeutungslosigkeit auf militärischem Gebiet praktisch ausfällt, somit nur Neu-Delhi übrig bleibt. In der Tat sind in den letzten Jahren bemerkenswerte Schritte einer Annäherung zwischen den USA und Indien erfolgt, wenn auch die Liste potenzieller Hindernisse noch lang ist.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist das vitale Interesse des Westens an Zentralasien, insbesondere an den Energievorräten der Region um das Kaspische Meer, wodurch hier die Interessen der drei großen asiatischen Festlandstaaten und der USA, in geringerem Maße auch Europas, zusammentreffen. Im gleichen Maß, in dem die Annäherung Washingtons an Neu-Delhi vonstatten geht, kühlen die US-pakistanischen Beziehungen ab, während die indischisraelische und israelischtürkische Kooperation auf militärischem Gebiet neue Allianzen formieren hilft. Es ist nicht mehr ausgeschlossen, dass sich zu einem solchen antiislamistischen Bündnis auch Russland hingezogen fühlt.

Neben diesen auf der Interaktion Indiens mit den USA beruhenden Machtkonstellationen sind aber auch andere Alternativen denkbar, nicht zuletzt die 1998 vom russischen Außenminister Primakow ins Spiel gebrachte Idee eines strategischen Dreiecks Russland-China-Indien, die in Moskau immer mehr Anhänger findet. Keineswegs unterschätzt werden sollte aber das Desinteresse, das Europa gegenwärtig den Entwicklungen in Asien entgegenbringt; eine öffentliche Debatte ist unverzichtbar, soll eine Marginalisierung Europas verhindert werden. ►


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Die geopolitischen Veränderung und ihre Analyse - Überlegungen am Beispiel Südasiens

Die Tatsache, dass nachfolgende Ausführungen gerade in Österreich vorgetragen wurden und nun in einer österreichischen Publikation erscheinen, könnte sicherlich Anlass zu mancherlei Überlegung bieten. So könnte man beispielsweise darauf hinweisen, dass Österreich jahrhundertelang sowohl ein polykulturelles als auch ein multiethnisches Reich war. In der Tat war im neunzehnten Jahrhundert ein gängiges - und auch von Bismarck selbst vorgetragenes - Argument gegen die großdeutsche Lösung der deutschen Frage unter Einbeziehung Österreichs die Tatsache, dass von der damals mit 70 Mio. angegebenen Einwohnerzahl des Habsburgerreiches die Mehrheit nicht der deutschen Volksgruppe angehört hatte. Letzten Endes ist es ja dann auch zur kleindeutschen Lösung unter Ausschluss Österreichs gekommen; eine Lösung, die sicherlich auch zur Art der deutschen Betrachtungsweise anderer Völker beigetragen hat - im Unterschied zur österreichischen.

Ich will hier indes nicht über die möglichen geschichtlichen Ursachen für heutige Entwicklungen spekulieren. Was ich jedoch hervorheben kann und möchte, ist der öffentliche Eindruck einer deutschen weltpolitischen und strategischen Vision, die sich wenig für das zu interessieren scheint, was sich außerhalb des NATO-Bereichs und Europas abspielt, insbesondere in seinen Auswirkungen auf die ureigensten Interessen in der möglicherweise gar nicht so fernen Zukunft. In gewisser Weise trifft dies wohl auch auf alle anderen westeuropäischen Staaten zu. Sicherlich gibt es dabei Unterschiede, beispielsweise in Bezug auf die alten Kolonialmächte Frankreich und insbesondere Großbritannien. Aber im Großen und Ganzen scheint die öffentliche Diskussion in Europa insgesamt noch weit davon entfernt zu sein, sich mit den sich abzeichnenden neuen Herausforderungen und den dadurch benötigten neuen Sichtweisen ernstlich auseinander setzen zu wollen oder zu können.

Fiktion und Vermutung als Vorspann

Doch worum handelt es sich bei den Herausforderungen, die ich hier anführe? Zur Erläuterung möchte ich mich zweier an die breite Öffentlichkeit gerichteter Publikationen bedienen, die hier kurz vorgestellt werden sollen.

Die erste ist ein kleiner Aufsatz, der am 25.7.2001 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist und dessen Autor Jeffrey Gedmin Direktor der New Atlantic Initiative am American Enterprise Institute in Washington ist. Dieser Aufsatz spricht Gedanken aus, die die europäische Öffentlichkeit eigentlich zutiefst beunruhigen müssten, zumal nur einige Monate zuvor eine Meldung durch die Weltpresse gegangen war, derzufolge die neue Bush-Regierung beschlossen hätte, ihre außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten primär auf Asien und nicht wie bisher auf Europa auszurichten. Erstaunlicherweise führte diese Meldung zu keiner Diskussion zumindest in der deutschen Öffentlichkeit; auch der Aufsatz von Gedmin scheint kaum zur Kenntnis genommen worden zu sein.

Dabei enthält diese kleine Schrift einige Aussagen, die auch den an Sicherheitsfragen nur mäßig interessierten Zeitungsleser hätten aufschrecken müssen. So sagt sie voraus, dass trotz der kulturellen und wirtschaftlichen Bande zwischen Nordamerika und Europa die USA ihre Aufmerksamkeit und Ressourcen vornehmlich anderen Teilen der Welt zuwenden würden. Dazu wird angeführt, dass für die USA Russland inzwischen weder einen Feind noch eine Bedrohung darstelle und dass eine größere kriegerische Auseinandersetzung in Europa nicht mehr vorstellbar sei, in Asien dagegen sehr wohl.

