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Taktik im Kosovo

Konsequenzen nach den Märzunruhen

Die Unruhen im Kosovo im März des vergangenen Jahres haben den dort stationierten Schutztruppen drastisch vor Augen geführt, dass eine friedliche Koexistenz der verschiedenen Volksgruppen noch immer in weiter Ferne liegt. Die Führung der Multinationalen Brigade Südwest hat jedoch ihre Lehren aus den Vorkommnissen gezogen und ihren Einsatz sowie die Ausbildung den neuen Gegebenheiten angepasst.

Dieser Beitrag beschäftigt sich vorwiegend mit der taktischen Ebene. Er stellt auch jene Änderungen dar, die nach den dramatischen Ereignissen im März erfolgten. Es ist keineswegs beabsichtigt, dadurch Kritik an irgendwelchen Funktionsträgern oder Maßnahmen der Vergangenheit zu üben. Speziell die Vorfälle des März 2004 haben KFOR unvorbereitet überrascht, was aber durch die Entwicklung der vergangenen fünf Jahre erklärbar ist. Die flankierenden Maßnahmen, mit denen der Dialog mit der kosovarischen Bevölkerung neu gestaltet werden soll, sind kein Thema dieses Beitrages.

Der NATO-geführte Einsatz der KFOR (Kosovo Force) begann 1999 und erzielte in der Unruheprovinz große Erfolge bei der Rückführung vor allem albanischer Flüchtlinge sowie bei der weitgehenden Normalisierung des täglichen Lebens. Im Zuge dieser Entwicklung verlagerten sich die Aufgaben von KFOR zunehmend weg von Kontroll- und Ordnungsaufgaben hin zur Unterstützung der Bevölkerung, z. B. durch CIMIC-(Civil Military Cooperation-)Projekte im Straßen- und Brückenbau. Dementsprechend sank auch die Gesamtstärke der Truppen bis Anfang März 2004 auf etwa 17 500, eine weitere Reduktion auf 7 500 war geplant. Die anhaltende, jedoch nur oberflächliche Ruhe im Kosovo führte dazu, dass sich die multinationalen Stäbe und die eingesetzte Truppe in den ersten Monaten des Jahres 2004 hauptsächlich mit dem so genannten Unfixing (offizielle Bezeichnung "Security Transition Strategy") beschäftigten. Unfixing bezeichnet die schrittweise und langfristige Übergabe von Schutzaufgaben von den KFOR-Kräften an die internationale (UNMIK-P/United Nations Interim Administration Mission in Kosovo-Police) und die kosovarische Polizei (KPS/Kosovo Police Service).

Märzunruhen

Die Kosovo-weiten Unruhen im März 2004 haben dann auf drastische Weise bewiesen, dass die Zeit im Kosovo für diese graduelle Abgabe der KFOR-Aufgaben und die damit einhergehende Reduktion der internationalen Truppenstärke noch nicht reif ist. Neben politischen Folgen mussten die anti-serbischen Ausschreitungen des März daher auch Auswirkungen auf die Taktik und Gefechtstechnik der eingesetzten Kontingente haben. Die Multinationale Brigade Südwest (MNB SW), in deren Verantwortungsbereich die durch Österreich geführte Task Force DULJE eingebunden ist, überarbeitete daher mit starker österreichischer Beteiligung ihren Operationsplan sowie ihre Taktik und Gefechtstechnik.

Die Aufträge an die Brigade blieben nach den dramatischen Vorfällen im Wesentlichen unverändert, sie wurden nur um die Festnahme der Anführer der Märzunruhen und um einen zusätzlichen zur Verhinderung weiterer Unruhen erweitert. Die Festnahmen traten nach wenigen Wochen stark in den Hintergrund, gleichzeitig wurde die Security Transition Strategy mehr oder weniger eingefroren.

Auftrag

Der Auftrag der MNB SW lautet daher im neuen Operationsplan wie folgt:

Garantieren eines sicheren Umfeldes; Schutz von Minderheiten und Kulturgütern; Verhindern eines jeglichen Versuches zur Initiierung von Unruhen oder Gewalt; Garantieren der Bewegungsfreiheit.

