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"Live Agent Training"

Seit 1998 werden österreichische Soldaten im Umgang mit echten chemischen Kampfstoffen ausgebildet. Das so genannte "Live Agent Training" wird im Ausland, vorwiegend an einer Übungsanlage in der Nähe von Vy¹kov (Tschechien) durchgeführt. Bisher wurden 53 Ausbildungsdurchgänge mit insgesamt 4 133 Teilnehmern absolviert.

Das "Live Agent Training" ist für die ABC-Abwehrsoldaten die Ausbildung "im scharfen Schuss". Der Soldat gewinnt im Zuge des Trainings Vertrauen in seine Ausrüstung und kann das Erlernte in einem lebensbedrohlichen Umfeld umsetzen. Weiters können die Kommandanten der Ebenen Trupp bis Zug mit ihren Organisationselementen unter realen Bedingungen üben. Das Training dient jedoch auch dazu, Geräte, Ausrüstung und Verfahren auf ihre Einsatztauglichkeit zu überprüfen. Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Training fließen unmittelbar in die Ausbildung, Vorschriftenerstellung und Weiterentwicklung ein.

Kampfstoffe stellen aufgrund ihrer Giftigkeit die größte Gefährdung durch chemische Gefahrstoffe dar. Sie sind bis zu 100-mal giftiger als chemische Gefahrstoffe zivilen Ursprunges. Es muss daher während dieser Ausbildung besonders auf die Sicherheit im Umgang mit diesen Stoffen geachtet werden.

Verwendete Kampfstoffe

Die Ausbildung findet unter Verwendung von Haut- und Nervenkampfstoffen statt. An Nervenkampfstoffen werden hauptsächlich Sarin sowie VX und an Hautkampfstoffen S-LOST (Senfgas, Yperit) sowie Lewisit verwendet.

Sarin

Sarin ist ein sehr flüchtiger, geruchloser Nervenkampfstoff, bei dem in der Gasphase relativ rasch tödliche Konzentrationen entstehen. Es kann als Flüssigkeit reizlos schnell in tödlicher Menge über die Haut eindringen. Erste Symptome bei einer Vergiftung sind Sehstörungen, Miosis (Pupillenverengung) sowie erhöhte Sekretbildung (Speichel, Schweiß etc.). Bei mittleren und schweren Vergiftungen kommt es in weiterer Folge zu Übelkeit, Erbrechen, unkontrollierbaren Stuhl- und Harnabgang, Krämpfen, Bewusstlosigkeit und Atemstillstand. Ein Überleben ist bei sofortigen medizinischen Gegenmaßnahmen (Verabreichung von Antidota - "Gegengiften") möglich.

VX

VX ist ebenfalls ein Nervenkampfstoff, wirkt jedoch auf der Haut ca. 100-mal giftiger als Sarin. Im Gegensatz zu Sarin ist VX sehr sesshaft. Die Symptome bei einer Vergiftung sind dieselben wie bei Sarin. VX stellt bei der Ausbildung mit chemischen Kampfstoffen das größte Risiko dar, da bereits ein Tropfen auf die ungeschützte Haut tödliche Folgen für den Betroffenen hätte.

S-LOST und Lewisit

S-LOST und Lewisit sind so genannte Hautkampfstoffe, die jedoch als Dampf auch über die Atemwege aufgenommen werden können. Vor allem S-LOST dringt reizlos in den Körper ein. Erste Symptome nach einer Vergiftung treten erst verzögert nach Stunden, beginnend mit Blasenbildung, auf. S-LOST führt zu schweren Schädigungen der Haut. Gelangt S-LOST in die Augen, kann dies zur Verletzung der Netzhaut bis hin zur Erblindung führen. In größeren inkorporierten Mengen kann es zur systemischen Wirkung und somit zur Schädigung der inneren Organe kommen. Außerdem ist S-LOST krebserregend. Zur Behandlung von S-LOST-Verletzungen gibt es bis dato keine wirksamen Antidota.

Ablauf der Ausbildung

Das "Live Agent Training" dauert grundsätzlich eine Woche. Dem Training geht eine dreitägige Vorbereitung voraus. Eine abgeschlossene ABC-Abwehrausbildung wird für die Teilnahme am Training vorausgesetzt. An der Ausbildung können somit nicht nur Soldaten der ABC-Abwehrtruppe, sondern auch Soldaten der ABC-Abwehr aller Truppen und ABC-Abwehrfachdienste teilnehmen.

