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Einsatznachbereitungsseminare

Fürsorge für die Truppe und Vorbereitung auf künftige Einsätze

Einsatznachbereitungsseminare - bis 2003 als Reintegrationsseminare bezeichnet - gibt es in der deutschen Bundeswehr seit sieben Jahren. Tausende von Soldaten, die aus einem Einsatz zurückgekehrt sind, kennen sie. Ihre Akzeptanz ist - nach anfänglicher Skepsis gegenüber dem "Psychokram" - hoch. Der Dienstherr (Dienstgeber; Anm.) bietet den Soldaten damit eine Möglichkeit zur Reintegration in das normale Alltagseben an, denn der Einsatz des Soldaten endet nicht mit seiner (mehr oder weniger) gesunden Rückkehr. Einsatznachbereitungsseminare sind Teil eines Konzeptes zur Bewältigung einsatzbedingter Belastungen bei Soldaten und heben damit auch die Bereitschaft, sich neuen Einsätzen zu stellen.

Stressreaktionen sind normal, auch der Mensch, der solche Reaktionen erlebt, ist normal. Nicht normal ist die stressauslösende Situation. Das ist eine selbst in Streitkräften inzwischen anerkannte Binsenweisheit. Situationen, in denen sich Soldaten auf dem Balkan (oder im Assistenzeinsatz) wiederfinden, ja schon die Monate lange Trennung vom gewohnten Alltag mit all seinen Höhen und Tiefen, können Belastung genug sein, um Stressreaktionen auszulösen.

"... ich dachte schon, ich bin verrückt!"

Ein etwas älterer, erfahrener Soldat erzählte - nach einem sechsmonatigen Einsatz auf dem Balkan - in einer Gesprächsrunde anderen Rückkehrern, dass er daheim unerklärliche Gefühle gehabt hatte: Seine Familie war während seines Einsatzes (mit ihm abgesprochen und daher keineswegs überraschend) aus einer relativ kleinen Etagenwohnung in ein Einfamilienhaus gezogen. Das Wohnzimmer im neu bezogenen Haus erschien dem Soldaten größer als die gesamte vorige Wohnung. Und nun saß er abends in diesem Riesenraum und hielt es nicht aus. Hatte er so etwas wie Platzangst, die Angst, die manche empfinden, wenn sie für sich selbst subjektiv viel zu viel Raum haben? Oder fehlte ihm nur die vorher empfundene Gemütlichkeit, die dieses so viel größere Wohnzimmer nicht hergab? Jedenfalls hatte er in den ersten ein, zwei Wochen das Bedürfnis - so berichtete er - diesen Raum immer wieder zu verlassen. Eine verständige Ehefrau und sein aktives Bemühen hatten ihm geholfen, dieses Unbehagen zu überwinden. Dennoch hielt er - angeleitet von einem Moderator und von diesem zum Erzählen aufgefordert - es für wichtig, gerade in dieser Runde (Thema: "Nach meiner Rückkehr war ich überrascht von ...") noch einmal über seine Gefühle zu sprechen.

Die eigentliche Überraschung gab es nach seinem Beitrag. Ein wesentlich jüngerer Soldat der während seiner Worte aufgehorcht hatte, meldete sich zu Wort: "Da bin ich aber froh, dass Sie das erzählt haben. Mir ist etwas ganz Ähnliches widerfahren. Ich wohne noch bei meinen Eltern, und die sind während meines Einsatzes auch umgezogen. Meine Mutter hatte sich die allergrößte Mühe gegeben, mein Zimmer, das erheblich größer und komfortabler ist, als jenes in der Wohnung zuvor, wunderschön herzurichten. Aber es war nicht mein Zimmer! Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen, mit der ich meine so bemühte Mutter ganz offensichtlich verletzte. Und weil ich mir selbst eingestehen musste, dass sie Recht hatte, dass alles viel besser war, als in der vorhergehenden Wohnung, ich aber keine Freude daran haben konnte, dachte ich schon, ich sei verrückt. Nachdem ich Sie gehört habe, weiß ich, ich bin es nicht!"

Wer hört dem Heimkehrer wirklich zu?

