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Die neue Sicherheitsdoktrin

Der grundlegender Wandel in der österreichischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde eingleitet.

„Die neue österreichische Sicherheitsdoktrin ist nicht die Antwort auf ein Bedrohungsbild, sondern ein umfassendes, aktives und präventives Gestaltungskonzept zur Wahrung der österreichischen Sicherheitsinteressen im neuen Europa.“

Ausgangssituation

Im Regierungsprogramm hat sich die Bundesregierung entschlossen, die österreichische Sicherheits- und Verteidigungspolitik neu zu konzipieren und an die geänderten Bedingungen anzupassen.
Über Antrag des Bundesministers für Landesverteidigung hat der Ministerrat im Mai 2000 die Einsetzung einer Kommission zur Ausarbeitung einer neuen Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin beschlossen. Die Beamten- bzw. Expertenebene bilden Botschafter Dr. Heiss (Bundeskanzleramt), Sektionschef DDr. Reiter (Vertreter der Frau Vizekanzler), Botschafter Dr. Vukovich (Außenministerium) und Oberst Mag. Gustenau (Verteidigungsministerium).

Zielsetzungen des „Doktrinenprozesses“:

- Erstellung eines politisch-strategisches Leitlinienkonzepts zur umfassenden Neugestaltung der österreichischen Sicherheitspolitik;
- Ablösung des mehr als zwanzig Jahre alten Landesverteidigungsplanes;
- Initiierung einer breiten und sachlichen Diskussion über die Zukunft der österreichischen Sicherheitspolitik;
- Erfassung und Darstellung des sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels.

Grundlage für die Erarbeitung einer gesamtstaatlichen Sicherheitsstrategie und davon abgeleiteter entsprechender Teilstrategien waren die Bereiche:
- Außenpolitik
- Verteidigungspolitik
- Innere Sicherheit
- Wirtschaftspolitik
- Informations- und Kommunikationspolitik
- Bildungspolitik
Der Analyseteil wurde auf Expertenebene nunmehr weitgehend fertiggestellt und am 23. Jänner im Ministerrat zur Kenntnis genommen.

Er gliedert sich in fünf Kapitel:

1. Allgemeine Grundlagen der europäischen Sicherheitspolitik
2. Das allgemeine sicherheitspolitische Lagebild
3. Funktion der globalen, transatlantischen und europäischen Sicherheitsinstitutionen
4. Die sicherheitspolitische Situation Österreichs
5. Die Grundlagen der österreichischen Sicherheitspolitik

Der Analyseteil enthält unter anderem folgende wesentliche Aussagen:

Grundlegender Wandel der europäischen Sicherheitspolitik

- Der politische Umbruch von 1989/90 hat auch zu einem grundlegenden Wandel in der europäischen Sicherheitspolitik geführt. Dieser sicherheitspolitische Paradigmenwechsel besteht insbesondere darin, dass
1. erstmals eine ganz Europa umfassende Ordnung des Friedens und der Stabilität möglich geworden ist,
2. anstelle eines klar erkennbaren, militärisch dominierten Bedrohungsbildes eine komplexe Mischung von Gefahren und Risiken, die politische, wirtschaftliche, militärische, soziale, kulturelle, informationstechnische oder ökologische Ursachen haben können, getreten ist und neue sicherheitspolitische Herausforderungen nach sich zieht,
3. auch kleinere Staaten sicherheitspolitisch relevanten Vorgängen in größerer Entfernung von der eigenen Grenze Aufmerksamkeit und Engagement widmen müssen, weil es keine „nationale“ Sicherheit ohne ein entsprechendes Maß an „europäischer“ Sicherheit geben kann und die räumliche Entfernung zu Krisenherden keinen ausreichenden Schutz mehr darstellt,
4. moderne Gesellschaften in zunehmenden Maß verwundbar und beeinflusst von internationalen Entwicklungen sind.
- Die Gesamtheit der Veränderungen zwingt dazu, dass es nicht zu einem bloßen Anpassen alter Konzepte kommen darf, sondern zu einer grundlegenden Neuorientierung der Sicherheitspolitik kommen muss.
Die aktuelle Situation erfordert eine Abkehr von der „Bedrohungs-Reaktionspolitik“ und die Hinwendung zur Entwicklung einer aktiven und präventiven Sicherheitspolitik in Form der kooperativen (Mit-) Gestaltung des eigenen Umfeldes und der gemeinsam mit Partnern vorgenommenen Reduzierung von Verwundbarkeiten.
Eine moderne europäische Sicherheitspolitik ist daher primär eine präventive Stabilisierungspolitik mit dem Ziel der Schaffung einer möglichst hohen politischen, wirtschaftlichen, militärischen, sozialen und ökologischen Umfeldstabilität. Eine solche friedens- und stabilitätsorientierte Sicherheitspolitik ist umfassend zu konzipieren und erfordert die Verbindung aller nichtmilitärischen und militärischen Aspekte.