Problemdarstellung

Die wesentlichen sich aus dieser Auftragslage ergebenden Herausforderungen für die eingesetzten KFOR-Kräfte sind natürlich der ungelöste Konflikt zwischen den Ethnien und damit zusammenhängend der Schutz bedrohter Kulturgüter. Dieses Problem wird durch die schlechte wirtschaftliche Situation, durch weit verbreitete Organisierte Kriminalität und Korruption sowie durch Schmuggel bzw. illegale Grenzübertritte überlagert. Besonders destabilisierend wirkt natürlich auch der illegale Waffenbesitz.

Auch wenn diese vielfältigen Probleme die verschiedenen Regionen des Kosovo in unterschiedlicher Intensität belasten, kann man doch räumliche Schwerpunkte - die so genannten Hot Spots - herausarbeiten. Dabei handelt es sich angesichts der Vorfälle des März 2004 um jene Räume, in denen sich Enklaven befinden. Das sind Siedlungsbereiche vorwiegend der serbischen Minderheit und deren hochrangige Kulturgüter, z. B. Kirchen und Klöster.

Verfahren und Standardaufgaben

Abgeleitet vom Auftrag führen die Kräfte der MNB SW eine Reihe von Verfahren durch und erfüllen Standardaufgaben. Der Schutz der eigenen Kräfte und Einrichtungen (Force Protection) steht dabei naturgemäß im Vordergrund. Daneben werden für verschiedene taktische Zwecke, z. B. zur Kontrolle von Bewegungslinien, permanente oder temporäre Check Points oder Observation Points betrieben. Motorisierte Patrouillen und Fußpatrouillen kontrollieren einerseits den Raum großflächig, andererseits erfüllen sie spezielle Überwachungs- und Kontrollaufgaben. Eskorten schützen Einzelfahrzeuge oder Konvois in der Bewegung. Um den Schmuggel und illegale Grenzübertritte zu unterbinden, überwacht KFOR auch den Grenzraum zwischen den offiziellen Grenzübertrittsstellen (Grenzüberwachung). Eine Mischung der angeführten Verfahren und Standardaufgaben stellt neben dem Raumschutz (Area Security) auch die eigene Bewegungsfreiheit sicher und unterbindet im Anlassfall die gegnerische Bewegungsfreiheit.

Flächendeckend und meist in Zusammenarbeit mit den Polizeikräften finden Durchsuchungen (Haus- oder Fahrzeugdurchsuchungen) statt.

Taktische Änderungen

Eine eingehende Analyse der Märzunruhen auf taktischer Ebene zeigte deutlich, dass ein neues "Operational Concept" (vergleichbar mit dem Plan der Durchführung) der MNB SW benötigt wurde. Darin sollten vor allem durch ein neues Reservenkonzept bessere Möglichkeiten für taktische Reaktionen der Brigade geschaffen werden. Während der Unruhen war man mangels Planung und Vorbereitung nämlich nahezu bewegungs- und reaktionsunfähig gewesen. Auch die Stärke der für Reserveneinsätze verfügbaren Kräfte war zu gering. Daher war es notwendig, die Verfügbarkeit von Kräften für Reserveneinsätze zu erhöhen.

Aus der Anfangszeit der Kosovo-Operation hatte sich ein dichtes Netz an permanenten Aufgaben für die KFOR-Kräfte ergeben - meist handelte es sich um Bewachung und Schutz mittels Check Points und Observation Points, teilweise aber auch um regelmäßig stattfindende Eskorten. Über die bisherige Einsatzdauer hinweg war die Truppenstärke sukzessive reduziert worden, es gelang jedoch nicht, die Aufgaben im gleichen Ausmaß zu reduzieren. Trotz des beginnenden Unfixing war daher vor der Implementierung der eingangs aufgelisteten taktischen Änderungen die Masse der verfügbaren Kräfte in permanenten Aufgaben gebunden. Die taktische Handlungsfähigkeit während der Unruhen war schon alleine dadurch stark eingeschränkt.

Um mit den vorhandenen Kräften die Entschlossenheit zum Handeln besser demonstrieren und bei allfälligen neuen Unruhen erfolgreicher und beweglicher operieren zu können, war eine umfassende Rückbesinnung auf traditionelle taktische Grundsätze dringend notwendig. Zunächst musste festgestellt werden, welche Minimalstärke für die Erfüllung der permanenten Aufgaben erforderlich war. Danach wurde ausgelotet, in welchem Ausmaß die Kampftruppe durch Alarmreserven aus Unterstützungskräften abgelöst werden konnte. Der Rest der Kampftruppe konnte dann als grundsätzlich für Reserveneinsätze verfügbar betrachtet werden.