Dieses Gespräch hat tatsächlich in dieser Form stattgefunden. Es zeigt beispielhaft, wie wichtig es sein kann, z. B. nach der Rückkehr aus einem besonderen Einsatz mit jemandem sprechen zu können, der aus eigenem Erleben weiß, wovon man spricht. Viele zurückgekehrte Soldaten mussten erfahren, dass Familie, Freunde, Vereinskameraden, Stammlokalrunden, Arbeitskollegen, ja selbst die Kameraden in der eigenen Stammeinheit den Gesprächsbedarf nur in den seltensten Fällen durch geduldiges Zuhören und verständnisvolle Fragen befriedigen können. Sie reagieren auf den Heimkehrer oft uninteressiert, verständnislos oder gar vorwurfsvoll ("Dich habe ich aber lange nicht gesehen!" "Du bist so braun, wo warst Du denn im Urlaub?" "Was? Du hast Deine Familie so lange allein gelassen?" "Na, was machst Du denn jetzt mit dem vielen Geld?" "Gut, dass Du wieder da bist; es gibt viel zu tun!").

Ziel und Inhalt der Seminare

Die Bundeswehr bietet ihren Soldaten deshalb seit 1997 Reintegrationsseminare an (aus einem solchen Seminar stammt auch das geschilderte Gespräch). Denn nach der Rückkehr aus einem Einsatz gewinnen Seminare zur Einsatznachbereitung und/oder zur Reintegration zunehmend an Bedeutung, und diese steigt mit jedem Folgeeinsatz.

Ziel ist es, einsatzbedingte Belastungen unterhalb der Schwelle eines kritischen Ereignisses (Critical Incident) aufzuarbeiten. Dabei ist es unerheblich, ob die Belastungen - aus dem Einsatz herrühren, - im Standort begründet sind oder - ihre Ursache in der Familie haben.

Der Belastungsabbau erfolgt im Wesentlichen durch moderierte Gespräche. Nicht ohne Grund beginnen die Reintegrationsseminare mit dem Thema "Im Einsatz hat mich besonders geärgert ...". Nirgendwo anders als in dieser Gesprächsrunde wird deutlicher, dass Ärger Stress erzeugt. Fehlerhaftes Führungsverhalten, fehlende soziale Unterstützung, ununterbrochener Dienst ("jeder Tag ist Mittwoch"), Angst, Enge, Hitze, Kälte, Staub, Schlamm, unhygienische Verhältnisse oder Zweifel am Sinn des Einsatzes sind einige wenige Ärgernisse bzw. Stressoren, die in solchen Seminaren immer wieder genannt werden. Das Ziel eines Reintegrationsseminares ist, die Wirkung dieser Stressoren zu verringern, indem darüber gesprochen wird. Den nachhaltigsten Erfolg bringt dabei häufig die Erkenntnis, dass der Rückkehrer nicht der Einzige ist, der z. B. ihm unerklärliche Gefühle empfindet - wie etwa der junge Soldat in seinem neuen Zimmer.

Leiter (Moderatoren)

Besonders ausgebildete Moderatoren leiten die Seminare. Moderator kann sein, wer eine besondere soziale Kompetenz besitzt, wer zuhören kann, wer neutral ist, wer in der Lage ist, zunächst einmal alles Gesagte zu akzeptieren. Für die Bundeswehr bietet das Zentrum Innere Führung in Koblenz Lehrgänge "Befähigung zur Leitung von Einsatznachbereitungsseminaren" von einwöchiger Dauer an. Ein vom Heerespsychologischen Dienst an der Theresianischen Militärakademie in den Critical Incident-Seminaren ausgebildeter Peer (das ist eine zur Hilfe nach Critical Incidents geschulte Person, die innerhalb einer betroffenen Gruppe eingesetzt wird) wäre aber ebenfalls ganz sicher in der Lage, nach einer recht kurzen Zusatzausbildung ein Reintegrationsseminar zu moderieren.

Teilnehmer

Teilnehmer eines solchen Seminars sollen - sechs bis acht Wochen nach ihrer Rückkehr - die Soldaten eines Einsatzes sein. Die Gesprächsrunde sollte auf keinen Fall mehr als fünfzehn bis zwanzig Teilnehmer umfassen. Selbst für diese scheinbar geringe Zahl bedarf es bereits eines Co-Moderators.

Ablauf

Das Seminar sollte immer mit einem (sehr kurzen) Lernblock beginnen, in dem über die Individualität von Wahrnehmungen und den Umgang miteinander im Gespräch unterrichtet wird. Es werden Regeln aufgestellt. Die wichtigste ist die der Vertraulichkeit der folgenden Gespräche. Deshalb darf kein Vorgesetzter, der nicht mit den Gesprächsteilnehmern im Einsatz war, an diesen Gesprächen teilnehmen.

