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Wurzeln des Islamismus

Der Islamismus strebt - kurz gesagt - eine politische Ordnung nach islamischem Recht an, der sich Muslime wie Nicht-Muslime unterzuordnen haben. Dieses Ziel wird von Islamisten in der Regel mit friedlichen Mitteln angestrebt. Ein kleiner Teil dieser sehr heterogenen Gruppe schließt jedoch auch gewaltsame Mittel nicht aus. Politisch relevant ist der Islamismus seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts; entstanden ist er allerdings bereits lange vorher.

Islamismus ist nicht gleich Islam: Alle Islamisten sind Muslime, aber nur ein geringer Teil der Muslime sind Islamisten.

Für zahlreiche Anhänger dieser politischen Strömung gelten Gamal ad-Din "Al-Afghani" und Muhammad Abduh - Vertreter einer frühen antikolonialen Bewegung im 19. Jahrhundert - als Ikonen, ebenso Hassan al-Banna und Saiyid Qutb, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts aktiv waren. Gab es in vielen islamisch dominierten Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg eine strenge Trennlinie zwischen Nationalismus und Islamismus, war dies im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch keineswegs der Fall.

Die Vordenker

Gamal ad-Din "Al-Afghani"

Gamal ad-Din lebte von 1839 bis 1897. Zur Zeit seiner Jugend erfuhr das Osmanische Reich (dazu zählten u. a. Teile des heutigen Iran, des Irak sowie Palästina) eine politische, wirtschaftliche, technische, soziale und kulturelle Verwestlichung, ebenso die Länder unter osmanischem Einfluss (z. B. Ägypten). Diese Verwestlichung beschränkte sich jedoch hauptsächlich auf die städtische Ober- und Mittelschicht und trug zum Auseinanderdriften der Weltbilder einzelner Bevölkerungsgruppen bei.

Gamal ad-Din nannte sich selbst "Al-Afghani", also "Der Afghane". Dies sollte von seiner iranischen Herkunft und seinen schiitischen Wurzeln ablenken, befand er sich doch die meiste Zeit seines Lebens in sunnitisch dominierten Gegenden.

Als politischer Berater aus Afghanistan ausgewiesen, kam er über mehrere Zwischenstationen nach Ägypten, das durch England und Frankreich politisch stark beeinflusst wurde. Dort fand der begabte Rhetoriker und politische Aktivist Anhänger für seine Ideen.

Er wollte die islamische Welt stärken, damit diese der politischen Einflussnahme der europäischen Großmächte standhalten könne. Die Muslime sollten sich verstärkt Tugenden aneignen, welche bislang die europäische Vormacht begründeten: Aktivität, Unternehmungsgeist und Rationalismus. Der Islam sollte demnach einige europäische Elemente aus den Bereichen Bildung, Militär, Technik und Politik gezielt und in begrenztem Ausmaß übernehmen und mit der traditionellen, islamischen Weltanschauung vereinen. Des Weiteren forderte Gamal ad-Din die islamischen Regierungen auf, anstatt mit europäischen Mächten stärker untereinander zu kooperieren.

Muhammad Abduh

Zu Gamal ad-Dins Anhängern zählten vorwiegend jüngere, antikolonialistisch eingestellte Intellektuelle wie Muhammad Abduh (1849 bis 1905). Bis 1882 war dieser Mitherausgeber einer halbamtlichen ägyptischen Zeitung und kritisierte die türkischen Machthaber und die europäische Einflussnahme. Er wurde von den Briten ausgewiesen, kehrte aber 1888 nach Ägypten zurück, wurde Richter und später sogar Mufti des Landes. Abduh reformierte u. a. das ägyptische Bildungswesen. Seine zentralen Ideen waren sinngemäß:

- Die Einigung der Muslime ist notwendig, denn nur sie kann die politische Einmischung von außen verhindern. Deshalb kritisierte er alle "sektiererischen Tendenzen" (Sunniten, Schiiten, verschiedene Rechtsschulen) und den Sufismus (die islamische Mystik).

- In muslimischen Ländern hat man nach den Vorschriften des Islams zu leben; dies soll die Stabilität und den Fortschritt sichern.

- Die kulturelle und soziale Kluft zwischen europäisierter, städtischer Elite und der Masse der traditionell lebenden (Land)Bevölkerung muss kleiner werden, und zwar durch einen Mittelweg zwischen der Übernahme europäischer Neuerungen und dem Festhalten am Status quo.

- Es gibt keinen Widerspruch zwischen Islam und moderner, westlicher Zivilisation, weil deren Hauptfaktoren auch im Islam zu finden sind.