Die sicherheitspolitische Lage Europas und Österreichs


- Da der politische und sicherheitspolitische Neuordnungsprozess Europas noch nicht abgeschlossen ist, gibt es derzeit drei Zonen unterschiedlicher Stabilität:
- Das stabile und integrierte EU-NATO-Europa;
- Staaten, die eine EU- bzw. NATO-Beitrittsperspektive haben;
- Staaten, die sich dem Stabilitätskern noch nicht angeschlossen haben.
- Ein starkes auch militärische Engagement der USA auf unserem Kontinent wird auch weiterhin wesentlich die sicherheitspolitische Entwicklung, den Frieden und die Stabilität Europas bestimmen.
- Entscheidend für Europas Zukunft wird aber sein, dass die EU den eingeschlagenen Weg der sicherheitspolitischen Integration, der zu einer „gemeinsamen Verteidigung“ führen sollte, fortsetzt.
Nur mit vereinten Kräften kann die EU eine maßgebliche politische „Gestaltungsmacht“ entwickeln und eine größere Verantwortung für den Frieden und die Sicherheit auch seines eigenen Umfeldes wahrnehmen, als dies heute der Fall ist.
- Je kleiner, entwickelter und wirtschaftlich eingebundener ein Staat ist, desto wichtiger ist es für ihn, sich in die Systeme und Organisationen internationaler Sicherheitspolitik zu integrieren. Nur so kann er seine eigene Interessenslage wirksam artikulieren und umsetzen bzw. an der nur im Verbund durchführbaren gemeinsamen Konsolidierung der europäischen Friedensordnung beitragen.

Die Funktion der globalen, transatlantischen und europäischen Sicherheitsinstitutionen

- Sicherheit und Stabilität können heute nur durch ein Zusammenwirken von einander unterstützenden und funktionell ergänzenden Institutionen gewährleistet werden. Dazu zählen insbesondere die UNO, die OSZE, die EU und die NATO.
- Keine dieser Organisationen kann für sich allein alle sicherheitspolitischen Herausforderungen bewältigen, alle haben ihre jeweils eigenen Stärken und Schwächen und leisten durch Zusammenarbeit ihren spezifischen Beitrag. Entscheidend für die Konsolidierung der europäischen Friedenszone ist eine enge Verflechtung und Zusammenarbeit zwischen EU und NATO.
- Die „neue NATO“ stellt sich heute als eine umfassende Sicherheitsgemeinschaft und insbesondere als ein auf festen demokratischen Werten beruhendes politisches Bündnis dar. Sie trägt durch ihre Öffnung für neue Mitglieder und durch die Übernahme neuer Aufgaben (Krisenmanagement, umfassende sicherheitspolitische Kooperation z.B. mit Russland, der Ukraine oder der Mittelmeer-Region) entscheidend zur Erweiterung und Festigung der europäischen Friedens- und Stabilitätszone bei.

