Bundesheer Bundesheer Hoheitszeichen

Bundesheer auf Twitter

"... das Grässlichste, was je ein Auge sehen kann."

Mit diesen Titelworten umschreibt Ludwig Heinrich Hußel in seiner Abhandlung "Leipzig während der Schreckenstage der Schlacht im Monat Oktober 1813 als Beytrag zur Chronik dieser Stadt" das Los der zusammengepferchten Verwundeten und deren medizinische Versorgung in den notdürftig errichteten Lazaretten im Zuge der Völkerschlacht bei Leipzig. Der Beitrag wirft einen Blick auf die Versorgung der in den Kämpfen verwundeten Soldaten und deren Behandlung in den napoleonischen Kriegen des angehenden 19. Jahrhunderts.

Bei Erdarbeiten auf dem Campus der Kasseler Universität stießen Bauarbeiter im Jänner 2008 auf zahlreiche Skelette. Insgesamt wurden die Gebeine von mindestens 119 Menschen exhumiert. Anthropologen und Historiker stellten in diesem aufsehenerregenden Fall fest, dass es sich nicht etwa um Tote aus dem Zweiten Weltkrieg, sondern um verwundete und erkrankte Soldaten der napoleonischen Armee gehandelt hatte. Zur Verteidigung Kassels gegen die Russen waren sie von König Jérôme von Westphalen 1813 in der Stadt stationiert und in einem Lazarett auf dem Gelände der heutigen Universität gestorben. Wie in Nordhessen werden auch in vielen anderen europäischen Ländern bis heute immer wieder Relikte der damaligen Kriegsereignisse geborgen. Dies wirft ein Schlaglicht auf die bis dahin nie gesehene Zahl von Opfern, die Europa in den napoleonischen Kriegen zu beklagen hatte. Neben den durch die eigentlichen Kämpfe umgekommenen oder verwundeten Soldaten starben auch viele Zivilisten durch Seuchenzüge, die ganze Landstriche entvölkerten. Die länderübergreifenden Feldzüge, die Verschiebung großer Truppenmassen bis in die Randzonen des Kontinentes, eine bis dahin kaum vorgekommene Mobilität trafen auf nur rudimentäre Kenntnisse von Hygiene, Infektionsepidemiologie und medizinischem Grundlagenwissen. Dies führte dazu, dass damals auf einen im Kampf Gefallenen drei an Krankheit Gestorbene zu beklagen waren.

Die Grande Armée Napoleons marschierte im Sommer 1812 mit Hunderttausenden Soldaten nahezu aller europäischen Nationen nach Russland. Die wenigen, die in erbarmungswürdigem Zustand aus den Eiswüsten des Ostens nach Hause zurückkehrten, hatten Typhus, Fleckfieber und Cholera im Tornister. Die zahlreich vorhandene Memoirenliteratur der napoleonischen Kriege gibt ein eindrucksvolles Zeugnis von den furchtbaren Zuständen, mit denen die Zeitgenossen in Lazaretten und Krankenlagern konfrontiert wurden. Bis heute sind solche epochalen bellizistischen Katastrophen aber immer auch Katalysatoren von Modernisierungsschüben in Technik und Medizin gewesen - so auch damals. Vornehmlich französische Ärzte vollbrachten Meisterleistungen in der Kriegschirurgie, aber auch organisatorisch bei der Einrichtung von Lazaretten und vor allem bei der erstmaligen Etablierung eines abgestuften Systems der Betreuung von Verwundeten. Väter einer solchen "medécin l’avant" waren Pierre-François Percy (1754 - 1825), der Chefchirurg und Inspekteur des französischen Sanitätsdienstes, und später Dominique-Jean Larrey (1766 - 1842), der Chefchirurg der kaiserlichen Garde. Dieser begleitete Napoleon in 25 Feldzügen, so auch nach Ägypten und Russland. Die Ideen beider dienten als Vorbild für die Verwundetenfürsorge in allen europäischen Armeen jener Zeit. Sie betraf gleichermaßen die eigenen wie auch die gegnerischen Verwundeten. Die Ärzte waren deshalb bei Freund wie Feind hochgeachtet und vielfach ausgezeichnet durch die Souveräne der beteiligten Staaten. Napoleon sagte später über Baron Larrey, er sei der "tugendhafteste Mensch gewesen, den ich gekannt habe." Das Prinzip der damaligen Verwundetenbehandlung lag darin, möglichst rasch auf dem Gefechtsfeld eine Erste Hilfe durch Stoppen von Blutungen und Anlegen von Verbänden herbeizuführen. Unter Nutzung der "fliegenden Ambulanzen", mobiler von Pferden gezogener Sanitätsfahrzeuge, wurden Verwundete danach in rückwärtige Feldlazarette transportiert. Dort warteten Chirurgengruppen. Unter operativem Vorgehen verstand man im Falle zertrümmerter Arme und Beine fast immer die Amputation. Man hatte dabei möglichst schnell zu agieren, was auch am Fehlen geeigneter Narkoseverfahren lag. Zudem drohten Unbehandelten nach wenigen Tagen Wund- und Hospitalbrände, die - erst einmal ausgebildet - zum sicheren Tode führten. Larrey bevorzugte dabei die offene Wundversorgung und setzte die zerschossenen Gliedmaßen weit im Gesunden ab. In der Winterschlacht bei Preußisch Eylau 1807 nahm er an etwa 200 Soldaten Amputationen vor und erreichte schließlich eine solche Fertigkeit in diesem Metier, dass er gewöhnlich nur um die drei Minuten für das Absetzen einer Extremität benötigte. Die Amputation an einem Verwundeten der Leipziger Völkerschlacht schilderte ein Augenzeuge: "Ein großes Zimmer lag gepfropft voll, lauter Kürassiere, denen die Arme und Beine teils weggeschossen, teils abgeschlagen waren. … Einem Offizier wurde das Bein über dem Knie abgenommen. Er saß auf einer Bank, auf welcher er auch den kranken Fuss liegen hatte, mit dem anderen stand er auf dem Boden und sah scharf zu, ohne den Mund zu verziehen. … Über der Stelle, wo das Bein oder der Arm abgenommen werden sollte, wurde es mit einem Tuche fest zugebunden, natürlich um den zu starken Zudrang des Blutes zu verhindern. Nun wurde ein Schnitt rundum bis auf den Knochen geführt, sofort das Fleisch zurückgedrängt und der Knochen durchsägt. Dann wurden mit einer Zange die Adern hervorgezogen und unterbunden, auch etliche mit einem Eisen zugebrannt, das Fleisch wurde wieder hervorgezogen und Charpie-gezupfte Leinwand … daraufgelegt." Bereits vor der großen Schlacht bei Leipzig im Oktober 1813 war die Stadt mit Verwundeten völlig überfüllt. Die Sanitätsoffiziere standen daher vor nahezu unlösbaren Aufgaben. Die Völkerschlacht ist die bei Weitem verlustreichste Schlacht der napoleonischen Kriege gewesen, die weit mehr Opfer forderte als die Schlachten um Borodino oder bei Waterloo. Etwa jeder vierte beteiligte Soldat fiel oder wurde vom 14. bis 19. Oktober verwundet, insgesamt 125 000 Menschen. In Leipzig kam es während und nach den Kämpfen zu katastrophalen Zuständen und zum Ausbruch von Seuchen. Während den Franzosen nur unzureichende medizinische Ressourcen zur Verfügung standen und Larrey zudem seine Verwundeten durch das Nadelöhr Leipzig nach Westen transportieren musste, konnte die alliierte Seite ohne Beeinträchtigung die Verwundeten bergen, behandeln und in Lazarette der Umgebung zurückführen. Besonders das österreichische Militärsanitätswesen unter der Leitung des koordinativ tätigen Stabsfeldarztes Dr. Josef Edler von Sax (1761 - 1839) hatte bei Leipzig ein hohes Niveau: Es gab ein einheitliches Transportwesen sowie einheitliche Verbandplätze. Tatsächlich mussten in städtischen Lazaretten lediglich 560 Österreicher behandelt werden, während Zehntausende Franzosen, Russen und Preußen noch nach Wochen in Leipziger Kirchen, Baracken oder Schulen hausten.2) Die Versorgung der Patienten lag nahezu ausschließlich in der Hand von Zivilärzten, der Stadtverwaltung, der russischen Militärkommandantur und der tatkräftigen Hilfe der Zivilbevölkerung.