Darüber hinaus generierte man zusätzliche Alarmreserven in Zugs- und Kompaniestärke aus Versorgungs- bzw. Fernmeldeeinheiten und -verbänden, um die Kampftruppe von bloßen Wachaufgaben und teilweise auch aus anderen einfachen taktischen Aufgaben, wie z. B. Checkpoints, herauszulösen. Nach einigen Vorbereitungs-, Ausbildungs- und Übungsschritten ist es nun möglich und durchaus üblich geworden, dass z. B. ein Alarmzug aus der Stabskompanie einen Zug der Einsatzkompanie bei der Kasernenwache ablöst. Oder dass eine Alarmkompanie aus einem FM- oder Logistikverband temporär eine Bewegungslinie an einem Checkpoint überwacht.

Die taktischen Möglichkeiten konnten auch durch die Identifizierung und Nutzung aller in der MNB SW verfügbaren Ressourcen weiter gestärkt werden. So wurden z. B. alle schweren Pionier- und Bergemaschinen auf den Einsatz zur Räumung von Straßensperren vorbereitet, was in den Märztagen - vermutlich wegen der geglückten gegnerischen Überraschung - nicht zum Tragen kam. Auch die Fähigkeiten der verfügbaren Hubschrauber wurden bis zu den Unruhen keineswegs ausgeschöpft. Seither bereiten sich alle Besatzungen auf eine größere Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten vor.

Zu den wichtigsten Faktoren zählen die Aufklärungsmittel, die der internationalen Friedenstruppe im Kosovo zur Verfügung stehen. Diese Palette, von Nachtsichtgeräten über verschiedene Drohnen bis zu Aufklärungsflugzeugen, stand zwar schon seit Einsatzbeginn zur Verfügung, nach den ernüchternden Ergebnissen der Aufklärung vor, während und nach den Tagen der Unruhe wurde deren Verfügbarkeit für die taktischen Kommandanten stark verbessert. Musste der Kommandant einer Task Force früher den Einsatz von Aufklärungsmitteln beantragen und gut begründen, ist ein solcher Einsatz heute praktisch Standard. Als integraler Bestandteil des Auftrages für eine Schwerpunktaktion wird von der Brigadeführung bereits ein Angebot an verfügbaren Aufklärungsmitteln mitgegeben. Verglichen mit der jeweiligen nationalen Realität stellt sich für den taktischen Kommandanten dadurch anfangs fast eine Überforderung ein. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Multinationalität und die Führungsspanne durch Unterstellung vieler Aufklärungsmittel und anderer so genannter Force Multipliers, z. B. Psychological Operations-(PsyOps-) Teams, Lautsprecher-Trupps, Aufklärung, Mittel zur Elektronischen Kampfführung, Hubschrauberunterstützung, zusätzliche Fernmeldemittel, Verbindungsoffiziere zu anderen internationalen Kräften, … natürlich enorm ansteigt. Die Erfahrung zeigt, dass die Integration all dieser Komponenten eine intensive Koordination und Stabsarbeit, vor allem aber gemeinsames Üben erfordert.

Die Militärpolizei sowie die Bereiche Explosive Ordnance Disposal (EOD) und Sanität bieten ebenfalls eine umfassende Unterstützung. Für diese, wie für die bereits oben erwähnten Bereiche, müssen sich die Kommandanten und Spezialisten aller Führungsebenen bereits während der Ausbildung im Entsendestaat, noch mehr jedoch unmittelbar nach Einsatzbeginn mit den Leistungsparametern, aber auch mit den Notwendigkeiten dieser Force Multipliers beschäftigen. Nur dann können sie ein Optimum an Unterstützung von ihnen bekommen. Zusätzlich erscheint es zwingend notwendig, den Kommandanten und seinen Stab schon in Übungen während der Einsatzvorbereitung mit der Koordination vieler Force Multipliers zu belasten.

