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Was Europa ausmacht

Grundlagen einer europäischen Identität

Was macht Europa aus? Die Kunst? Die Kultur? Ja, auch. Aber Kunst und Kultur sind selbst Ausdruck einer bestimmten Identität und bestimmter Werthaltungen. Im Zuge der gewalttätigen Proteste gegen europäische Institutionen (im Februar 2006) aufgrund der veröffentlichten Mohammed-Karikaturen wurde vieles hinterfragt, u. a. Toleranz, Pressefreiheit und Religionsfreiheit. Diese Bereiche sind Teil der viel zitierten "europäischen Werte". Doch inwieweit ist sich Europa über seine Werte überhaupt im Klaren?

Rechtlich scheint alles klar. Die österreichische Bundesverfassung ist - ähnlich vielen anderen europäischen Verfassungen - ein eindeutiges Bekenntnis zur Demokratie, zur republikanischen Staatsform (Art. 1 B-VG) sowie zu den Grund- und Freiheitsrechten. Dieser Grundrechtskatalog geht auf die Revolution von 1848 zurück, wurde in seiner jetzigen Form 1867 Gesetz und (als Art. 149 B-VG) später Teil der Verfassung. Im Staatsgrundgesetz (StGG 1867, RGBl. 142/1867) sind unter anderem - die Gleichheit vor dem Gesetz, - der Schutz der persönlichen Freiheit, - die Unverletzlichkeit des Eigentums, - das Recht der freien Meinungsäußerung, - die Pressefreiheit sowie - die Glaubens- und Gewissensfreiheit festgelegt. (Gerade um die beiden letztgenannten Bereiche ging es beim Konflikt um die Mohammed-Karikaturen.) All diese Gesetze geben jedoch lediglich Hinweise auf die dahinter stehenden gesellschaftlichen und/oder politischen Werte, eine Auflistung derselben findet sich darin nirgends. Das liegt vielleicht auch an der Unsicherheit über diese Werte. Denn Kontroversen gab es diesbezüglich nicht nur im Österreich-Konvent, der an einer Neufassung der österreichischen Verfassung arbeitete. Bereits bei der Schaffung der - dann nicht angenommenen - Verfassung der EU war die "Wertefrage" heftig umstritten. Man hat sich schließlich auf folgende Präambel geeinigt: Die EU wollte sich eine Verfassung geben "schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben". Das sind Grundwerte, die sich in abgewandelter Form auch in Art. I-1,2 des EU-Verfassungsentwurfes wiederfinden.

Dennoch - eine solche schriftliche Fixierung scheint nicht auszureichen. Das vor gut zehn Jahren geprägte Schlagwort Jacques Delors, "Europa eine Seele geben zu müssen", ist weiterhin Anlass für zahlreiche Veranstaltungen, die sich mit den europäischen Werten und der europäischen Identität beschäftigen.

Diese Unsicherheit in Bezug auf die Werte findet sich aber nicht nur im rechtlichen Bereich. Auch im Buch des Politologen Huntington "Streit um Werte" beschreibt kein einziger Beitrag, um welche Werte "gestritten" wird. Die Annäherungen klingen - zumindest Europa betreffend - vage und zaghaft: Werte werden ausschließlich kulturell verankert, wobei die Kultur (nach Huntington) "rein subjektiv als die Gesamtheit der Werte, Einstellungen, Glaubensüberzeugungen, Orientierungen und Grundvoraussetzungen, die Menschen einer Gesellschaft prägen", verstanden wird.

Über europäische Werte wird demnach viel geschrieben und gesprochen, sie werden aber selten definiert!

Europa - Jahrtausende älter als die EU

Das Wort "Europa" entstammt der griechischen Mythologie: Europa war die Tochter des Phönizierkönigs Agenor. Als sie mit ihren Freundinnen am Strand spielte, näherte sich ihr Zeus in Gestalt eines schönen Stieres und entführte sie über das Meer nach Kreta. Soweit die Sage.