Angeführt wird weiterhin eine Priorisierung der Beziehungen zu China, ob als Partner oder als Rivale, und die Herausbildung eines neuen strategischen Verhältnisses zu Indien wie überhaupt ein stärkeres Engagement sowohl auf dem indischen Subkontinent als auch in ganz Asien. Ferner wird eine generelle Unzufriedenheit mit der oft als unsolidarisch empfundenen Handlungsweise der europäischen Verbündeten ausgedrückt. Im Großen und Ganzen schwingt in diesem Aufsatz die unausgesprochene Drohung mit, die USA könnten sich durchaus vorstellen, eigene Wege einzuschlagen. Besonders der Schlusssatz klingt in diesem Zusammenhang geradezu ominös: "Eines allerdings fällt durchaus nicht schwer: sich nämlich vorzustellen, wie Amerika damit beginnt, über die Verbündeten aus alten Tagen neu nachzudenken." Ich gehe sicherlich nicht fehl in der Annahme, dass vieles, wenn nicht gar das meiste in diesem Aufsatz die herrschende Meinung in der US-Regierung widerspiegelte. Insofern wünschte man sich doch eine breite Diskussion darüber, was eine derartige Neuorientierung konkret für Europa bedeutet oder bedeuten könnte. Dringend nötig scheint mir beispielsweise eine europäische Debatte über das Wesen der USA selbst zu sein. In dieser polykulturellen und multiethnischen Gesellschaft ist es sicherlich nur eine Frage der Zeit, bevor an Schaltstellen der Macht Personen sitzen, die nicht unbedingt die europäischen kulturellen Werte und damit verbundenen Sichtweisen teilen. Welche Auswirkungen würde das auf die Verbindungen mit Europa haben?

Der Aufsatz zwingt auch zu Überlegungen anderer Art, etwa über die Folgen von Handlungen der USA in anderen Weltregionen, die die europäischen Verbündeten zwingen würden, militärisch auch außerhalb des eigentlichen NATO-Gebietes zu Gunsten der USA aktiv zu werden. In der Tat ist dies ja nun geschehen, wenn auch auf gänzlich andere Weise, als man sich zur Zeit der Abfassung dieses Aufsatzes hätte vorstellen können. Doch das ändert nichts daran, dass ein bisher eigentlich nicht für möglich gehaltener Fall eingetreten ist. Nun könnte man der Ansicht sein, dass die jetzt erfolgte und demonstrativ zur Schau getragene Solidarität der europäischen Verbündeten die Bedeutung der Europäer für die USA hervorgehoben und eine Umorientierung, wie sie in dem Aufsatz angedeutet wird, zumindest für absehbare Zeit unwahrscheinlich gemacht hat. Das scheint indes nicht der Fall zu sein. Die Anschläge des 11.9.2001 haben zwar vorerst eine Solidarisierung innerhalb der NATO bewirkt, doch in Bezug auf den tatsächlichen Wert und die tatsächliche Dauer dieser Solidarisierung, insbesondere im nichtangelsächsischen Europa, kann man schon jetzt Zweifel anmelden. Je länger die Ereignisse des 11.9.2001 zurückliegen, je mehr der Ausnahmezustand dem Alltag weicht, umso drängender werden wieder die langfristigen Probleme, die Gedmins Aufsatz anspricht. Mehr noch: Das bisherige Wirken eines Großteils der europäischen NATO-Verbündeten ist in vielem eher geeignet gewesen, Zweifel an ihrer Nützlichkeit für die USA aufkommen zu lassen.

Das zweite Werk, auf das ich hier aufmerksam machen möchte, ist ein im Jahr 2000 erschienenes Buch des BBC-Journalisten Humphrey Hawksley mit dem Titel Dragon Fire. Hawksley hatte zusammen mit Simon Holberton im Jahre 1997 das Werk Dragon Strike veröffentlicht, in dem eine Expansion Chinas ins Südchinesische Meer und ein Seekrieg Chinas gegen die USA und ihre angelsächsischen Verbündeten beschrieben wird, der in einer Pattsituation endet, als China seine Nuklearwaffen zum Einsatz bereit macht. Dragon Fire dagegen geht von einem Szenarium aus, in dem es zu einem Nuklearkrieg zwischen Indien und China kommt, der die indische Hauptstadt zerstört und China als Weltmacht etabliert. Die Handlung, in die die Westmächte und Russland einbezogen werden und wo Pakistan de facto aufhört zu existieren, ist kompliziert, doch wesentlich an ihr ist die Unfähigkeit des Westens, die Geschehnisse und insbesondere das chinesische Vorgehen richtig zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren. Gegen Ende des Werkes wird zudem beiläufig geschildert, wie Deutschland und Frankreich durch die schnellstmögliche Anerkennung des aus diesem Nuklearkrieg gewonnenen Großmachtstatus Chinas den USA und Großbritannien in den Rücken fallen.

Natürlich handelt es sich bei Dragon Fire um ein Werk der Fiktion, das nicht beansprucht, eine Entwicklung zu schildern, wie sie tatsächlich eintreten wird. Im Gegenteil versucht es ganz offenbar, durch das Aufzeigen eines von mehreren möglichen Szenarien eines zukünftigen Konflikts Einfluss auf politische und strategische Entscheidungen auszuüben, wobei es sich auf detaillierte Kenntnisse der Materie stützen kann. In dieser Hinsicht ist es wie das Werk The Third World War von John Hackett, ehemals Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord der NATO, zu betrachten, das 1978 erschienen ist und eine lebhafte Debatte über die NATO-Doktrin auslöste, die ja auch Folgen zeitigte. Doch gerade als Werk der Fiktion könnte Dragon Fire die öffentliche Diskussion womöglich stärker beeinflussen, als Fachabhandlungen und -analysen dies zu tun vermögen. Für mich an dieser Stelle besonders relevant ist allerdings nicht so sehr die durchaus packende Darstellungsweise, sondern die Konsequenz, mit der gegenwärtige Entwicklungen analysiert und in die Zukunft projiziert werden, nicht notwendigerweise im Einklang mit herrschenden Vorstellungen im Westen und seinen Medien. Wichtig scheint mir dabei v.a. die Hervorhebung der globalen Ambitionen Indiens zu sein, was automatisch zu einer Rivalität mit China führen muss. Hierzu schreibt Hawksley am Ende seiner Einleitung: "If China and India‘s security aspirations for Asia converge with each other and with those of the United States and Japan, there is no cause for alarm. That, however, would be an ambitious formula. If either China’s or India’s intentions are being underestimated and the danger signs are swept under the carpet, the impact on world peace could be the most catastrophic since the end of the Second World War." Mit diesen zwei Beispielen habe ich versucht, die beiden Hauptherausforderungen für Europa, wie ich sie sehe, in besonders einprägsamer Manier zu verdeutlichen, nämlich erstens eine graduelle Abkoppelung der USA von Europa, was zwar die Einflussmöglichkeiten Europas, nicht jedoch die von ihm zu verkraftenden Folgen des Handelns der USA minimiert, zweitens Entwicklungen in Asien und insbesondere Südasien, die Europa - womit ich hier und im Folgenden v.a. die europäischen NATO-Staaten meine - anscheinend kaum wahrnimmt, die aber schwer wiegende Implikationen auch für Europa selbst haben könnten.