Zusammenarbeit KFOR, UNMIK-P und KPS

Die Zusammenarbeit der KFOR-Kräfte mit UNMIK-P und KPS bereitete in den Tagen der Gewalt besonders große Probleme. Vor allem, als sich die Gewalt direkt gegen die internationale Polizei richtete, gelang es mangels planerischer Vorbereitung und aufgrund fehlender Verbindungen nicht, die militärischen und polizeilichen Einsatzkräfte zum Zusammenwirken zu bringen. Eine Verbesserung dieser Zusammenarbeit hat daher entsprechend hohe Priorität. Anfangs wurden auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Gremien regelmäßige Treffen zwischen Militär- und Polizeivertretern vereinbart. Dadurch wurde der Informationsaustausch massiv verstärkt und nach kurzer Zeit auch wieder eine Vertrauensbasis geschaffen.

CIMIC, PsyOps und PIO

Zur Unterstützung des taktischen Konzeptes wurden auch die Aktivitäten im CIMIC-Bereich genauer auf die taktischen Notwendigkeiten ausgerichtet. Neue Prioritäten wurden gesetzt und diese strikt eingehalten. Als neue Priorität 1 wurden daher alle CIMIC-Projekte festgelegt, die taktische Notwendigkeiten unterstützten. So wurden beispielsweise Straßenbauprojekte vorgezogen, die auch für Truppenbewegungen von Bedeutung waren. Erst danach rangierten traditionelle CIMIC-Programme, wie die Wiederansiedlung von Flüchtlingen oder Agrar- und Schulprojekte. Die besondere Neuerung ist aber, dass bei allen Schwergewichtseinsätzen automatisch auch CIMIC-Kräfte eingebunden werden, die z. B. während der Durchsuchung einer Ortschaft bereits mögliche Unterstützungs- oder Ausgleichsmaßnahmen für die Bevölkerung erkunden und diese im Sinne einer Nachsorge nach den Einsätzen durchführen.

Auch die Fähigkeiten im Bereich PsyOps und PIO (Press and Information Office) orientieren sich nun stärker auf die Unterstützung der taktischen Einsätze. PsyOps-Lautsprechertrupps werden nun bei allen Schwerpunktoperationen verwendet. Auch die Integration von Foto- und Videoteams in die Einsatzkräfte (z. B. deutsche Einsatzkamerateams) brachte einen konkreten Einsatznutzen für die Truppe. Einerseits wirkt die Aufzeichnung von Aggressionshandlungen abschreckend auf die Täter, die befürchten, mit Hilfe dieser Aufzeichnungen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Andererseits wirkt es für die Truppe beruhigend, wenn sie im Falle späterer Untersuchungen die Lage im Allgemeinen und die Rechtmäßigkeit ihrer Handlungen dokumentieren kann.

Einrichtung von Restricted Areas

In engem Zusammenhang mit den beschriebenen taktischen Veränderungen wurden so genannte KFOR-Restricted Areas eingerichtet. Dabei handelt es sich um Schutzobjekte (z. B. Kirchen und Klöster) oder Schutzbereiche, bei denen die eingesetzte Truppe - ähnlich wie bei Kasernen - besondere Rechte, vor allem in Bezug auf Gewaltanwendung, hat. Solche Bereiche werden mit Schildern, Trassierbändern und ähnlichen Mitteln markiert, sobald sie aktiviert sind. Um allerdings eine Ghettobildung in den Enklaven, die als Schutzbereiche vorgesehen sind, zu verhindern, werden Enklaven nicht sofort als Restricted Areas, sondern vorerst als Protected Areas ausgeschildert. In diesem Fall werden keine Einschränkungen der Bewegungsfreiheit verfügt, stattdessen wird die Öffentlichkeit auf die vorbereitete Aktivierung als Restricted Area hingewiesen. Eine neue taktische Aufgabe für die eingesetzte Truppe ist es nun, solche Restricted Areas festzulegen, vorzubereiten und im Anlassfall rasch zu aktivieren. Der besondere Vorteil solcher Bereiche liegt einerseits in der verbesserten Vorbereitung zum Schutz und andererseits in der so gesteigerten Rechtssicherheit für die eingesetzte Truppe, die nun ihre Aufgaben auf der Basis klarer Rules of Engagement (ROE) erfüllen kann.