Der Name wird dabei meist vom griechischen eurus (breit) und ops (Auge oder Gesicht) abgeleitet, was nach Hederich (in seinem Gründlichen mythologischen Lexicon von 1770) "bey einem Frauenzimmer auf ein Paar schöne große Augen sein Absehn haben kann." "So fern er aber den einen Theil der Welt bedeutet", so Hederich "soll er auf die Ausbreitung des Japhets in demselben gehen." Wer aber ist Japhet? Wahrscheinlich der Titan Iapetus, nach Hederich "des Coelus (Himmel; Anm.) und der Erde Sohn, … oder auch der Erde und des Tartarus Sohn … Er heurathete … des Oceans Tochter, Asia … Man hält ihn sonst für den Japhet, des Noah Sohn, zumal da die Namen so ziemlich übereinkommen." Die griechische Mythologie verweist damit indirekt auf die biblische Urgeschichte (z. B. Genesis 2 und 10; die Genesis ist das erste Buch Moses und behandelt die Schöpfungs- und Urgeschichte). Noah begründete als Überlebender der Sintflut nach der Genesis das neue Menschengeschlecht, dessen Hauptgruppen auf seine Söhne Sem, Ham und Japhet, zurückgehen: - die Nachkommen Sems, die Semiten, im Nahen und Mittleren Osten, - die Nachkommen Hams, die ägyptischen und nordafrikanischen Stämme und - die Nachkommen Japhets im Norden und im Westen - also im heutigen Europa.

Herodot von Halikarnassos, der griechische Geschichtsschreiber aus (dem heutigen) Bodrum (Türkei), schrieb hingegen vor 2 500 Jahren: "Von Europa weiß kein Mensch, weder ob es vom Meer umflossen ist, noch wonach es benannt ist, noch wer es war, der ihm den Namen Europa gegeben hat" (Historien 4, 45).

In der Tat ist es bis heute schwierig, zu definieren, was Europa ist und was es ausmacht.

Als Europa bezeichneten die Griechen im 7. Jahrhundert v. Chr. das Festland im Norden (außerhalb) ihres Siedlungsgebietes. Für die Römer war es der gesamte Mittelmeerraum einschließlich Gallien und Teilen des heutigen Großbritannien. Zur Zeit der Völkerwanderung galt auch Germanien als Teil Europas.

All das zeigt: Europa ist weit älter als die "europäische Integration" der EU. Europa war bzw. ist aber auch wesentlich größer als das "westliche" Europa. Allerdings legte die antike Einteilung der Welt in drei Kulturkreise vermutlich bereits den Grundstein für das, was Huntington heute als "Kampf der Kulturen" bezeichnet.

Was macht Europa europäisch?

Um noch einmal auf die Unruhen im Februar aufgrund der Mohammed-Karikaturen zurückzukommen: Der österreichische Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel appellierte als EU-Ratsvorsitzender an "die Vernunft" und rief zur Mäßigung auf. Das leuchtet ein, entspringt doch "Vernunft" dem menschlichen Verstand und gehört somit gleichsam automatisch zum menschlichen Denken.

Sollte man glauben, doch dem ist nicht so! Schüssel spricht Werte an, die auch bei uns erst historisch gewachsen sind und nicht "immer schon" da waren. Die "Vernunft" ist konkret erst seit der Aufklärung die entscheidende Grundlage öffentlichen und privaten Denkens und Handelns.

Viele Denkansätze werden heute - unbewusst - vorausgesetzt, ohne sie in ihrer historischen Dimension zu verstehen. Sie werden als selbstverständlich angenommen. Doch das ist keineswegs der Fall. Selbst so grundlegende Dinge wie unser Selbstbewusstsein (im Sinne des Bewusstseins der eigenen Persönlichkeit) sind erst im Laufe der Zeit entstanden. Gerade dieses bildet aber die Basis des modernen politischen (und religiösen) Denkens. Erst die Summe dieser historisch gewachsenen Werte macht die europäische Identität aus. Dieses europäische Denken unterscheidet uns von anderen Kulturkreisen und findet seinen Ausdruck unter anderem in den so oft angesprochenen Werten.

Diese ungeschriebenen Werte der europäischen Kultur, diese Werthaltungen, stehen in keiner Verfassung. Sie bestimmen meist unser Denken, werden aber nicht reflektiert, und sie werden weitergegeben, ohne dass sie zwangsläufig in der Schule erlernt werden müssen.

Die europäischen Werte zeigen sich vor allem im Verständnis des Menschen. Aus europäischer Sicht stellt das Mensch-Sein selbst stets auch einen Wert dar. Auch andere Menschen sollen nicht gequält oder umgebracht werden.