Auseinandersetzungen auf kultureller Ebene

Zur Zeit befinden wir uns weltweit in einer Umbruchphase, die weit über den Bereich des Politischen, Strategischen oder Wirtschaftlichen hinausgeht. Vor allem in Europa und Nordamerika hatte man sich bislang von einer sicheren und begrifflich klar definierten Ordnungsstruktur umgeben gewähnt, über die auch auf internationaler Ebene Gebilde wie etwa die UNO wachten. Was wir dabei allerdings größtenteils übersehen zu haben scheinen, ist, dass diese Ordnung eine Ordnung ist, die vornehmlich auf den Erfahrungen und Werten der europäisch geprägten Kulturen basiert und nur deshalb universelle Gültigkeit für sich beanspruchen konnte, weil diese Kulturen auch über die Mittel verfügten, ihr diese Gültigkeit zu verschaffen. Diese Mittel scheinen nicht mehr (oder nicht mehr im bisherigen Ausmaß) wirksam zu sein, so dass nicht nur bisher universelle Gültigkeit beanspruchende Wertvorstellungen, sondern auch Ordnungsstrukturen zunehmend angefochten werden.

Ist die Relativierung von als universell betrachteten Wertvorstellungen und dem sich daraus ergebenden Gesetzeswerk schon problematisch genug - als Beispiel seien hier die Menschenrechte angeführt -, so birgt die In-Frage-Stellung der bisherigen als allgemeingültig angesehenen Ordnungsstruktur das Potenzial, die Grundsteine der bisherigen internationalen Ordnung ins Wanken zu bringen, etwa in Bezug auf die Anerkennung oder Definition des Begriffs der Staatlichkeit, der Anerkennung der Hoheitsrechte und der Unverletzlichkeit bestehender Staatsgrenzen, der Bewertung von Krieg und Gewalt als legitimen Methoden zur Durchsetzung eigener Interessen und dergleichen mehr. Es geht hier nicht zuletzt um eine Auseinandersetzung auf kulturellem Gebiet, deren Kontrahenten sich gegenseitig fremder sind als die Hauptkontrahenten zu Zeiten des Kalten Krieges.

Da es zumindest gegenwärtig unrealistisch erscheint, dass eine Lösung allein durch Gewalt - etwa durch eine neue Phase des westlichen Kolonialismus - und die Unterdrückung anderer Sichtweisen zu Stande kommen kann, wird diese Auseinandersetzung um Werte und Ordnungen wohl größtenteils auf kulturellem Gebiet stattfinden müssen. Das schließt selbstverständlich Gewaltanwendung nicht aus, jedoch wird man bei der Analyse dieser Gewalt zwar nicht nur, doch immer öfter auch kulturelle Faktoren berücksichtigen müssen, u.a. auch, um die Gewalt sinnvoll bekämpfen oder aber anwenden zu können. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen v.a. in Afghanistan belegen die Richtigkeit dieser Ansicht, die zwar nicht erst der Formulierung der zum Teil umstrittenen Thesen Samuel Huntingtons bedurfte, durch dessen Schriften aber Prägnanz und öffentliche Wirksamkeit erlangt hat.

Hauptschauplatz Asien

Die Weltregion aber, die immer mehr zum Hauptschauplatz der genannten Auseinandersetzung wird, ist nicht mehr Europa, sondern Eurasien, insbesondere Asien. Einprägsam hat dies unlängst Amalendu Misra formuliert: "Notwithstanding who controls the region (= Zentralasien, Anm. d. Verf.), it must be borne in mind that Eurasian politics have replaced European politics as the central arena of world affairs." So wollen wir unser Augenmerk dieser Region zuwenden. Vorausschicken muss ich, dass meine Ausführungen im Folgenden natürlich auf dem Zusammentragen der Erkenntnisse anderer beruhen; mein eigener Beitrag besteht lediglich darin, diese Erkenntnisse anderer zu kombinieren und aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zu betrachten. Man könnte dies wohl für banal und selbstverständlich halten; dass ich mich dennoch getraue, hier meine Ansichten vorzutragen, beruht darauf, dass dieses Selbstverständliche dennoch nicht hinreichend zur Sprache gebracht worden zu sein scheint.

Wir haben es in Asien mit vier Staaten zu tun, die Großmachtstatus entweder besitzen, danach streben oder diesen in absehbarer Zeit erhalten könnten. Unter diesen vier Staaten ist Japan an der asiatischen Peripherie gelegen und erhält dadurch v.a. in Bezug auf die Machtkonstellation im pazifischen Bereich Gewicht, wohingegen die anderen drei Staaten, nämlich Russland, China und Indien zwar auch als maritime, mehr noch jedoch als auf dem asiatischen Festland agierende Mächte von Bedeutung sind, speziell aus europäischer Sicht. Alle drei, insgesamt etwa zwei Fünftel der Menschheit umfassend, sind Atommächte mit einem ambivalenten Verhältnis sowohl zu den USA als auch zur NATO. Russland und China sowie China und Indien besitzen jeweils eine gemeinsame Grenze, Russland und Indien keine. Doch zählt man die zentralasiatischen Staaten, die aus der ehemaligen UdSSR hervorgegangen sind, den tatsächlichen Machtverhältnissen entsprechend nach wie vor zum russischen Einflussbereich, so konvergieren die Interessensphären aller drei Staaten in der zentralasiatischen Region.