Abduh sah den Westen als politischen Feind, gleichzeitig aber als kulturelle und soziale Inspiration für die eigene Gesellschaft. Er gilt wie "Al Afghani" als Vordenker der als Salafiyya bezeichneten Richtung des Islamismus.

In Algerien des frühen 20. Jahrhunderts wurde der Islam in weiten Teilen der Bevölkerung inhaltlich mit Marabutismus gleichgesetzt. (Ein Marabut ist ein heiliger Mann, der z. B. Amulette gegen den bösen Blick anfertigt oder Koranverse gegen Krankheit, Kinderlosigkeit, Eifersucht usw. auf ein Papier schreibt, das der Betroffene dann versteckt bei sich trägt. Solche Praktiken werden vom so genannten Hochislam jedoch als "unislamischer Aberglaube" abgelehnt.) Neben den Marabuts gab es noch die Ulama, die eng mit den Franzosen zusammenarbeiteten und daher in Teilen der Bevölkerung eher unbeliebt waren. 1903 kam Abduh nach Algerien und überzeugte dort einflussreiche religiöse Kreise von seinen Ideen. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich die salafistische Unabhängigkeitsideologie bei jenen Algeriern durch, die sich für die Unabhängigkeit von Frankreich engagierten. Das waren vor allem Personen aus der Mittelschicht mit einer westlichen Ausbildung (Lehrer, Ärzte, Anwälte und Journalisten).

Aufgrund ihrer westlichen Erziehung waren die algerischen Salafisten nicht nur vom Islam, sondern auch von der westlichen Philosophie, vom Sozialismus und vom Nationalismus geprägt. Diese Strömungen flossen, bewusst oder unbewusst, in das regionale salafistisch-islamistische Gedankengebäude ein. Somit wurde der Islam in dieser reformistischen Interpretation auch zum "Träger" für westliche Ideen, die sich in breiten Teilen der Bevölkerung sonst kaum so schnell durchgesetzt hätten.

Hassan al-Banna und die Muslimbrüder

In Ägypten hingegen setzte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine andere Bewegung durch: die Muslimbrüder (al-ikhwan al-muslimun), gegründet von Hassan al-Banna (1906 bis 1949). Der Ägypter Banna unterrichtete als Lehrer an einer staatlichen Grundschule in Isma’iliya am Suez-Kanal. Dort war die Abhängigkeit Ägyptens von Europa besonders stark zu spüren: In der Stadt befanden sich mehrere britische Kasernen zur Sicherung des Suez-Kanals sowie die Suez Canal Company als unübersehbares Symbol des europäischen Einflusses. Im März 1928 gründete Banna mit sechs anderen Personen die Bewegung der Muslimbrüder, die in den folgenden Jahren in und um Isma’iliya großen Einfluss gewann. Durch Spenden und Mitgliedsbeiträge entstanden Vereinshäuser, Moscheen und Schulen. Dieser Erfolg erzeugte auch Misstrauen. Banna wurde beschuldigt, Kommunist, Republikaner, Krimineller usw. zu sein. Nachforschungen des Erziehungsministeriums ergaben, dass nichts davon zutraf. Trotzdem erregten seine Tätigkeiten nun bei staatlichen Stellen größere Aufmerksamkeit.

1932 ließ sich Banna nach Kairo versetzen und gründete dort einen weiteren Zweig der Muslimbrüder. 1939 wurde in der ägyptischen Hauptstadt bei der 5. Generalkonferenz der Muslimbrüder eine grundsätzliche Definition des Islam (zitiert nach Richard P. Mitchell, The Society of the Muslim Brothers. New York, 1993) festgelegt:

- Islam as a total system, complete unto itself, and the final arbiter of life in all its categories; - an Islam formulated from and based on its two primary sources, the revelation the Qur’an and the wisdom of the Prophet in the Sunna; - an Islam applicable to all times and all places.

Der Islam ist demnach ein allumfassendes System, das keiner europäischen Ideologie und Werte bedarf. Andererseits versuchten die Muslimbrüder, der europäischen Moderne eine islamische Moderne entgegenzusetzen.

Die Muslimbrüder hatten 1946 nach Schätzungen bereits 500 000 Mitglieder und noch einmal so viele Sympathisanten, vor allem in der neu urbanisierten und alphabetisierten Mittelschicht, aber auch in der bäuerlichen Bevölkerung. An der Spitze stand Banna, dem die Mitglieder absoluten Gehorsam schuldig waren (Gefolgschaftsgelöbnis). Daneben gab es Komitees (z. B. für Bauern, Studenten, Arbeiter, Frauen, Presse, PR, Mission, Übersetzungen), Pfadfindergruppen und einen paramilitärischen "Geheimen Apparat", der unter anderem auch Anschläge verübte.