In der Schule und durch die Medien werden ebenfalls Werte vermittelt. Die europäischen Werte werden jedoch vor allem im Umgang miteinander transportiert, also wie Vorgesetzte ihre Untergebenen behandeln, wie jemand als Untergebener behandelt wird - ob er für "voll genommen" wird, oder nur ein Rädchen in der Maschine ist. Lehrlinge lernen den Wert des Menschen primär nicht in der Berufsschule, wo sie vielleicht den berühmtesten Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant, lesen. Sie lernen die Werte in der Art, wie ihre Eltern und ihre Vorgesetzten mit ihnen umgehen. Viele junge Österreicher (und nun auch Österreicherinnen) lernen ihren politischen Stellenwert u. a. auch beim Österreichischen Bundesheer kennen.

Werte sind nicht nur eine Frage des Wissens, sondern auch des Vorlebens. Ausschließlich intellektuell vertretene Werte sind tot. Sie sind nicht einmal mehr "Werte", sondern bestenfalls noch "Wissen". Gerade für einen Verantwortungsträger ist es aber wichtig, sich dessen bewusst zu sein, was unbewusst - gleichsam zwischen den Zeilen - mit vermittelt wird.

Die Bausteine europäischen Denkens

Die schon genannte Aufklärung ist jedoch nur ein Grundbaustein europäischen Denkens. Zwei andere sind ebenso wesentlich: das Christentum und der Humanismus.

Christentum

Eine Basis dessen, was das "moderne" Europa ausmacht, ist das Christentum. Die Umsetzung der Glaubensinhalte (Gott als Schöpfer, Jesus als der Heilsbringer) hatte und hat auch soziale und ethische Konsequenzen. Schon deshalb, weil der gläubige Mensch sich (und den Mitmenschen) als Geschöpf und Ebenbild Gottes sieht. Als solches hat er nicht nur die Aufgabe der Weltgestaltung, sondern auch einen Eigenwert. Tötung, besonders Mord, wird verurteilt. Gerechtigkeit, Treue und Zufriedenheit werden als Werte des Zusammenlebens festgelegt. Jesus verkündigt den Frieden als Ideal für das Zusammenleben der Menschen, Gewaltanwendung als gleichberechtigte Handlungsmöglichkeit wird abgelehnt.

Das Gebot der Nächstenliebe umfasst auch die Sorge um den Mitmenschen, vor allem um den Schwächeren in der Gesellschaft. Jesus, nach dem höchsten Gebot gefragt, antwortet: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (Matthäus 22, 37 - 39) Aus der Gottesbeziehung (und ihrer institutionalisierten Form im Rahmen der Kirche) ergab sich ein von kirchlichen Ereignissen geprägter Jahresablauf. Jeder Sonntag ist ein kirchlicher Feiertag, ebenso wie fast alle anderen Feiertage (Ausnahmen in Österreich: der Tag der Arbeit am 1. Mai und der Nationalfeiertag am 26. Oktober).

Gerade an den Feiertagen wird aber auch deutlich, dass das Christentum eine Säkularisierung durchlaufen hat, denn nur mehr eine Minderheit sieht heute im Sonntag einen kirchlichen Feiertag. Säkularisierung bedeutet eine Abkehr vom religiösen Charakter und ein nicht mehr religiöses Verständnis. Sie betrifft auch das soziale Handeln, das heute weitgehend vom Staat wahrgenommen wird.

Dennoch sind bis heute große soziale Einrichtungen wie Caritas oder Diakonie noch immer kirchliche Einrichtungen. Das soziale Denken wurzelt zweifelsfrei im biblischen Menschenbild, das dem europäischen Menschenbild Pate stand.

Aber noch etwas anderes hat die nahezu "flächendeckende" Christianisierung Europas mit sich gebracht. Sie erfolgte (im letzten Drittel des 1. Jahrtausends n. Chr.), als das Christentum bereits seit rund 500 Jahren Staatsreligion des Imperium Romanum war, ausgerichtet an Rom, der damals wichtigsten Stadt Europas. Mit dem Christentum übernahm man somit auch römisches Denken. Dieses war beispielsweise sehr von Einheitlichkeit geprägt. Man war bestrebt, möglichst alles genau zu definieren. Grundverschiedene Sichtweisen nebeneinander waren kaum denkbar, weder im politischen noch im geistig-philosophischen Bereich.