Die Vorbereitung dient der Angleichung des Ausbildungsstandes, dem Vorüben spezifischer Übungen, der Einweisung in die Sicherheitsbestimmungen, der Überprüfung der persönlichen und kollektiven Schutzausrüstung sowie logistischer Tätigkeiten. Die Vorbereitung findet an der ABC-Abwehrschule statt, die auch für die Planung, Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Ausbildung verantwortlich ist.

Die Ausbildung mit chemischen Kampfstoffen dauert fünf Tage. Der erste Tag dient der Verlegung, den Aufbau- und Vorbereitungstätigkeiten auf dem Übungsplatz sowie der Einweisung der Übungsteilnehmer in die Übungsanlage und den Ablauf auf dem Übungsplatz. Am zweiten, dritten und vierten Tag findet das eigentliche Training statt. Der Abbau auf dem Übungsplatz sowie die Rückverlegung werden am fünften Tag durchgeführt.

Die Ausbildung wird aufbauend gestaltet. Die ersten Übungen werden als Einzelausbildung durchgeführt. Der Übungsteilnehmer soll mit verschiedenen Detektionsgeräten unter dem Einfluss von Umweltfaktoren wie Temperatur und Wind die Kampfstoffarten erkennen und seine Geräte zweckmäßig einsetzen.

Nach Abschluss der Einzelausbildung werden die weiteren Übungen im Trupp- und Gruppenrahmen durchgeführt. Die Kommandanten erhalten im Nahverfügungsraum ihre Aufträge und haben mit ihren Trupps und Gruppen im kontaminierten Gebiet komplexe ABC-Aufklärungs- und Dekontaminationsaufgaben durchzuführen. Entscheidend dabei ist, dass der Trupp- bzw. Gruppenkommandant im kontaminierten Gebiet seine Führungsaufgabe wahrnimmt, klare Befehle an seine untergebenen Soldaten gibt und stets die Sicherheit im Umgang mit den chemischen Kampfstoffen beachtet.

Den Höhepunkt der Ausbildung bildet die so genannte Zugsausbildung. Der Kommandant des ABC-Abwehrzuges, der sich aus verschiedenen Elementen (ABC-Aufklärung, Dekontamination, Probenahme, Analyse u. a.) zusammensetzt, erhält durch den Übungsleiter einen Auftrag. In der Durchführung des Auftrages wird dem Kommandanten des ABC-Abwehrzuges größtmöglicher Handlungsspielraum gegeben. Einschränkungen ergeben sich ausschließlich durch die Sicherheitsbestimmungen auf dem Übungsplatz. Aufgabe des Zugskommandanten ist es, seine Elemente im kontaminierten Gebiet bzw. an dessen Rand zum Zusammenwirken zu bringen. Dabei hat er stets die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen im Umgang mit chemischen Kampfstoffen zu berücksichtigen. Ziel ist es, die Ausbildung so realitätsnah wie möglich zu gestalten.

Sicherheit im Umgang mit chemischen Kampfstoffen

Um Fehler beim Umgang mit chemischen Kampfstoffen bzw. die Verletzung von Sicherheitsbestimmungen rechtzeitig zu erkennen und die notwendigen Gegenmaßnahmen zu treffen, steht dem Übungsleiter ausgebildetes Sicherheitspersonal zur Seite. Die Sicherheitsgehilfen sind für einen klar festgelegten Bereich verantwortlich. Die Gesamtverantwortung im kontaminierten Gebiet trägt der Sicherheitsoffizier. Die Qualifikation zum Sicherheitspersonal setzt eine mehrmalige Teilnahme an der Ausbildung sowie die Absolvierung eines dreitägigen Sicherheitsseminars voraus. Als Sicherheitsoffiziere werden erfahrene Offiziere und/oder Stabsunteroffiziere der ABC-Abwehrtruppe eingeteilt. Im Zuge des Sicherheitsseminars wird das Sicherheitspersonal durch Situationsdrill spezifisch auf das Erkennen sicherheitsrelevanter Fehler und auf die zu treffenden Gegenmaßnahmen geschult.