Die Muslimbrüder als Massenpartei bildeten in Ägypten bald einen Staat im Staate, der mit Hilfe seiner Teilorganisationen fast jeden sozialen Aspekt des menschlichen Lebens abdecken konnte. Die Organisation lieferte Mitgliedern und Sympathisanten Sozialleistungen, die der Staat zu dieser Zeit nicht bieten konnte. Politischen Gegnern (wie der Wafd-Partei mit dem Ziel einer an europäischen Staaten orientierten, demokratischen Verfassung), hielten die Muslimbrüder das Motto "der Koran ist unsere Verfassung" entgegen.

Nachdem 1948 ein Muslimbruder den ägyptischen Premierminister Nuqrashi Pasha erschossen hatte, wurde Banna im Februar 1949 von Mitgliedern der politischen Polizei getötet und die Organisation verboten. Zu dieser Zeit existierten - im Sinne der panislamischen Idee - bereits mehrere Zweige der Muslimbrüder außerhalb Ägyptens. Neben Zweigorganisationen in Jordanien, im Irak und im Libanon hatte vor allem der Ableger in Syrien größere politische Bedeutung.

Saiyid Qutb

Von verschiedensten islamistischen Gruppen oft gelesen und zitiert wird Saiyid Qutb (sprich: Kut; 1906 bis 1966). Dieser schloss sich 1951 nach einem Aufenthalt in den USA den Muslimbrüdern in Ägypten an. Die Haftbedingungen in den ägyptischen Gefängnissen prägten ihn - sowie eine ganze Generation islamistischer Intellektueller - und trugen dazu bei, dass sich seine Doktrinen radikalisierten. Nach der Beschuldigung, an einem Mordkomplott gegen Präsident Nasser beteiligt gewesen zu sein, wurde Qutb 1966 gehenkt.

Seine Ideen waren kompromissloser als die der meisten Muslimbrüder. Während letztere die jeweiligen Herrscher kaum direkt kritisierten, griff Qutb diese unverblümt an. Die Darstellung von "unislamischen" oder "vom Islam abgefallenen" Diktatoren, gegen die man aus religiöser Pflichterfüllung kämpfen müsse, sowie das geschickte Aufzeigen moderner Entwicklungen und Missstände - all das "verpackt" in der Terminologie des Koran - machen Qutb auch heute noch zu einem der meistgelesenen islamistischen Autoren, vor allem in extremistischen Kreisen.

Mehrere Richtungen

In den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurden viele arabische Staaten von nationalistischen, oftmals laizistisch ausgerichteten Regierungen beherrscht. Für islamistische Gruppen bestanden dort unterschiedliche Rahmenbedingungen. Ebenso unterschiedlich verlief ihre Entwicklung. Dazu einige Beispiele:

Ägypten

Ägypten erlebte, wie andere Staaten in der Region, ab den fünfziger Jahren einen starken Bevölkerungszuwachs, verbunden mit einer zunehmenden Urbanisierung. Die Regierung Nasser baute das Erziehungssystem aus und ermöglichte auch Kindern aus sozial und wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsschichten den Zugang zur Bildung. Dies half Präsident Gamal Abd el-Nasser, sich erfolgreich gegen innenpolitische Konkurrenten durchzusetzen - vor allem gegen die Muslimbrüder, die er schweren Repressionen aussetzte. Die Niederlage Ägyptens gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 und der "Schwarze September" (Niederschlagung des Palästinenseraufstandes) in Jordanien 1970 führten in nationalistisch-panarabischen Kreisen zu einer Sinnkrise und verminderten den Rückhalt der Regierung in der Bevölkerung.

Präsident Anwar as-Sadat hingegen gewährte den Muslimbrüdern relativ große Freiheiten. Er wollte die Kommunisten durch die Stärkung ihrer politischen und ideologischen Gegner schwächen. Die Muslimbrüder, die den Ruf einer eher gemäßigten Gruppe genossen, erschienen Sadat als geeignete Partner. Die Führungsschicht der Muslimbrüder hatte sich allerdings - aufgrund ihrer Erfahrungen in den Gefängnissen während der Regierungszeit Nassers - inzwischen radikalisiert. Ihre Mitglieder rekrutierten sich nun vielfach aus der arbeitslosen, in der zweiten Generation in der Stadt lebenden jugendlichen Unterschicht und aus der frommen Mittelschicht.