Nach der bereits erwähnten "Frustrationsrunde" ("Im Einsatz hat mich besonders geärgert …") heißt das nächste Thema "Im Einsatz hat mir besondere Freude bereitet …" und das dritte "Nach der Rückkehr war ich überrascht von …". Die Teilnehmer werden gebeten, auf einem Kärtchen diesen Satz mit einem Begriff möglichst spontan (denn was jemanden nicht spontan als Auslöser für Ärger oder Freude einfällt, kann nach sechs bis acht Wochen nicht mehr so bedeutungsvoll sein) zu beantworten. Wenn die Zeit es erlaubt, lassen sich in einer offenen Gruppenarbeit auch noch Folgerungen erarbeiten, in denen klar wird, - was die Teilnehmer bei einem nächsten Einsatz anders machen würden, - was sie ihren Nachfolgern empfehlen, vor dem Einsatz, während des Einsatzes und nach dem Einsatz zu tun oder zu unterlassen, und - was Verantwortliche für den Einsatz verändern sollten.

Dauer

Die Erfahrungen zeigen, dass eineinhalb bis zwei Tage ein angemessener Zeitansatz für solche Seminare sind. Diese sollten nicht in militärischer Umgebung stattfinden, auch wenn das kostengünstiger scheint. Die Störungen in der womöglich heimischen Kaserne sind zu vielfältig. Bei einer abends angesetzten geselligen Veranstaltung werden die Gespräche in aller Regel auf einem völlig anderen Niveau fortgesetzt: Das Reintegrationsseminar mutiert zum "Veteranentreffen", bei dem die häufigste Frage lautet: "Weißt Du noch ...?" Auch das hilft, Erlebnisse zu verarbeiten.

Stressbewältigung ist Stressprävention

Beim Stressmanagement wird zwischen Primärprävention, Sekundärprävention und Tertiärprävention unterschieden. Alle Maßnahmen dienen dem Erhalt bzw. der Wiederherstellung des Wohlbefindens und dadurch dem Erhalt und der Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft. Reintegrationsseminare sind ein Teil der Sekundärprävention, also Bestandteil des Einsatzes (wie auch die intensive Ausbildung und Vorbereitung auf den Einsatz letztlich Bestandteil des Einsatzes sind - oder sein sollten). Sie helfen, das Erlebte durch Gespräche, durch Sprechen zu verarbeiten und damit das Wohlbefinden der Rückkehrer zu fördern sowie - damit verbunden - auch ihre Bereitschaft, sich einem weiteren Einsatz zu stellen.

Verantwortung der Vorgesetzten

Das beispielhafte Verhalten des Vorgesetzten hat auch bei der Vorbereitung, der Durchsetzung und der Durchführung dieser Seminare eine große Bedeutung. Wenn Vorgesetzte so tun, als könnten sie alles ertragen, wenn sie den Gang zum Psychologen des Heerespsychologischen Dienstes (HPD) verbal und real abwerten, wenn sie gar Soldaten diskriminieren, die einer kurzzeitigen oder einer anhaltenden Belastung nicht standhalten, werden sie ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht. Denn die Verantwortung für den Menschen ist unteilbar. Deshalb sollte möglichst wenig an den Experten delegiert werden. Schon die Gruppenkommandanten sollten - als Teil der Führungsausbildung - auf das Auftreten von Stressreaktionen vorbereitet werden.

Die Kommandanten aller Ebenen müssen wissen, dass dies normale menschliche Reaktionen sind und wie man damit umgeht. Dazu könnten z. B. im Zuge der Ausbildung (ähnlich der Darstellung der körperlichen Verletzung eines Soldaten) Soldaten (als Übungseinlage) verschiedene "Stressreaktionen" zeigen. Dabei soll allerdings dem Kommandanten auch klar werden, wo seine individuellen Grenzen liegen, um dann die angebotene Hilfe des Heerespsychologischen Dienstes anzunehmen.

Einsatznachbereitungsseminare als Teil der Nachbereitung eines Einsatzes sind demnach auch Fürsorge für die Truppe (eine Kommandantenpflicht; Anm.) und eine dringend erforderliche Vorbereitung auf künftige Einsätze.

___________________________________ ___________________________________ Autor:

Oberstleutnant a. D. Arthur Matyschock (Deutschland), Jahrgang 1944. Während der aktiven Dienstzeit Zugführer (Zugskommandant; Anm.), Kompaniechef, stv. Bataillonskommandeur und Bataillonskommandeur; anschließend zehn Jahre Lehrstabsoffizier am Zentrum Innere Führung, u. a. zur Entwicklung der Reintegrationsseminare. Zahlreiche Auslandsaufenthalte, zuletzt im Kosovo und 2002 in Bosnien-Herzegowina. Gastlehrer an der Theresianischen Militärakademie.

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