Daraus erwuchs ein universalistisches Denken: Die Kirche wurde universal gedacht (das aus dem Griechischen stammende Wort "katholisch" bedeutet übrigens "allgemein", "weltweit vertreten"). Ähnliches galt für das im Mittelalter fortgeführte "Römische Reich", obgleich dieses mit Rom nur mehr bedingt zusammenhing. Aus dieser Denkweise heraus war und ist eine konfessionelle Differenzierung der Kirchen für breite Teile der Bevölkerung kaum nachvollziehbar; sie wird als Störung des "natürlichen" Zustandes der Ökumene empfunden.

Bis heute halten es viele Menschen nur schwer aus, verschiedene Meinungen nebeneinander stehen und jede Meinung dabei als richtig gelten zu lassen. Die Volksweisheit "Es gibt nur eine Wahrheit!" bringt das auf den Punkt, übersieht aber, dass verschiedene Menschen verschiedene Dinge verschieden sehen, verstehen und (subjektiv) erleben.

Trotz aller Differenzierungsprozesse wird bis heute "Einheit" als Wert betrachtet - gäbe es sonst den Gedanken einer "Europäischen Union"? Auch das Wort Union stammt übrigens vom lateinischen "unum" (eines). Ein latentes politisches Problem der abendländisch-europäischen Welt ist es jedenfalls, nicht zu verstehen, dass andere Kulturkreise anders denken und andere Wertgefüge haben. Denn wir sehen aufgrund des Einflusses der römischen Denkweise die europäischen Werte ("unsere Werte") als allgemeingültig und universal.

Humanismus

Die einheitliche mittelalterliche Gesellschaftsstruktur endete im Spätmittelalter. Verbunden war das mit zwei Bewegungen, dem Humanismus und der Reformation. Beide betrafen breite Gesellschaftsbereiche. Im Zuge der Reformation entstanden aus der einen mittelalterlichen Kirche verschiedene Konfessionskirchen.

Bei dem im Spätmittelalter auftretenden Humanismus ist der Name auch das Programm: Der homo, der Mensch, steht im Mittelpunkt. Individualität (die es zuvor in dieser Form nicht gab) entsteht. Der Mensch nimmt sich und den Mitmenschen erst jetzt bewusst als eigenständiges, unverwechselbares Wesen wahr.1) Religiös untermauert wird diese neue Sichtweise des Menschen durch die reformatorische Rechtfertigungslehre: Der einzelne Mensch ist persönlich von Gott angenommen, mit dem er in einer unmittelbaren Beziehung steht bzw. stehen kann. Dieses neue Selbstverständnis - verbunden mit der politischen Vernunft (als Folge der Aufklärung) - bewirkt, dass uns Europäern z. B. Selbstmordanschläge wesensfremd sind.