Spezielle Ausbildungsdurchgänge

Seit 2014 werden neben den allgemeinen Ausbildungsdurchgängen so genannte Spezialistendurchgänge durchgeführt. Ziel dieser Ausbildungsdurchgänge ist es, aus der Theorie entwickelte Verfahren und Techniken auf ihre Anwendbarkeit in der Praxis zu überprüfen. Teilnehmer an diesen Ausbildungen sind hauptsächlich erfahrene Kadersoldaten aus den entsprechenden Fachbereichen (ABC-Aufklärung, Dekontamination, spezielle ABC-Probenahme). Im Juni 2014 wurde ein spezieller Ausbildungsdurchgang mit dem Schwergewicht ABC-Aufklärung durchgeführt. Während dieses Ausbildungsdurchganges wurden, auf der Basis von speziell entwickelten Übungen, Verfahren und Techniken des ABC-Aufklärungszuges unter möglichst realitätsnahen Bedingungen geübt. Die wertvollen Erkenntnisse aus diesen Übungen wurden dokumentiert und fließen über Vorschriften und die Weitergabe der Erfahrungen der Übungsteilnehmer in die Ausbildung der ABC-Aufklärungskräfte ein.

Internationaler Vergleich

Das "Live Agent Training" ist auch in anderen Armeen ein wesentlicher Bestandteil der ABC-Ausbildung. Der österreichische Weg ist jedoch einzigartig. Während in anderen Armeen die Ausbildung bei der Einzelausbildung, spätestens aber bei der Truppausbildung endet, ist es der ABC-Abwehrtruppe des ÖBH gelungen, komplexe Ausbildungen, die weit über diesen Rahmen hinausgehen zu entwickeln und durchzuführen. Dieser "Know-how"-Vorsprung wurde unter anderem auch durch die mehrmalige Teilnahme von ABC-Abwehrsoldaten der Deutschen Bundeswehr, die ihr "Live Agent Training" bis dato auf einer Übungsanlage in den USA durchführen, bestätigt. 2014 nahmen ABC-Abwehrsoldaten der Deutschen Bundeswehr mit eigenem Gerät an der Ausbildung teil. Der Spürpanzer "Fuchs" in der neuesten Ausführung wurde erstmals unter realen feldmäßigen Bedingungen getestet. Darüber hinaus konnte seitens der österreichischen Soldaten ein Vergleich zum AC-Aufklärungssystem "Dingo 2" hergestellt werden.

Im Jahre 2012 nahmen 15 ABC-Abwehrsoldaten der bosnischen Streitkräfte am "Live Agent Training" des ÖBH teil. Die Ausbildung bildete den Abschluss der Instruktion durch fünf "Mobile Training Teams" aus Österreich und war zweifelsohne einer der Höhepunkte in der Ausbildung der bosnischen ABC-Abwehrsoldaten.

Auf einen Blick

Das "Live Agent Training" ist integraler Bestandteil einer ABC-Abwehrausbildung. Es stellt für die ABC-Abwehrsoldaten die Ausbildung "im scharfen Schuss" dar. Die Erfahrung, die die österreichische ABC-Abwehrtruppe seit dem Jahre 1998 in diesem Bereich besitzt, ist international hoch angesehen. Um diesen Wissens- und Erfahrungsvorsprung beizubehalten, gilt es, das "Live Agent Training" ständig weiterzuentwickeln. Komplexe Ausbildungen für gemischte ABC-Abwehrelemente, Spezialistendurchgänge und die Teilnahme von Soldaten aus anderen Waffengattungen mit Schnittstellen zur ABC-Abwehr (z. B. Kampfmittelbeseitigung, Sanität) bilden die "Spielwiese" für diese Weiterentwicklung.

Im Mittelpunkt hat jedoch immer die Berücksichtigung der größtmöglichen Sicherheit zu stehen. 16 Jahre unfallfreies "Live Agent Training" bestätigen den hohen Standard, den die österreichische ABC-Abwehrtruppe in diesem Bereich besitzt. Es muss uns jedoch stets bewusst sein, dass der Umgang mit Substanzen, die in kleinsten Mengen tödlich sind, keine Nachlässigkeit und Leichtfertigkeit zulässt. Der Respekt vor den Kampfstoffen muss stets vorhanden sein. Der Teufel schläft nicht!


Autor: Major Mag.(FH) Gernot Wurzer, MBA, Jahrgang 1976. 2001 Ausmusterung an die ABC-Abwehrschule, 2001 - 2003 Kdt ABC-Abwehrzug/ABC-Abwehrkompanie; 2003 - 2004 Hauptreferatsleiter & TO Referat Erprobung; 2004 bis dato Kdt Lehrgruppe & Hauptlehroffizier; seit 2013 zusätzlich mit der Führung der Lehrabteilung betraut. 14 Teilnahmen am "Live Agent Training", davon zwölf als Übungsleiter & Kontingentskommandant.

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