Der Versuch des Zarenreiches, einen Zugang zum Indischen Ozean zu finden, und die Bemühungen des britischen Kolonialreiches, ihm diesen Zugang zu verwehren, sind als The Great Game wohl allgemein geläufig. Diesen Drang nach Süden hatte auch die UdSSR, zumal man den gescheiterten sowjetischen Vorstoß nach Afghanistan auch unter diesem Aspekt sehen muss. Doch anders als zur Zeit des britischen Reiches muss Russland sich heute mit zwei südasiatischen Staaten arrangieren, von denen einer, Indien, ihm freundschaftlich verbunden ist und wohl prinzipiell einem kooperativen Zugang Russlands zum Indischen Ozean zustimmen würde, der andere, Pakistan, dagegen von dieser Aussicht wenig begeistert sein dürfte. China seinerseits hat Kriege sowohl mit der UdSSR als auch mit Indien geführt und muss sich seiner Lage zwischen Russland und Indien stets bewusst sein, was wiederum jedem dieser Staaten insofern zugute kommt, als etwaige Expansionsversuche Chinas nach Russland oder Indien zumindest theoretisch durch die Androhung von Gegenmaßnahmen an der jeweils anderen Front neutralisiert werden könnten. Auch wenn 1962 die UdSSR nicht bereit war, Indien im Krieg mit China auf diese Weise beizustehen, bleibt die Möglichkeit nach wie vor ein Faktor, der im asiatischen Machtgefüge berücksichtigt werden muss.

Eine russische Expansion nach Südasien im Einvernehmen mit Indien oder aber eine indische Expansion nach Zentralasien käme aber einer fast vollständigen Umzingelung Chinas im Norden, Westen und Süden gleich. So nimmt es nicht wunder, dass China nicht nur wegen seiner Rivalität mit Indien überhaupt, sondern auch zur Vorbeugung ebendieser Umzingelung Pakistan als aktiven Gegner Indiens braucht und seinerseits versucht, Indien nicht nur durch die Unterstützung Pakistans, sondern auch durch eine Expansion in Myanmar vollständig zu umzingeln und seinerseits den Zugang zum Indischen Ozean zu sichern. Die unlängst beschlossene Errichtung einer Freihandelszone zwischen China und den Staaten der Association of South-East Asian Nations (ASEAN), die an der indischen Ostgrenze enden würde, hat daher nicht nur eine wirtschaftliche Komponente; dies gilt auch für die mögliche Ausdehnung dieser Zone auf Japan und Südkorea, Verbündete der USA. Auf jeden Fall kann dieser Vorgang auch als wichtige Maßnahme zum Ausbau der Machtzone Chinas bis direkt an die Grenzen Südasiens aufgefasst werden, und das Angebot der ASEAN-Staaten, Indien Beobachterstatus gewähren zu wollen, soll sicherlich auch diesem Eindruck entgegenwirken. Man kann in diesem Zusammenhang vielleicht auch an die Rolle der von Preußen beherrschten norddeutschen Zollunion bei der Schwächung Österreichs erinnern.

Sicherlich wird es Indien schwer fallen, dieser Expansion Chinas etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen, denn die South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC), die bezeichnenderweise auf die Initiative des am östlichen Rand Südasiens gelegenen Bangladesch zurückgeht und nicht auf jene Indiens, kämpft nicht nur mit dem Problem der Übermacht Indiens im Vergleich zu den anderen südasiatischen Staaten, sondern auch damit, dass das mit China alliierte Pakistan ein wichtiges Mitglied ist. Damit müsste Indien eigentlich ein zwingendes Interesse daran haben, Pakistan fest in Südasien einzubinden und aus der Abhängigkeit von China zu lösen. Sollte diese Analyse stimmig sein, so müssten wir auch damit rechnen, dass beim Versuch einer solchen Einbindung Gewaltanwendung eine mögliche Option wäre, sollten China und Indien einen Konfrontationskurs steuern.

Indien als neuer Akteur

Dass diese Entwicklungen in Europa nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erlangt haben, liegt u.a. wohl auch daran, dass Indien lange auf Südasien allein fixiert war und daher keine strategische Vision entwickeln konnte, die sein näheres und weiter entferntes Umfeld adäquat berücksichtigte. Doch in den letzten Jahren hat sich eine von der westlichen Öffentlichkeit weit gehend nicht wahrgenommene, nichtsdestotrotz äußerst wichtige radikale Umorientierung des indischen strategischen Denkens vollzogen, nicht zuletzt durch das Wirken seines Außenministers Jaswant Singh. In dieser Vision, die unlängst von Citha D. Maaß einer eingehenden Untersuchung unterzogen wurde, werden nicht nur der Indische Ozean, sondern auch Südost-, West- und v.a. Zentralasien als natürliche strategische Einflusszone Indiens betrachtet, was auch ein Agieren in diesen Gebieten mit einschließt. Basierend auf dieser neuen Doktrin hat Indien eine bemerkenswerte Offensive auf den Gebieten der Diplomatie und militärischen Zusammenarbeit gestartet, die so unterschiedliche Staaten wie den Iran, die ASEAN-Staaten, Saudi-Arabien und andere Länder des arabischen Nahen Ostens und Zentralasiens betrifft. Es ist offensichtlich, dass Indien dadurch sowohl in die russische als auch - in erheblich größerem Maße - in die chinesische Einflusszone drängt, aber auch in Gebiete, die die europäischen Mächte traditionell zu ihrem Einflussbereich zählen. Im Einklang mit dieser Neuorientierung steht eine militärische Aufrüstung, die dazu geführt hat, dass im letzten Jahr Indien nach den Vereinigten Arabischen Emiraten weltweit die meisten Waffenkäufe tätigte, wobei noch berücksichtigt werden muss, dass das Land zusätzlich nicht nur über eine eigene Waffenproduktion verfügt, die u.a. immer mehr Langstreckenraketen entwickelt, sondern zudem über ein auch im Westen anerkanntes Weltraumprogramm, das militärischen Zwecken dienen kann.