Trotzdem war das Leid unter den Verwundeten in Leipzig unermesslich, wie zahlreiche Zeitgenossen schilderten: So berichtete der spätere Universalgelehrte Carl Gustav Carus (1789 - 1869), der in einem Vorort ein Lazarett geleitet hatte, nach der Rückkehr dorthin: "Das Wegtransportieren aller war unmöglich gewesen, aber jede Sorge für die zurückgebliebenen Kranken hatte aufgehört, und so traf ich nur noch auf wenige Lebende, aber auf hochgeschichtete Berge von herabgeschleppten, ja teilweise aus den Fenstern geworfenen Leichen."


Autor: Flottenarzt Dr. med. Volker Hartmann (Deutschland), Jahrgang 1960. Seit 1984 Marinesanitätsoffizier; fünfjährige Verwendung als Schiffsarzt auf Schnellbooten und auf dem Segelschulschiff "Gorch Fock", mehrjährige klinische Tätigkeit in einem Bundeswehrkrankenhaus, Einsatz im Schifffahrtmedizinischen Institut der Marine in Kiel, im Stab des Admiralarztes der Marine in Wilhelmshaven und im Bundesministerium der Verteidigung in Bonn. 2002 - 2009 Leiter des Sanitätsdienstes der Zerstörerflottille (jetzt Einsatzflottille 2) in Wilhelmshaven. Seit 2010 stellvertretender Kommandeur der Sanitätsakademie der Bundeswehr und Kommandeur Lehrgruppe A in München; Facharzt für Arbeitsmedizin.

Auslandseinsätze:2002 Senoir Medical Officer (SMO) bei der "Operation Enduring Freedom" am Horn von Afrika, 2005 Leiter des Marineeinsatzrettungszentrums (MERZ) an Bord des Einsatzgruppenversorgers (EGV) "Berlin" für "Humanitäre Hilfe Südostasien" vor Banda Aceh/Indonesien, 2005 Einsatz bei der Militärischen Evakuierungsoperation vor der Elfenbeinküste; 2006 - 2007 SMO des maritimen UNIFIL-Verbandes vor der Küste des Libanon, 2009 SMO des ESVP-Einsatzes "Atalanta" vor der Küste Somalias an Bord des EGV "Berlin", 2009 - 2010 Kommandeur Sanitätseinsatzverband KFOR im Kosovo. 2012 Kommandeur Sanitätseinsatzverband ISAF in Afghanistan. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen (Themenbereiche: Schifffahrtmedizin, Geschichte der Maritimen Medizin, Marinesanitätsdienst, Sanitätsdienst der Deutschen Kriegsmarine). 1995 Paul-Schürmann-Preis der Deutschen Gesellschaft für Wehrpharmazie und Wehrmedizin.

Eigentümer und Herausgeber: Bundesministerium für Landesverteidigung | Roßauer Lände 1, 1090 Wien
Impressum | Kontakt | Datenschutz | Barrierefreiheit

Hinweisgeberstelle