Das neue Selbstverständnis veränderte auch den Zugang zur eigenen Körperlichkeit. Dazu ein Beispiel: Der (vor allem aufgrund des "Götz-Zitates" bekannte) Ritter Götz von Berlichingen (1480 bis 1562) verlor im Zuge einer Kampfhandlung 1504 seine rechte Hand. In seiner Autobiographie, die er als alter Mann schrieb, geht er auch darauf ein: "Von der Zeit (der Verwundung; Anm.) an … habe ich in Landshut gelegen, und welche Schmerzen ich in der Zeit erlitten habe, kann sich wohl ein jeder denken. Es war meine Bitte zu Gott, wenn ich seiner göttlichen Gnade teilhaftig wäre, möchte er in seinem Namen mit mir dahinfahren, ich wäre doch zu einem Kriegsmann verdorben. Da fiel mir aber ein Knecht ein, von dem ich durch meinen Vater gehört hatte, … welcher auch nur eine Hand gehabt hat und im Felde dem Feinde gegenüber alle Dinge ebenso gut hat verrichten können, wie jeder andere." Während heute die größte Angst des Soldaten der Verlust von Gliedmaßen (v. a. des Geschlechtsteils) ist, geht Götz ganz anders damit um. Er verschweigt nicht seine physischen und psychischen Qualen, zeigt aber eine erstaunliche Unbetroffenheit seiner Behinderung gegenüber, die für uns heute wohl lebensverändernd wäre. Sein Interesse ist es, möglichst schnell wieder im Kampf vollwertig zu sein. "Und wahrlich kann ich nicht anderes finden noch sagen, nachdem ich fast sechzig Jahre mit einer Faust Kriege, Fehden und Händel geführt habe, als dass der allmächtige, ewige und barmherzige Gott wunderbarlich mit großer Gnade bei und mit mir in allen meinen Kriegen, Fehden und Gefahren gewesen ist." Erst mit der Individualität trat das Gewissen des Einzelnen ins Bewusstsein, auch als politisches Argument. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Protestation2) deutscher Fürsten am 2. Reichstag zu Speyer im Jahre 1529 ["… so protestiern und bezeugen wir hiemit offenlich vor Gott, unserm einigen Erschaffer, Erhalter, Erloser und Seligmachern (der … allein unser aller Herzen erforscht und erkennt, auch demnach recht richten wurde), auch fur alle Menschen und Kreaturen, daß wir fur uns, die Unsern und allermänniglichs halben in alle Handlung … wider Gott, sein heiliges Wort, unser aller Seelenheil und gut Gewissen … nit gehellen (zustimmen; Anm.) noch willigen, sondern … fur nichtig und unbundig (unverbindlich; Anm.) halten …"]: In weltlichen Dingen sei man bereit, Leib und Leben für den Kaiser einzusetzen, in Glaubensdingen komme es nicht auf Mehrheit oder Minderheit an. Ein jeder müsse für sich selber Gott Rechenschaft geben. Entscheidend sei das Gewissen.

Auf der Basis dieses neuen Menschenbildes entstanden neue Methoden der gesellschaftlichen Meinungsbildung. So waren schon in der "Goldenen Bulle" (1356) Regeln einer Adelsrepublik für das Römisch-Deutsche Reich verankert; die Reichstage hatten ausgeklügelte Abstimmungssysteme, den getroffenen Entscheidungen unterlag sogar der Kaiser. Das Römisch-Deutsche Reich, dem große Teile Europas zugehörten und das aus verschiedenen selbstständigen Staaten bestand, hatte bereits eine Art Verfassung mit Ansätzen einer demokratischen Struktur und einer ausgeprägten Verwaltung bis hin zu einem Reichsgericht als Höchstgericht - und Ansätze eines gemeinsamen Reichsheeres.

Mit dem Humanismus veränderte auch das neue Menschenverständnis die Gesellschaft: Im 16. Jahrhundert entstand die Basis des modernen Bildungssystems, das weite Teile der Gesellschaft erfasste und auch eine schulische Bildung für Mädchen vorsah. Bildung wurde zu einem Wert. Sie ermöglichte den sozialen Aufstieg und war auch mit einer besseren Wahrnehmung der Wirklichkeit verbunden.

Die Verbindung zwischen individualisierter Bildung und Universalitätsanspruch bewirkte auch einen sprunghaften Anstieg der Bedeutung der Wissenschaften. Der Humanismus führte zu einer Wissenschaftstradition, die Wissenschaft als wesentliches Mittel des Fortschritts versteht: Neues ist besser als Altes, Fortschritt ist Verbesserung. Bildung lässt den Menschen an diesem Fortschritt teilhaben und erhöht das Urteilsvermögen. Damit ist Bildung auch ein Mittel zu einem selbstständigeren, selbstbewussteren Leben.

Aufklärung

Die seit Humanismus und Reformation auf den Menschen und seinen Eigenwert angelegte Entwicklung führte schließlich zum dritten Baustein europäischer Identität, der Aufklärung. Nach dem Philosophen Immanuel Kant (1724 - 1804) ist Aufklärung der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Erst der mündige Mensch konnte zur Basis einer demokratischen Staatsordnung werden. Ohne die Mündigkeit des Einzelnen ist Demokratie sinnlos!