Diese Entwicklungen sind von den meisten europäischen Staaten, die nach wie vor fasziniert auf China schauen, anscheinend kaum ernsthaft berücksichtigt worden - Großbritannien und möglicherweise Frankreich dürften Ausnahmen sein. Anders verhält es sich im Falle der USA, die schon seit längerer Zeit eine Asienpolitik verfolgen, die den tatsächlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen versucht, wenn auch das Verfolgen vorrangig kurzfristiger Ziele und kulturelle Fehlanalysen diese Versuche oft konterkarieren. Dabei sind v.a. zwei Faktoren zu berücksichtigen: Der eine ist die wachsende Bedeutung Chinas, die aus der Sicht der USA dringend ein Gegengewicht benötigt, nicht nur aus globaler Perspektive, sondern auch, weil China direkt in den Einflussbereich der USA hinein expandiert. In Europa vergisst man oft, dass die USA als maritime Macht ihre strategischen Außenposten und erste Verteidigungslinie nicht nur auf der ihr gegenüberliegenden Seite des Atlantiks sehen, sondern gleichermaßen auch auf der anderen Seite des Pazifiks.

Dort befinden sich aber, anders als im Falle des Atlantiks, mehrheitlich keine Verbündeten, sondern v.a. die Großmächte Russland und China, wobei Letzteres inzwischen als der potenziell gefährlichere Gegner gelten dürfte. Eine Eindämmung Chinas ist daher im unmittelbaren Sicherheitsinteresse der USA; dazu bedarf es jedoch Verbündeter. Auch wenn Russland nicht mehr als Feind eingestuft werden sollte, ist die Beziehung zwischen den USA und Russland doch noch recht problematisch. Als effektive Gegengewichte zu China können daher eigentlich nur zwei asiatische Mächte in Frage kommen: Japan und Indien. Genau dies geht ja auch aus dem vorhin von mir angeführten Aufsatz von Jeffrey Gedmin hervor. Japan aber ist zwar eine gewaltige Wirtschaftsmacht, auf militärischem Gebiet jedoch noch relativ unbedeutend, so dass zur Zeit eigentlich nur Indien übrig bleibt. Dies ist natürlich eine theoretische Überlegung, doch sie scheint mir schlüssig zu sein, und in der Tat haben wir in den letzten paar Jahren eine Annäherung zwischen den USA und Indien gesehen, die man, gemessen am bisherigen Verhältnis der beiden Staaten zueinander, bemerkenswert nennen kann, v.a. wenn man bedenkt, dass noch 1971, als Indien im Bangladesch-Krieg auf der Seite der Ostbengalen gegen Pakistan intervenierte, sowohl die USA als auch China sich vehement gegen diese Intervention ausgesprochen haben und es höchstwahrscheinlich v.a. der Beistandspakt Indiens mit der UdSSR war, der eine Intervention der USA zu Gunsten Pakistans verhinderte.

Der zweite zu berücksichtigende Faktor ist das vitale Interesse des Westens an Zentralasien. Dabei sind verschiedene, auch strategisch relevante Faktoren zu berücksichtigen; ich gehe auf diese nicht ein, da Erich Reiter sie unlängst in "Studien und Berichte zur Sicherheitspolitik" aufgeführt und analysiert hat. Einer der wichtigsten dürfte jedoch der Zugang zu den reichen Energievorräten Zentralasiens und der Region um das Kaspische Meer herum sein. Ich habe an anderer Stelle dargelegt, dass es aus westlicher Sicht günstig erscheint, diese Vorräte über ein befriedetes Afghanistan und südasiatische Häfen auf dem Meerwege zu transportieren, zumindest so lange es nicht zu einer Verständigung zwischen dem Iran und den USA kommt. Natürlich besteht auch die Alternative einer Ölleitung über den Kaukasus in die Türkei, die bereits in Angriff genommen worden ist. Doch wie im Falle von Afghanistan ist diese Route erst dann wirklich sinnvoll, wenn sie nicht durch einen Kaukasus führen muss, der sich in ständiger Unruhe befindet.

Indien und die USA als strategische Partner

Wir sehen also, dass in Zentralasien die Interessen nicht nur der drei großen asiatischen Festlandstaaten zusammentreffen, sondern auch die der USA. Sicherlich sind Letztere zumindest teilweise auch die Europas, doch bisher hat das europäische strategische und Sicherheitsdenken sich anscheinend wenig mit dieser Weltregion und seiner eigenen Beziehung dazu befasst; als aktiv Handelnde sind die europäischen Staaten zur Zeit eine eher unbedeutende Größe, auch wenn dies erstaunlich erscheinen mag, da sich Zentralasien bereits im Bereich auch der europäischen Interessensphäre befindet. Wie dem auch sei: Im hier behandelten Kräftespiel sind Russland, China, Indien und die USA zur Zeit die Hauptakteure, natürlich neben mehreren anderen Akteuren, die jedoch Nebenrollen einnehmen.

Wenn wir alle bisher angesprochenen Faktoren berücksichtigen, so scheint sich ein engeres Zusammengehen zwischen den USA und Indien zum beiderseitigen Vorteil zwingend zu ergeben. Dazu passt auch ein weiterer Umstand, der bisher nicht berücksichtigt worden ist. In seinem fiktiven Werk zum Dritten Weltkrieg hatte John Hackett auf die Bedeutung der Ölvorkommen im Nahen Osten und die Sicherung bzw. Störung der Transportwege für dieses Öl um die Spitze Südafrikas herum als wichtige Motive in dem von ihm entworfenen Konfliktszenarium hingewiesen. Auch wenn inzwischen andere Akteure an Bedeutung gewonnen haben, ändert sich am Gewicht dieses Faktors nicht viel. Ein seinen Einflussbereich im Indischen Ozean ausdehnendes Indien wäre aber auch aus dieser Sicht ein fast natürlicher Partner der USA, insbesondere angesichts der Tatsache, dass Indien nicht nur gute Beziehungen zu fast allen asiatischen und afrikanischen Anrainerstaaten dieses Ozeans unterhält, sondern darüber hinaus auch militärisch mit einigen kooperiert, darunter auch mit Südafrika. Ein verbündetes Indien wäre daher aus Sicht der USA die ideale Ordnungsmacht, um westliche Interessen im Indischen Ozean zu sichern, was natürlich auch zu einer Neubewertung der Wichtigkeit anderer Anrainerstaaten des Indischen Ozeans führen würde.