Weitere Änderungen

Auch in der Stabsorganisation und deren Abläufen gab es verschiedene Änderungen, um sie wieder auf das taktische Geschehen zu konzentrieren, von dem sie sich in fünf Jahren relativer Gewaltlosigkeit sukzessive entfernt hatten. Im Vordergrund stand dabei die Verbesserung der Situational Awareness (Permanente und umfassende Kenntnis der Lage). Hiezu wurde das Tactical Operations Centre (TOC) reorganisiert, indem die verschiedenen Lagedarstellungsmittel der Brigade zusammengefasst wurden. Dadurch verbesserten sich das Informationsmanagement, die Aufklärungsleistung und die Zusammenarbeit der Führungsgrundgebiete 2 und 3 (G2/G3) schlagartig. Die Stabsorganisation wurde von 240 Personen im Brigadekommando auf 200 reduziert und gleichzeitig durch eine Schwergewichtsbildung bei den Führungsgrundgebieten 2 und 3 eindeutig gestrafft.

Als weiterer wesentlicher Schritt musste nach all diesen Änderungen auch die Einsatzausbildung an die neuen Verfahren angepasst und intensiviert werden. So wurde z. B. zur Erhöhung der taktischen Beweglichkeit von Reserven ein intensives Boarding Training betrieben. Dessen Ziel war, jeden Soldaten mit seiner CRC-Ausrüstung (d. h. Schild und Schutzausrüstung für Crowd and Riot Control/Demonstrationsbekämpfung) für die Luftverlegung bei Tag und Nacht auf jedem verfügbaren Hubschraubertyp auszubilden. Dazu wurden auch die CRC-Ausbildung und die Schießausbildung mit Sonderwaffen aufgrund der Erfahrungen aus den Märzunruhen überarbeitet und intensiviert.

Zwei besondere Aspekte der Demonstrationsbekämpfung, die lange vernachlässigt worden waren, sind weiterhin die intensive Zusammenarbeit von KFOR-Kräften mit der kosovarischen und der internationalen Polizei sowie der Einsatz von Hunden.

Ein wichtiges Ausbildungsthema ist naturgemäß die Gewaltanwendung bzw. sind die Regeln für die Gewaltanwendung. Nachdem es im März 2004 schwierig gewesen war, die Gewaltmaßnahmen der Eskalation der Lage anzupassen, musste man sich mit diesem Themenbereich intensiv beschäftigen. Einerseits waren während der Unruhen kaum Mittel zur Verfügung gestanden, die man als Eskalationsstufen zwischen der Drohung mit dem Wort und dem scharfen Schuss einsetzen hätte können. Andererseits war man auch kaum auf diese Aggression (planmäßige "Demonstrationen" mit der Absicht, zu töten und zu zerstören) und die damit verbundene Einsatzführung vorbereitet gewesen.

Mittlerweile haben alle truppenstellenden Staaten die einschränkenden Bestimmungen (engl. Caveats) für die Truppe reduziert und die Kräfte sowohl mit neuer Ausrüstung (Granatgewehre etc.) als auch mit gezielter Ausbildung besser auf solche Extremsituationen vorbereitet. Überdies wird die Verwendung von Hunden zur Demonstrationsbekämpfung von einigen Kontingenten erfolgreich angewandt. Vor allem aber die konzeptiven Überlegungen zur Gewaltanwendung, zu den Gegenmaßnahmen sowie zum Zusammenhang von Eskalation, Gegeneskalation und Deeskalation sind die wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass die KFOR-Truppen mittlerweile wesentlich besser auf ähnlich dramatische Situationen eingestellt sind als noch im März 2004.

Somit hat die Truppe jetzt eine größere Zahl an Maßnahmen und zusätzlichen Einsatzmitteln zur Gewaltanwendung verfügbar. Die wesentlichen Neuerungen sind die so genannten non-lethal weapons; Waffen, mit denen auch Gewalt angewandt werden kann, die jedoch nicht tödlich wirken. Auch die oben bereits erwähnten Maßnahmen zur Kennzeichnung von Restricted Areas gehören zu diesen Verbesserungen, weil bereits die Kenntnis über die drohenden Folgen bei Eindringen in die Restricted Areas für die gegnerische Seite eine abschreckende Wirkung hat.