Die Vernunft wird (erst jetzt!) zum Maßstab der Entscheidungen. Den Begriff "ratio" für Vernunft gab es zwar schon in der Antike, und Menschen handelten auch vor der Aufklärung nicht unvernünftig, sondern sehr wohl planmäßig. "Vernunft" steht aber in diesem Zusammenhang für etwas anderes: gewissermaßen dafür, einen neutralen Standpunkt einzunehmen und von dem aus Entscheidungen zu fällen. Diese Entscheidungen sollten demnach möglichst von allen Menschen - sofern sie "vernünftig" denken - nachvollziehbar sein - und damit wieder universal. (Die modernen Wissenschaften sind demnach "vernünftig".) Nach der Naturrechtslehre der Aufklärung besitzt jeder Mensch von Natur aus - auch ohne Blick auf Gott - im gleichen Maße gleiche Naturrechte, unabhängig von seinem Geschlecht oder Alter, seiner Stellung in der Gesellschaft, der Zeit, in der, dem Ort, an dem, und der staatlichen Ordnung, innerhalb der er lebt. Diese Naturrechte sind vorstaatliche und überstaatliche Rechte und bleiben dem Wesen des Menschen ewig erhalten. Sie stehen über den vom Staat gesetzten Rechtsnormen. Erst sie bilden die Basis der "Menschenrechte". (Die christliche Theologie begründet den Wert des Menschen dadurch, dass er Geschöpf und Ebenbild Gottes ist; sie verankert also die Menschenrechte gewissermaßen auch in der Natur des Menschen.) Diese Denkweise führte zu einer weiteren Konsequenz: der Toleranz. Der Begriff kommt vom lateinischen "tolerare" - ertragen, aushalten, erdulden. Das ist im ursprünglichen Sinn des Wortes nichts Positives und bedeutet auch keineswegs Zu- oder Übereinstimmung. Die Toleranz bewirkte in weiterer Folge die - für unser heutiges Staatsdenken wichtige - Trennung von Staat und Kirche. Diese Trennung ist typisch europäisch. In der arabisch-islamischen Welt existiert sie nicht. Ziel ist dort letztendlich die Errichtung des Gottesstaates. "Gottesstaat" heißt, dass Regierungsform und Gesellschaft nach der Scharia ausgerichtet werden - so der Islam-Experte Bassam Tibi. Die Geistlichen führen das Regime, Volk und Volksvertreter sind ihnen untergeordnet.

Durch die Aufklärung zerbrach das europäische Einheitsdenken des katholischen Mittelalters von innen, Risse hatte es bereits durch Humanismus und Reformation bekommen. Niemand würde es heute verstehen, müsste zum Beispiel ein österreichischer Katholik evangelisch werden, um sich in Hamburg ansiedeln zu dürfen.

Bei der oft sehr kontrovers geführten Diskussion um die Stellung des Islam in Europa geht es - für die meisten der Diskutanten - ja auch nicht um religiöse Inhalte, sondern um damit verbundene weltanschauliche und gesellschaftliche Werte, so wie es bei den Diskussionen um das Kopftuchtragen islamischer Mädchen und Frauen auch nicht um das Kopftuch an sich geht, das ja auch von einheimischen älteren Frauen am Land noch getragen wird, sondern um die dadurch ausgedrückte Wertehaltung.

Multikonfessionalität, Multireligiosität und letztendlich auch Multinationalität sind auf jeden Fall logische Konsequenzen der Aufklärung. Mit Europa verbindet man heute eher die Vorstellung von Vielfalt und Vielgestaltigkeit als die von Einheit und Homogenität.

Das Dilemma der Werte

In der europäischen Geschichte gab es aber auch ein fatales Nebeneinander von ausformulierten Werten und gegenläufigen Taten. Die Aufklärung führte zur Französischen Revolution (1789) - und in dieser wurden "Menschenrechte" mit Füßen getreten. Die Revolution eines Volkes gegen einen absoluten Monarchen endete letztlich damit, dass "Kaiser Napoleon" ganz Europa mit Krieg überzog.

Im 19. Jahrhundert entstanden zahlreiche Ismen, die noch heute wirksam sind, darunter Industrialismus, Kapitalismus, Kolonialismus, Nationalismus, Sozialismus und Kommunismus.

Der Kapitalismus bzw. Industrialismus bewirkte eine Ökonomisierung der Politik. Er führte einerseits zu einer institutionalisierten Sozialethik (z. B. Diakonie/Caritas, Sozialgesetzgebung), andererseits aber auch zu politischen Gegenpositionen, also zu Sozialismus und Kommunismus.