Natürlich gilt es bei diesen Überlegungen auch Faktoren zu berücksichtigen, die einer engeren Zusammenarbeit Indiens mit den USA im Wege stehen. Einer betrifft die Frage des Verlaufs von Ölleitungen aus Zentralasien und den sich daraus ergebenden Handlungsnotwendigkeiten. Indien hätte keinen Vorteil aus einem Verlauf über die Türkei, muss daher nicht nur aus Gründen der eigenen Sicherheit, sondern auch aus wirtschaftlichen Erwägungen an einer Befriedung Afghanistans und der Installation einer sowohl dem Westen als auch Indien freundlich gesonnenen Regierung interessiert sein. Als Alternative wird jedoch auch der Bau einer Ölleitung vom Iran nach Indien erwogen, die nicht nur die iranischen, sondern auch die zentralasiatischen Ölvorkommen für den indischen Gebrauch erschließen könnte. Hierbei stellt Pakistan allerdings ein Problem dar, da die iranische Seite den östlichen Nachbarn nicht brüskieren und eine Überlandleitung realisieren möchte, die indische dagegen für eine Verlegung der Leitung auf dem Meeresgrund ist. Doch diese Details dürfen nicht davon ablenken, dass allein schon die Erwägung des Baus einer solchen Leitung das Einnehmen einer Position darstellt, die den gegenwärtigen Interessen der USA entgegensteht.

Ein weiterer Faktor ist das Verhältnis der USA zu Pakistan. Pakistan ist ein Verbündeter der USA aus den Zeiten des Kalten Krieges sowie ein wichtiges Mitglied der islamischen Staatengemeinschaft, entwickelt sich aber zunehmend in eine Richtung, die den Sicherheitsinteressen der USA zuwiderläuft. Doch allein schon die Rücksichtnahme auf die ölreichen Staaten der arabischen Welt sowie die eigene Interessenlage in Zentralasien, zu dem der Zugang vom Süden her zwangsläufig über Pakistan führen muss, zwingt die USA, insbesondere in der gegenwärtigen Lage, einander widerstreitende Interessen zu vereinen und eine Haltung einzunehmen, die ihnen möglichst viele Optionen offen lässt. Die Gefahr dabei ist allerdings, dass der Blick auf kurzfristige Erfolge die Sicht auf die Möglichkeit des Misserfolgs auf lange Sicht verstellen kann. Der Verlauf des Engagements in Afghanistan während und nach der sowjetischen Invasion, insbesondere die verdeckte Unterstützung der Taliban, ist ein gutes Beispiel dafür.

Auch die Duldung von Destabilisierungstendenzen in Zentral- und Südasien und der Aufbau von den USA prinzipiell feindlich gesinnten Netzwerken, beide unter direkter oder indirekter Mitwirkung Pakistans und Saudi-Arabiens, kehrt sich nun gegen die USA. In ihrem Bemühen, auf aktuelle Herausforderungen in einer Weise zu reagieren, die nicht nur die eigenen Interessen wahrt, sondern auch den öffentlichen Erwartungen schneller Ergebnisse entspricht, haben sie sich überdies bisher zu keiner längerfristigen Strategie durchringen können. Dies betrifft nicht nur die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in Afghanistan, sondern auch für die gesamte Region äußerst wichtige Belange wie etwa die Kaschmir-Frage, die zudem eng mit Entwicklungen in Afghanistan verbunden ist. Was wäre zum Beispiel, wenn Indien sich tatsächlich europäischen und nordamerikanischen Forderungen beugen und sich als Folge eines Referendums aus Kaschmir zurückziehen sollte? Ich bin sicher, dass in den Kanzleien des Westens Ratlosigkeit, möglicherweise sogar Entsetzen einziehen würde. Auf jeden Fall handelt es sich hierbei um Probleme, die das Potenzial besitzen, die Beziehungen zwischen den USA und Indien nach wie vor massiv zu belasten ohne die Gewähr, dass diese Belastung auch zu einer spiegelbildlichen Besserung der Beziehungen zu Pakistan führen muss.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass durchaus Probleme, teilweise sogar erhebliche, auf dem Wege zu einem möglichen engeren Zusammengehen Indiens mit den USA bestehen. Andererseits gibt es wiederum bisher nicht angeführte Faktoren, die eine Kooperation zwischen den beiden Staaten begünstigen. Einer davon ist Indiens Verhältnis zu Israel. Die Zusammenarbeit beider ist inzwischen sehr eng, v.a. auf militärischem Gebiet einschließlich des Bereiches der Kernwaffen. Ob die USA es wahrhaben wollen oder nicht, in Pakistan und Afghanistan, aber auch in anderen Gebieten der Region werden Israel, die USA und Indien inzwischen weit gehend als eine Einheit betrachtet, so dass es nicht wundernimmt, dass in einer in Südasien viel zitierten Rede Osama Bin Laden vor einiger Zeit die USA und Indien gemeinsam als "die Hauptfeinde des Islams" bezeichnete. In Pakistan kann man in dieser Hinsicht eine regelrechte Phobie beobachten, die durch das bisherige Gebaren Indiens im Zusammenhang mit den jüngsten Aktionen der USA in Afghanistan reichlich Nahrung gefunden hat. Erst am 5.11.2001 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine Reportage Erhard Haubolds, in der der ehemalige Chef der pakistanischen Streitkräfte, Mirza Aslam Beg, mit der Bemerkung zitiert wurde, dass Pakistan bereits vor zehn Jahren Indien gedroht habe, das Land zu bestrafen, wenn pakistanische atomare Waffenbestände angegriffen oder entführt werden sollten, und zwar gleichgültig, ob der Täter die USA oder Israel sei. Im gleichen Interview machte er auch ausdrücklich darauf aufmerksam, dass pakistanische Nuklearraketen inzwischen auch Israel treffen können.