Die besondere Führungskunst der Kommandanten, vor allem auf der Gruppen-, Zugs- und Kompanieebene ist es nun, lageangepasst die richtige Eskalationsstufe zu wählen, diese Stufe bei Gelegenheit auch für die eigenen Kräfte und den Gegner wieder zurückzunehmen und die Eigenen so weit im Griff zu haben, dass diese in unübersichtlicher Lage im Sinne des Auftrages handeln, ohne dabei die Nerven zu verlieren. Das bedeutet in einer Gesellschaft, die vergleichsweise gewalttätig ist, dass die Kommandanten immer ausreichend gewaltbereit und gewaltfähig erscheinen müssen, um den Respekt der Gegenseite zu erzwingen, dass sie aber auch jede Gelegenheit nützen müssen, um Krisensituationen zu entspannen. Der eingeteilte Soldat muss sich bewusst sein, welche große Bedeutung jede einzelne Gewaltmaßnahme - jeder Schuss, jede Festnahme - haben kann, er muss aber auch bereit sein, genau diesen Schuss abzugeben, wenn die Lage es erfordert. Oberster Grundsatz ist dabei - wie auch für die Gewaltanwendung im Inland - die Verhältnismäßigkeit der angewandten Gewalt.

Durch die Gewalttaten während der Märzunruhen war naturgemäß auch die Einstellung der KFOR-Soldaten beeinträchtigt. Unmittelbar nach den Unruhen hatten vor allem die am meisten angegriffenen Kontingente das Vertrauen in die positiven Absichten der lokalen Bevölkerung verloren. Nachdem die Ruhe und Ordnung wiederhergestellt waren, war es allerdings notwendig, auch das Verhalten der Soldaten wieder genau auf die Absichten der militärischen Führung abzustimmen. Schließlich beeinflusst das Verhalten jedes einzelnen Soldaten erheblich die Wahrnehmung der KFOR-Aktivitäten durch die Bevölkerung. So ist es z. B. von großer Bedeutung, wie ein Soldat in der Patrouille auf die Menschen im Lande zugeht. Sein Verhalten wird unmittelbar als Einstellung der kosovarischen Bevölkerung auf KFOR zurückschlagen - positiv oder negativ. Als Vorgabe für das Verhalten der Soldaten in der MNB SW wurden daher die Begriffe friendly, fair and firm oder im Deutschen entschlossen, freundlich und fair, höflich und respektvoll vorgegeben.

Im Zusammenhang mit diesem neuen Verhalten konnten auch neue Einsatzverfahren entwickelt und verwendet werden. So sah etwa die bisher angewandte Vorgangsweise bei Fahrzeugdurchsuchungen vor, dass an einer bestimmten Stelle der Verkehr über einen längeren Zeitraum mittels Check Point angehalten wird und dann Einzelfahrzeuge sukzessive durchsucht werden. Stattdessen stoppt man nun in einem Verfahren namens Cage Operation (Operation Käfig) kurzfristig den gesamten Verkehr und leitet alle angehaltenen Fahrzeuge in einen bewachten und vorbereiteten Raum um, wo man sie gleichzeitig durchsuchen kann. Auch die Durchsuchung von Siedlungen und Städten wird - als Lehre aus den Märztagen - nun meist nach einem neuen Verfahren durchgeführt. Bei einem so genannten Friendly Sweep (sanfte Durchsuchung) fließen KFOR-Kräfte in den Einsatzraum ein und nehmen dort auf verschiedene Weise Verbindung mit der Bevölkerung auf. Dabei ist das primäre Ziel, ins Gespräch zu kommen, Informationen zu sammeln und eine Gesprächs- und Vertrauensbasis mit den Bürgern des Kosovo aufzubauen, anstatt wie früher nur "mit strengem Blick" nach Waffen zu suchen.

Zwar erscheinen solche Operationen angesichts der unmittelbaren Erfolge (z. B. Waffenfunde) für manche Beobachter eher enttäuschend, mittelfristig lohnt sich der kommunikative Ansatz jedenfalls. Allein die Informationen, die durch die kosovarischen Bürger wieder an KFOR weitergegeben werden, sind die Mühe wert. Im Wesentlichen ändert sich die Haltung der Bevölkerung aber von stiller und meist grimmiger Duldung der unerfreulichen Konfrontation hin zur Kommunikation. Durch die gleichzeitig demonstrierte Fähigkeit von KFOR zur massiven und überraschenden Präsenz sowie durch die o. a. Fähigkeit zur Eskalation erwirbt die Truppe momentan wieder jenen Respekt, der im März offensichtlich schon verloren zu gehen drohte bzw. stellenweise schon abhanden gekommen war.