Der Kolonialismus, der die Wahrnehmung Europas durch die übrige Welt nachhaltig beeinflusste, ist nicht nur ein Ergebnis des (Früh-)Industrialismus, sondern auch des universalistischen Denkens.

Der Nationalismus trug vor allem im 20. Jahrhundert fürchterliche Früchte, verbunden mit einer Umwertung bzw. Pervertierung der Werte, wie sie beispielsweise Dietrich Bonhoeffer (deutscher Theologe, 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet) 1942/43 beschrieb: "Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt. Dass das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat und des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend." Die drei genannten Bausteine europäischen Denkens - Christentum, Humanismus und Aufklärung - haben einander nicht abgelöst. Alle drei bestehen noch, allerdings nicht nebeneinander, sondern gewissermaßen ineinander. Sie haben einander gegenseitig befruchtet, aber auch beschnitten und stehen zueinander in Wechselwirkung.

Neben ihnen und sie durchdringend gibt es noch eine Vielzahl anderer Einflüsse, wie z. B. den der griechischen Wissenschaft, Kunst und Philosophie, direkt, über die römische Kultur und über die Renaissance als "Wiedergeburt der Antike". All das macht es schwierig, europäische Werte widerspruchsfrei darzustellen. Denn damit stehen auch Werte nebeneinander, die - theoretisch - nicht nebeneinander stehen könnten, z. B. Universalitätsanspruch und Toleranz. Das führt wieder zur Causa der Mohammed-Karikaturen.

Rechtsphilosophisch wird zwischen der "Freiheit zu …" und der "Freiheit von …" unterschieden. Die in der Verfassung verankerten Freiheitsrechte ermöglichen dem Menschen, Dinge zu tun, und sie schützen gleichzeitig seinen Freiraum, diese Dinge zu tun. Anders ausgedrückt: Die Freiheit des Einen endet dort, wo sie die Freiheit des Anderen einzuschränken beginnt. Das Problem ist damit aber nur beschrieben und nicht gelöst. Der Philosoph Karl Jaspers machte bereits 1946 darauf aufmerksam, dass wir in Polaritäten leben: "Europa hat zu jeder Position selbst die Gegenposition entwickelt … Dieses von Grund aus dialektische Dasein findet Europa von Anfang an in seiner Überlieferung begründet: Schon die Bibel, die Grundlage europäischen Lebens, birgt auf eine einzige Weise in sich die Polaritäten … Europa bindet aneinander, was es zugleich in die letzte Gegensätzlichkeit treibt: Welt und Transzendenz, Wissenschaft und Glaube, Weltgestaltung und Religion." Nach dem ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi ist die Geschichte Europas ohne die Geschichte des Christentums nicht zu verstehen. Der christliche Wert in der europäischen Identität weist aber auf ein Grunddilemma hin. Europa hat erkannt, dass das Christentum ein wichtiger Integrationsfaktor ist. Andererseits kann gerade das Christentum ein Hemmschuh für die weitere Integration sein. Das gilt nicht nur für die Aufnahme von Staaten mit nicht-christlicher Vergangenheit, sondern auch für eine säkulare europäische Gesellschaft, die nur mehr bedingt "christlich" ist, obwohl sie säkularisierte christliche Werte vertritt.

Diese Polarität findet sich auch in der Politik. Das Ergebnis zweier Weltkriege führte zu einer jahrzehntelangen Einzementierung einer bipolaren Weltordnung (Stichwort Machtblöcke), die erst 1989/90 ihr Ende fand. Bereits in der Zwischenkriegszeit hatte diese Polarität allerdings eine Suche nach Konfliktregulativen und die Festschreibung der Menschenrechte bewirkt. Das internationale Recht ist - trotz der beschränkten Durchsetzbarkeit - zumindest ein Versuch zur Schaffung einer gerechteren Welt. Die verlorene gemeinsame (einheitliche?!) Wertestruktur sollte damals durch den Völkerbund gefunden werden, heute durch die Vereinten Nationen.

Der europäische Integrationsprozess soll - zumindest teilweise - den Prozess, der letztlich zur politischen Blockbildung führte, rückgängig machen. Mit diesen Integrationsbestrebungen geht aber wieder eine Differenzierung Hand in Hand, wenn Staaten am Rande Europas in die EU aufgenommen werden sollen.