Vor diesem Hintergrund ist auch die enge Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet zwischen Israel und dem NATO-Staat Türkei von Bedeutung. Interessant ist dabei, dass nicht nur die Türkei über den Pantürkismus, sondern auch Israel bestrebt ist, eine Einflusszone in Zentralasien aufzubauen. Es ist bekannt, dass die Türkei nicht nur ein problematisches Verhältnis zu den arabischen Staaten in seiner Nachbarschaft hat, sondern im bisherigen innerafghanischen Konflikt zusammen mit Russland, Iran, Indien und den zentralasiatischen Staaten auf der Seite jener Kräfte steht, die gegen die Taliban kämpfen, die wiederum bisher v.a. von Pakistan, Saudi-Arabien und einigen arabischen Golfstaaten Unterstützung fanden. Dass nun die Türkei die Führung der internationalen Schutztruppe in Afghanistan übernehmen soll, ist nicht nur konsequent, sondern verdeutlicht auch, wo die Türkei ihre Interessen am besten gewahrt sieht, denn NATO-Solidarität und die Feststellung des Bündnisfalles allein hätten sie nicht zur Entsendung von Kampftruppen verpflichtet. Ich meine, wir können durchaus annehmen, dass die Türkei mit ihrer Aktion auch längerfristige Ziele verfolgt, die sich letztendlich zumindest teilweise mit den Interessen Indiens decken dürften. Das sollte auch den europäischen NATO-Staaten nahe legen, ihre Interessen in Asien ernsthaft zu überdenken.

Es wäre allerdings einfältig, die möglichen sich ergebenden Machtkonstellationen im Verhältnis der asiatischen Mächte und den USA zueinander nur unter dem Gesichtspunkt der Interaktion Indiens und der USA zu sehen. Ich habe dieses Beispiel hier nur deshalb hervorgehoben, weil ich mich beruflich mit Südasien befasse, möchte damit aber generell auf mögliche Entwicklungen aufmerksam machen, die meines Erachtens unbedingt Teil einer umfassenden Strategieanalyse in Europa sein sollten, bisher aber kaum berücksichtigt worden sind, zumindest nicht in den der Öffentlichkeit generell zugänglichen Quellen. Daneben bleiben mehrere andere Konstellationen möglich, die sich allerdings nicht gegenseitig ausschließen müssen. Auf einige von diesen hat bereits Erich Reiter in seiner vorhin zitierten Studie aufmerksam gemacht, so dass ich an dieser Stelle nicht näher auf sie einzugehen brauche. Nur auf eine mögliche Allianz möchte ich wegen ihrer Bedeutung besonders aufmerksam machen: Es handelt sich um die im Dezember 1998 vom damaligen russischen Premier Primakow vorgetragene Idee eines strategischen Dreiecks Russland-China-Indien - eine Idee, die in Russland anscheinend immer mehr Anhänger findet.

Zur Zeit befinden wir uns allerdings in einer Krisensituation, die zu Rücksichtnahmen und Allianzen geführt hat und wohl auch weiterhin führen wird, die möglicherweise längerfristige Kooperationen einleiten, doch ebenso gut von kurzer Dauer sein können. Die Zukunft wird zeigen, ob sich aus den gegenwärtigen Geschehnissen neue Möglichkeiten ergeben, oder ob es sich nur um ein zeitweiliges Zwischenspiel handelt, das die großen Entwicklungslinien nicht nennenswert beeinflusst. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass eher die letztere Alternative realisiert wird. Am 5.11.2001 veröffentlichte die Washingtoner Zeitschrift The Weekly Standard eine Analyse von Reuel Marc Gerecht, Direktor der Middle East Initiative am Project for the New American Century und Mitarbeiter am American Enterprise Institute, die offen für eine Abwendung der USA von Pakistan eintrat. Noch wichtiger ist, dass einerseits die USA und Indien Anfang November eine bisher kaum denkbare enge militärische Kooperation vereinbarten, andererseits die USA, nach mehreren Monaten dem Beispiel Großbritanniens folgend, jetzt einige von pakistanischem Gebiet aus im indischen Kaschmir operierende islamistische Gruppen als terroristisch eingestuft und damit einem langjährigen Wunsch Indiens entsprochen haben. Somit ist Pakistan aber gefährlich nahe daran, offiziell als Förderer terroristischer Vereinigungen gekennzeichnet zu werden, woraus wiederum die Berechtigung herleitbar wäre, militärisch dagegen vorzugehen. Wie ernst Pakistan die Lage einschätzt, geht eindeutig aus den inzwischen ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung islamischer extremistischer Gruppen hervor.

Wie dieses Beispiel verdeutlicht, wird bei allen möglichen Permutationen und Kombinationen der in Asien agierenden Hauptmächte sicherlich ein Faktor im Vordergrund stehen: Es handelt sich um das Verhältnis zu Kräften, die sich auf den Islam berufen. Es liegt auf der Hand, dass eine sachdienliche Analyse dessen, was mit "Islam" gemeint ist, in diesem Zusammenhang von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Manche Beobachter sind inzwischen sogar der Ansicht, dass gerade der Abwehrversuch gegenüber dem so genannten "islamischen Fundamentalismus" Russland, die westlichen Staaten, Indien, China und Israel zu einer einheitlichen Front zusammenschweißen könnte.