Sicherheitslage Österreichs

- Die aktuelle Sicherheitslage Österreichs ist durch eine Reihe positiver Faktoren gekennzeichnet. Dazu zählen insbesondere die innere Stabilität und die wirtschaftliche Prosperität, aber auch die Erweiterung von EU und NATO.
- Eine existenzbedrohende militärische Aggression gegen Österreich ist erst nach einer strategischen Veränderung der politischen und militärischen Situation denkbar und hat nach derzeitigen militärstrategischen Analysen eine Vorlaufzeit von sieben bis zehn Jahren.
- Da sich diese positive Lage langfristig auch wieder ändern kann, muss eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik weiterhin die Möglichkeit der Entstehung künftiger militärischer Bedrohungen berücksichtigen.
Die meisten europäischen Staaten erhalten sich daher bei ihren Reformen eine „Aufwuchsfähigkeit“, um ein ausreichendes Potential für den Verteidigungsfall sicherstellen zu können. Dies geschieht auch insbesondere angesichts der Tatsache, dass militärische Bedrohungen rascher entstehen können, als es möglich ist einmal abgeschaffte militärische Strukturen wieder aufzubauen. Für Österreich gilt das gleichermaßen, zumindest solange wie der sicherheitspolitische Integrationsprozess Europas noch nicht vollständig abgeschlossen ist und daher zumindest potentiell die Gefahr einer möglichen Renationalisierung der Sicherheitspolitik bestehen bleibt, bzw. solange Österreich seine Verteidigungsaufgabe nicht in einem Bündnis löst.
- Derzeit kann davon ausgegangen werden, dass die „militärische Verteidigungsfähigkeit“ nicht eine selbstständige Verteidigung des gesamten österreichischen Staatsgebietes erfordert.
Durch die von der Verteidigungsfähigkeit der NATO ausgehende Abhaltewirkung wird auch für Österreich das „militärische Restrisiko“ gering gehalten. Durch die Aufrechterhaltung der militärischen Kernfunktionen in einer „operativen Mindestgröße“ soll vielmehr eine adäquate Reaktionsfähigkeit Österreichs gewährleistet werden bzw. sollen alle weiterführenden Optionen Österreichs im Bereich der Sicherheitspolitik gewahrt bleiben.
- An die Stelle einer einfach kalkulierbaren militärisch dominierten Bedrohungslage ist eine Vielzahl neuer Sicherheitsrisiken getreten:
- Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
- fortschreitende Entwicklung und Verfügbarkeit weitreichender Luftkriegsmittel;
- „Kampf um und mit Information“ sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich
- negative Rückwirkungen von Konflikten, die außerhalb des konsolidierten Europas ausgetragen werden, in Form von erzwungenen Flüchtlingsbewegungen (1999 in Europa 6,2 Millionen), Störung des Außenhandels, grenzüberschreitenden Umweltbelastungen, Waffen-, Drogen- und Menschenhandel;
- Zunahme subkonventioneller Gefahren, die sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren, wie z.B. terroristischen Bewegungen, Gruppierungen der organisierten Kriminalität, Sekten, aber auch von Einzeltätern ausgehen können.
Die größte Gefahr für die Sicherheit Österreichs besteht in einer Destabilisierung Europas. Von besonderer Bedeutung bleibt die geographische Nähe zu dem noch immer instabilen Balkan.
- Diesen Risiken kann am effizientesten durch eine Stabilisierung vor Ort im Rahmen multinationaler Anstrengungen in Form von umfassenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen unter Einschaltung internationaler Sicherheitsorganisationen begegnet werden.
- Streitkräfte dienen daher auch unter den heutigen Verhältnissen als Instrument zur Realisierung der Sicherheitsinteressen. Neben die traditionellen Aufgaben (Demonstration des Selbstbehauptungswillens und Abhaltung/Abwehr) sind aber in zunehmenden Maß neue Aufgaben getreten, nämlich internationale Einsätze zur Förderung, Sicherung und Wiederherstellung von Frieden und Stabilität.
Dadurch gewinnen militärische Kräfte als Mittel zur Erreichung sicherheitspolitischer Ziele in den Bereichen Kooperation, Konfliktverhütung, Krisenbewältigung und Krisennachsorge eine neue und gewichtigere Bedeutung.
- Moderne Streitkräfte haben bei der Bewältigung der umfassenden sicherheitspolitischen Herausforderungen drei Hauptfunktionen:
1. Verteidigungsfunktion
2. Stabilisierungsfunktion im Rahmen einer umfassenden und präventiven Sicherheitspolitik
3. Assistenzfunktion