In der heutigen sicherheitspolitischen Situation entsteht jedoch gerade aus der Polarität - diesmal in Form des erstarkenden Fundamentalismus - wieder ein großes Gefahrenpotenzial.

Zwischen Universalismusund Partikularismus

Die schwierigste Polarität - bezogen auf das europäische Wertegefüge - liegt jedoch im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Partikularismus: Gelten unsere Werte überall, oder nur in Europa, oder gar nur für uns selbst? Die Menschenrechte haben - sowohl in ihrer religiösen als auch in ihrer naturrechtlichen Begründung - einen Universalitätsanspruch. Dennoch sind sie nicht unbeschränkt konsensfähig.

Wenn die Aufklärung z. B. die Menschenrechte naturrechtlich begründete, also zum Mensch-Sein von vornherein als dazugehörig definierte, wieso kann es dann überhaupt eine Diskussion darüber geben? Müssen/müssten dann die Menschenrechte nicht zweifelsfrei überall gelten?

Dieses Grunddilemma ist nur auf eine Art lösbar: Wir sehen unsere Werte zwar als weltweit gültig an (sonst stellen wir sie selbst in Frage), gleichzeitig müssen wir aber akzeptieren, dass andere Kulturkreise andere Werte haben. Auch wir haben erst im Laufe unserer Geschichte unsere Werte entwickelt bzw. naturgegebene Werte entdeckt - und auch wir befinden uns zweifelsfrei noch nicht am Ende der Entwicklung.

Gerade für die Auslandseinsätze des Militärs hat damit aber zu gelten, was eigentlich selbstverständlich ist: Egal, wo österreichisches bzw. europäisches Militär eingesetzt wird und welche Werte im Einsatzraum vertreten werden: das österreichische bzw. europäische Militär ist weiterhin unseren eigenen Werten verpflichtet.

Es kann damit (neben einer politischen und militärischen) eine ethische Asymmetrie entstehen. Diese Asymmetrie mag oft vom Einzelnen als ungerecht empfunden werden. Das kann aber kein Grund sein, sich nach den ethischen Normen "anderer" zu richten. Denn das würde bedeuten, unsere eigene Identität aufzugeben, um sie - scheinbar - zu erhalten. Das wäre aber Selbstzerstörung. Weil "andere" - gegen "unser" Wertegefüge - gewalttätig sind, dürfen wir uns nicht von unseren Werten entfernen und ebenso gewalttätig werden. Damit würden wir uns (und unsere Werte) selbst aufgeben!

Aber natürlich gilt auch: Es ist nicht zu dulden, dass unsere eigenen Werte missachtet werden und dadurch Menschen zu Schaden kommen.

Auf einen Blick

Alle europäischen Werte wurden historisch - im Rahmen unserer eigenen, speziellen Geschichte - entwickelt oder entdeckt. Sie sind nicht selbstverständlich, auch wenn sie für uns normal und damit die "Norm" sind. Die wichtigsten Bausteine unserer Werte sind Christentum, Humanismus und Aufklärung.

Die Werte sind auch nicht dem Menschen von vornherein einsichtig, selbst wenn wir sie heute (natur)rechtlich verankern und davon ausgehen, dass jeder Mensch von Natur aus Menschenrechte hat. Denn auch das musste ja erst entdeckt und entwickelt werden.

Das bedeutet aber auch: Werte, die uns selbstverständlich erscheinen - wie unser Menschenbild im Sinne unseres heutigen Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins - sind in anderen Kulturkreisen nicht zwingend gegeben. Am Beispiel der Menschenrechte, die nicht weltweit konsensfähig sind, wird das nur zu deutlich.

___________________________________ __________________________________ Autor: Karl-Reinhart Trauner, Dr. phil., Dr. theol., Jahrgang 1966. Einjährig-Freiwilligenausbildung 1984, danach Verwendung in verschiedenen Offiziersfunktionen; 1984 bis 1992 Studium der Geschichte und der Evangelischen Theologie in Wien und Erlangen; ab 1995 Militärseelsorger für den Seelsorgebereich Wien, seit 2003 Militärsenior (stellvertretender Militärsuperintendent); zahlreiche wissenschaftliche Publikationen auf historischem und militärethischem Gebiet.

Fragen und Anregungen bitte an den Autor über die evangelische Militärpfarre oder via E-Mail: evmilsenior@bmlv.gv.at

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