Diese zwei Gruppen hatten - abgesehen von der Forderung nach einer nicht genau definierten Einführung der Scharia (das islamische Gesetz, also die Gesamtheit der göttlichen Vorschriften, Empfehlungen und Verbote, welche die Beziehung der Menschen zu Gott und die Beziehung der Menschen untereinander regeln sollen; siehe TD 4/2005 "Wissen Sie wirklich etwas über den Islam?") - kaum gemeinsame Ziele. Die besitzlosen Jugendlichen forderten den Bruch mit dem herrschenden System und ließen sich häufig von den Schriften des Saiyid Qutb inspirieren. Die fromme Mittelschicht hingegen strebte eher eine Beteiligung an der Regierung an, ohne das System grundlegend ändern zu wollen.

Verschiedene islamistische Organisationen versuchten nun, Mitglieder aus beiden Gruppen zu rekrutieren und eine Sprache zu entwickeln, mit der sich möglichst viele Ägypter identifizieren konnten. Ab 1973 organisierten die Gamaat Islamiyya (Islamische Vereinigungen) Jugendlager, bei denen die Teilnehmer lernten, sich korrekt islamisch zu verhalten und Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben.

Ab den frühen siebziger Jahren versuchten islamistische Studentengruppen, ihre linken Konkurrenten von den Universitäten zu verdrängen. Sie lockten z. B. ebenfalls mit Sozial- und Dienstleistungen, welche der Staat nicht (oder nicht mehr) zur Verfügung stellte.

Die Gamaat Islamiyya, die 1977 die Studentenwahlen gewannen, boten für soziale Probleme "islamische Lösungen" an. Sie stellten z. B. private Kleinbusse zur Verfügung, welche jedoch nur Studentinnen benutzen durften, die korrekt islamisch bekleidet waren, also mit Kopftuch und langem Gewand. Diese Kleidung wurde billig (subventioniert) verkauft und hatte bald die Funktion einer Schuluniform. Die Gamaat Islamiyya setzten auch getrenntgeschlechtliche Vorlesungen auf den Universitäten durch.

1977 tauchte eine in der Bevölkerung "takfiris" genannte Gruppe auf (von takfir wa-l-higgra; sinngemäß etwa Exkommunikation und Auswanderung), die ihre politischen und ideologischen Gegner generell des Unglaubens bezichtigte. Die neue Gruppe lebte in abgeschlossenen Wohngemeinschaften streng nach der Sunna. Ihre Mitglieder kapselten sich sogar von ihren Eltern ab und wurden oft gegen deren Willen innerhalb der Gruppe verheiratet. Wer diese Auffassung vom Islam nicht teilte, galt als "ungläubig" und wurde in manchen Fällen sogar zum Tode verurteilt. Nachdem die Gruppe einen hochrangigen Politiker entführt und getötet hatte, zerschlug Sadat die Organisation und ließ den Anführer aufhängen.

Präsident Sadats Frieden mit Israel wurde von allen Seiten kritisiert, und die Muslimbrüder kündigten ihm die Zusammenarbeit auf. Daraufhin ging Sadat gegen alle islamistischen Gruppen vor. Das führte zu einer weiteren Radikalisierung der gesamten Bewegung. Auch die Gamaat Islamiyya rekrutierten ab dieser Zeit nicht mehr ausschließlich an den Universitäten, sondern vermehrt in den Vororten und Elendsvierteln, woher nun ihre radikalsten Mitglieder kamen. Diese kritisierten öffentlich den Präsidenten und bezichtigten die gemäßigten Islamisten und die Ulama der Kollaboration mit dem "gottlosen Staat".

1981, auf dem Höhepunkt seiner Unpopularität, starb Sadat bei einem Mordanschlag, ausgeführt von Personen aus dem Dunstkreis des 1977 entstandenen radikal-islamistischen Tanzim al-Djihad (wörtlich: Organisation des Djihad, fallweise auch als ägyptischer Djihad bezeichnet) und der Gamaat Islamiyya.

Sadats Nachfolger, Hosni Mubarak, ging daraufhin gnadenlos gegen die Gamaat Islamiyya, Tanzim al-Djihad und andere extremistische Organisationen vor.