Faktor "Islam"

Wie v.a. die Religionssoziologie festgestellt hat, ist - nicht anders als bei anderen Religionen - auch "Islam" im Wesentlichen das, was Individuen und Gruppen darunter verstehen oder durch verschiedene Mittel, wozu auch Repressalien und Gewalt zählen können, zu verstehen gebracht werden. Es gibt unzählige Beispiele, die dies belegen, doch ich will hier nur ein besonders prägnantes anführen, weil es im gegebenen Zusammenhang von besonderem Interesse ist. Unlängst bezeichnete das pakistanische Staatsoberhaupt Pervez Musharraf in einer wichtigen Rede vor islamischen Würdenträgern die Werte, nach denen sich die Bevölkerung richte, als "clan affiliation, caste and money", im Gegensatz zu "moral principles". Dass das Staatsoberhaupt öffentlich das Kastenwesen als einen Bestandteil des islamischen Staates Pakistan bezeichnete, ist erstaunlich; noch erstaunlicher ist allerdings, dass es dies als allgemein bekannte Tatsache darstellte, ohne irgend jemandem in diesem Zusammenhang die Bezeichnung "Muslim" abzusprechen.

In anderen Worten: Es gibt, trotz der zahlreichen Versuche, einen solchen zu kreieren, aus empirischer Sicht keinen Islam als solchen, sondern verschiedene Formen der Religiosität, die sich Islam nennen und sich gegenseitig durchaus die Anerkennung verweigern können. Daraus folgt, dass es keine global anwendbare Strategie der Interaktion oder Auseinandersetzung mit dem geben kann, was "Islam" genannt wird. Dies ist eine wichtige Feststellung, weil wir bei dem Stichwort "Islam" unser Augenmerk in den meisten Fällen allein auf die an Europa angrenzende Region von Marokko bis Afghanistan richten, wo indes nur etwa ein Viertel aller Muslime beheimatet ist.

Wichtig ist aber auch eine andere Erkenntnis der Religionssoziologie, dass nämlich "Religion" im Zusammenhang mit gruppendynamischen Vorgängen vornehmlich der Herstellung einer Gruppenidentität und der Abgrenzung zu anderen Gruppen oder Individuen dient. Dazu passt, dass die Merkmale dessen, was als "Religion" in dieser Funktion bezeichnet wird, v.a. die Annahme öffentlich sichtbarer Eigenschaften oder Verhaltensweisen betrifft, die die Gruppenidentität zementieren und die eigene "Wir"-Gruppe von anderen abheben. Selbstverständlich kann zur Gruppenidentität auch die öffentliche Anerkennung gewisser Glaubenssätze gehören, was allerdings Symbolcharakter haben kann und nichts über die tatsächlich gehegten individuellen Glaubensvorstellungen aussagt. Es ist offenbar, dass eine erfolgreiche Interaktion oder Auseinandersetzung auf strategischpolitischer Ebene mit einer derartigen Gruppenidentität stiftenden Entität primär an eben dieser identitätsstiftenden Funktion ansetzen muss und nicht, auch wenn es sich bei dieser Entität um Religion handelt, etwa an Glaubensinhalten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Religion nur einer unter mehreren konkurrierenden identitätsstiftenden Faktoren ist; andere derartige Faktoren sind beispielsweise Sprache, Ethnizität, Herkunft, Kultur usw. Welche Faktoren im Einzelfall dominieren, hängt von den jeweiligen Umständen ab; beispielsweise scheint im Iran gerade eine Neugewichtung identitätsstiftender Faktoren stattzufinden. Eine sachdienliche Analyse wird sich auch hierbei eher der Untersuchung der jeweiligen Umstände widmen müssen als der Suche nach globalen Ansätzen.

Epilog

Dass diese Überlegungen auch für die als "Islam" bezeichnete Entität gelten, liegt auf der Hand, wie auch ihre Relevanz nicht nur für die aktuellen Vorgänge in Afghanistan und deren Auswirkungen weltweit, sondern auch für Überlegungen im Zusammenhang der besprochenen, für möglich gehaltenen machtpolitischen Konstellationen überhaupt. Sie gelten aber auch, mutatis mutandis, für andere identitätsstiftende Entitäten der Region, auf die ich hier nicht eingehen konnte. Gleichzeitig belegen sie, wie wichtig die Kulturanalyse auch für geopolitische und strategische Studien ist, ganz im Sinne meiner Ausführungen im neuesten Band des "Jahrbuches für internationale Sicherheitspolitik".

Dies trifft besonders bei Interventionen in Gebieten zu, die anderen als dem eigenen Kulturkreis angehören. In dieser Hinsicht scheinen die USA im Großen und Ganzen keine glückliche Hand gehabt zu haben, was viele ihrer Fehlschläge erklären könnte; als Beispiele aus jüngster Zeit könnte man aufzählen: Vietnam, den Iran, den Libanon, Somalia und letzten Endes wohl auch den Irak. Man hat dies oft einer kulturellen Überheblichkeit zugeschrieben, die die eigenen Wertvorstellungen ungeprüft auf andere Kulturen überträgt und sich nicht um das Verständnis von deren Wertvorstellungen bemüht, was unweigerlich zu schwer wiegenden Fehleinschätzungen führen muss. Genauso gut könnte es sich aber auch um eine bewusste Hintanstellung kultureller Faktoren nach einer Gesamtsichtung aller relevanten Faktoren handeln.

Doch wie dem auch sei, nicht nur die jetzige Krisensituation hat verdeutlicht, dass gerade in diesem Bereich die Ansichten dies- und jenseits des Atlantiks divergieren können, oft sogar erheblich. Selbstverständlich kann dies zu bedeutenden Unterschieden in der Einschätzung von und im Reagieren auf Ereignisse haben. Es läge daher auch aus diesem Blickwinkel im Eigeninteresse Europas, dass sich an dem weit gehenden Ausbleiben einer öffentlichen Diskussion zu den Entwicklungen in Asien unabhängig von der jetzigen Krise etwas änderte.

Prof. Dr. Rahul Peter Das

Geb. 1954; Schulbesuch in Indien; nahm dort Medizinstudium auf, brach dies aber ab, um nach Deutschland zurückzukehren; nach Abitur Studium der Indologie mit Islamwissenschaft und Tamilistik; Magisterprüfung, Promotion und Habilitation an der Universität Hamburg; nach Tätigkeiten an den Universitäten Hamburg, Bonn und Groningen 1994 Berufung an die Universität Halle-Wittenberg für das Fach Neuindische Philologie, wo er das neue Studienfach Sprachen und Kulturen des neuzeitlichen Südasiens einführte.



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