Schlussbemerkungen

Auf der Basis der zuvor beschriebenen Änderungen im Detail konnte dann ein Konzept der Beweglichen Operationen erstellt werden. Ein wesentlicher Bestandteil war natürlich die oben beschriebene Aufstellung und Verwendung von Reserven und Alarmreserven. Auch die Zusammenarbeit über Bataillonsgrenzen hinweg war zur Zeit der Märzunruhen 2004 kaum mehr üblich. Seit der Einführung der neuen Konzepte (zuerst Reservenkonzept, danach Bewegliche Operationen) ist die gegenseitige Unterstützung der einzelnen Task Forces (bataillons- bis regimentsstarke multinationale Kampfgruppen) ein ständiges Thema der Einsatzvorbereitung.

Eine weitere Änderung, die Verschiebung von Grenzen, ist zwar ein alter militärischer Grundsatz, war aber im internationalen Bereich anfangs eher schwierig umzusetzen - schließlich fühlen sich die nationalen Kontingentskommandanten durch die jeweiligen nationalen Kommanden an die Verantwortung für einen zugewiesenen Einsatzraum gebunden. Nach einigen Vorbereitungen und Übungen lag allerdings auf der Hand, dass das Konzept des Reserveneinsatzes für alle Kontingente unbestreitbar große Vorteile mit sich brachte, auch wenn der Aufwand für Vorbereitung, Ausbildung und Übung für die eingesetzte Truppe erheblich war. Zusammen mit der Generierung und dem Einsatz von Reserven gibt die Verschiebung von Grenzen nun ausreichend taktische Flexibilität bei der Konzentration von Kräften, wodurch auch dem Grundsatz der Überraschung wieder Genüge getan werden kann.

Die neu geschaffenen taktischen Möglichkeiten wurden anschließend in das Gelände projiziert. Abgestimmt auf die so genannten Hot Spots wurden die Optionen der Reserven vorgeplant und gemeinsam mit der Verschiebung von Grenzen in vielen Übungen und Einsätzen angewandt.

Die Summe der beschriebenen Maßnahmen versetzt die eingesetzte Truppe und die taktisch/operative Führung in die Lage, ähnlichen Unruhen wie jenen im März des Vorjahres selbstbewusster zu begegnen. Zur Zeit haben die KFOR-Kräfte im Einsatzraum der MNB SW gemeinsam mit den nationalen und internationalen Polizeikräften das Heft in der Hand. Das heißt, dass KFOR mit Schwergewichtsoperationen die Situation im Einsatzraum dominiert und sich dadurch den nötigen Respekt verschafft. Dadurch, dass die Kräfte der MNB SW laufend ihre beeindruckende Leistungsfähigkeit in verschiedenen Bereichen demonstrieren, senden sie eine Botschaft der Stärke aus, die von der relativ gewaltgewohnten Gesellschaft sicher verstanden wird. Auch das ist ein entscheidender Beitrag zur Beruhigung der Lage und zu einem sicheren Umfeld.

___________________________________ ___________________________________ Autor: Oberst dG Mag. Christian Platzer, Jahrgang 1961. Ausmusterung 1983 zur mechanisierten Truppe;12. Generalstabskurs; Logistikfunktionen im BMLV (Beschaffung, Materialerhaltung); währenddessen mobeingeteilt als 2. GO in der 1. Jägerbrigade; Generalstabskurs der US Army; 1997/98 Chefredakteur der Zeitschrift ÖMZ; 1998 bis 2000 Stabsoffizier im Partnership Staff Element beim NATO-Kommando AFCENT/AFNORTH in Brunssum, NL; danach stellvertretender Leiter der Mobabteilung im BMLV; 2001/2002 Truppenverwendung als Kommandant des PzAB 9; seitdem stellvertretender Leiter der Abteilung Militärpolitik im BMLV; März bis November 2004 österreichischer Kontingentskommandant und Chef des Stabes der MNB SW im Kosovo.

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