Grundlagen der österreichischen Sicherheitspolitik


Österreichs Weg von der Neutralität zur Solidarität

- Mit dem ohne Neutralitätsvorbehalt erfolgten Beitritt zur Europäischen Union hat Österreich den gesamten rechtlichen und politischen Besitzstand der EU inklusive der Bestimmungen über die GASP übernommen. Damit hat eine Abkehr von der Neutralität de facto stattgefunden.
Zum Zwecke der Mitwirkung am gesamten Spektrum der Petersberg-Aufgaben wurde die österreichische Verfassung (Art 23f) novelliert. Heute muss Österreich daher wie Finnland und Schweden als bündnisfreies Land bezeichnet werden. Ob es in der Folge bündnisfrei bleiben oder einem Verteidigungsbündnis beitreten möchte, kann Österreich selber autonom entscheiden.
- Einigen Staaten die schwierigen und gefährlichen Aufgaben bei der Sicherung von Frieden und Stabilität in Europa aufzuerlegen, während andere nur weniger gefährliche oder belastende Beiträge leisten, widerspricht dem Gerechtigkeitsgebot. Die Inanspruchnahme solcher „Privilegien“ (etwa eine ausschließliche Konzentration Österreichs auf sicherheitspolitische Nischen, auf das Anbieten „guter Dienste“ oder auf die zivile Dimension der Sicherheitspolitik) ist mit dem Solidaritätsprinzip und einer europäisch geforderten Lasten- und Risikoverteilung unvereinbar.

Die Sicherheitsinteressen Österreichs

- Voraussetzung für eine aktive und umfassende Sicherheitspolitik ist eine klare Darlegung der eigenen sicherheitspolitischen Interessen eines Staates.
Der vorliegende Analyseteil trägt diesem Erfordernis Rechnung und nennt erstmals in einem offiziellen Regierungsdokument die vitalen Sicherheitsinteressen der Republik Österreich und daraus abgeleitete wichtige politisch-strategische Zielsetzungen.
Zu den vitalen Interessen zählen u.a.:
- Die Aufrechterhaltung der territorialen Integrität;
- die Bewahrung der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungsordnung und der inneren Sicherheit,
- der Fortbestand der wirtschaftlichen Prosperität,
- die Bewahrung und die Festigung der Grundwerte.
Diesen ist ein ausführliches eigenes Kapitel gewidmet. Dessen Hauptaussage besteht darin, dass sich Österreich als integraler Bestandteil der Wertegemeinschaft der EU versteht und auch aktiv insbesondere für den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten eintritt. Zur Gewährleistung der Grundwerte wirkt Österreich u.a. aktiv und gleichberechtigt an der europäischen Integration mit und tritt für eine gemeinsame europäische Verteidigung ein.
Wichtige politisch-strategische Ziele sind u.a.
- Die Verhinderung des Entstehens von Risiken und Bedrohungen für den Kontinent und die verstärkte Übernahme von mehr europäischer Verantwortung für Frieden und Sicherheit;
- der Aufbau effizienter ziviler und militärischer Kapazitäten und Ressourcen für eine glaubwürdige GASP der EU;
- die Erhaltung und Vertiefung der partnerschaftlichen transatlantischen Zusammenarbeit als Grundlage der Stabilität und Sicherheit in Europa.

Ausblick

Der Expertenentwurf des Analyseteils wurde den im Parlament vertretenen Parteien mit dem Ziel, eine vertiefte Debatte zu den Fragen der zukünftigen Sicherheitspolitik zu beginnen, übergeben. Zum Zweck der laufenden Überprüfung und Beratung der österreichischen Sicherheitspolitik wird ein „Nationaler Sicherheitsrat“ eingerichtet. Darüber hinaus ist eine breite öffentliche Information und Diskussion beabsichtigt, die über Internet (www.bundesheer.gv.at), Medien und Podiumsveranstaltungen geführt werden wird.
Unter Berücksichtigung der Diskussionsergebnisse wird bis zum Sommer der „Strategieteil“ der Doktrin erstellt, der im Wesentlichen darstellen soll, wie die sicherheitspolitischen Interessen und Ziele in praktische Politik umgesetzt werden sollen. Ein förmlicher Gesetzesbeschluss der neuen österreichischen Sicherheitsdoktrin und damit die Ablösung des bisherigen Landesverteidigungsplanes ist für den Herbst dieses Jahres vorgesehen.

HptmdhfD Mag. Johann Frank, Institut für intern. Friedenssicherung der LVAk -
dzt. dienstzugeteilt zum Militärwissenschaftlichen Büro

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