Algerien

In Algerien waren die Rahmenbedingungen völlig anders: Der nationalistischen FLN (Front de Libération Nationale), die die französischen Besatzer bekämpfte, gelang es schon vor der Unabhängigkeit, den Großteil der antikolonial ausgerichteten Gruppen im Land unter sich zu vereinigen, darunter auch die Islamisten. Deren Hauptanliegen waren allerdings nicht nur die Unabhängigkeit von Frankreich und die Arabisierung der algerischen Bevölkerung, sondern auch die Förderung eines reformierten, puritanischen und an den schriftlichen Quellen orientierten Islam.

Als die FLN nach 1962 an der Macht war, gab es - anders als in Ägypten - kaum größere Kämpfe zwischen Nationalisten und Islamisten. Die FLN nahm wichtige Anliegen der Islamisten in die Verfassung auf. Seit 1963 ist deshalb der Islam Staatsreligion und der Präsident muss ein Muslim sein. Ein Religionsministerium entstand, das islamische Institute gründete, an denen religiöse Amtsträger ausgebildet wurden. Die Imame wurden Staatsbeamte, und das Ministerium organisierte die Pilgerfahrten nach Mekka. Mitglieder der Ulama-Organisation AOMA (Association des Oulemas Musulmans Algeriéns), die am Unabhängigkeitskampf beteiligt waren, erhielten führende Posten im Erziehungsapparat, in den Medien und sogar in der Armee. In den siebziger Jahren wurden im Einklang mit salafistischen Ideen sufistische Gruppen und europäische Kultureinflüsse bekämpft. 1976 wurde das Glücksspiel verboten und das islamische Wochenende (arbeitsfreier Freitag) eingeführt. Nicht an der Regierung beteiligte islamistische Gruppen halfen als "Pressure Groups" den staatlichen Ulama bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber nationalistischeren Gruppen innerhalb der Regierung; sie griffen jedoch bis in die achtziger Jahre nie zu gewaltsamen Mitteln.

Saudi-Arabien

Saudi-Arabien wurde seit seiner Gründung von einer Art Symbiose zwischen der Familie Saud und der puritanisch-islamischen Richtung der Wahhabiyya beherrscht. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte das Land durch den Export von Erdöl zu großem Reichtum. Das Geld wurde nicht nur für die Finanzierung des besonderen Lebensstils der Königsfamilie und deren Klientel verwendet, es diente auch zur Verbreitung der wahabitischen Ideen und damit als Versuch zur Erlangung einer religiösen Vormachtstellung in der islamischen Welt.

Der Namensgeber der Richtung, Muhammad bin Abd al-Wahhab, 1703 im Najd (Gebiet im Osten des heutigen Saudi-Arabien) geboren, predigte schon in jungen Jahren seine puritanische Auffassung des Islam. In Medina studierte er die Werke von Ibn Taymiyya und griff bald darauf u. a. das Christentum, den Sufismus und die Schia verbal scharf an. Er forderte die Rückbesinnung auf den Koran und die Sunna. 1746 erklärte seine Gruppe alle, die eine andere Vorstellung vom Islam hatten als sie selbst, für ungläubig und verhängte gegen sie den Djihad. Dem folgten Eroberungszüge durch ganz Arabien. Abd al-Wahhabs Werk ist eher eine nach Themen geordnete Sammlung von Hadithen (biografische Aufzeichnungen von Taten und Aussagen des Propheten Muhammad; siehe TD 4/2005 "Wissen Sie wirklich etwas über den Islam?") mit persönlichen Notizen als ein religiöses Manifest.

Im 18. Jahrhundert wurden die Saudis zu einem der wichtigsten militärischen und politischen Akteure der arabischen Halbinsel. In Übereinstimmung mit der wahabitischen Doktrin ließen sie in ihrem Einflussgebiet Heiligengräber und Pilgerstätten dem Erdboden gleichmachen und sämtliche Bücher - außer dem Koran und der Sunna - verbrennen. Als sie begannen, die Pilgerfahrten nach Mekka zu kontrollieren, griffen die Osmanen, die sich als Beschützer des Islam verstanden, militärisch ein.

Die Briten unterstützten die Saudis als potenzielle Feinde des Osmanischen Reiches ab 1865 mit Waffen und Beratern. Im Ersten Weltkrieg waren die Saudis Verbündete der Briten; das brachte ihnen nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches einen eigenen Staat ein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann ein arabischer "Kalter Krieg", in dem Ägypten und Saudi-Arabien einander als Hauptfeinde gegenüberstanden. Mit der Gründung der Muslim World League (1962) versuchte Saudi-Arabien, der ägyptischen Propaganda entgegenzuwirken und Verbündete in muslimischen und nichtmuslimischen Ländern zu gewinnen. In vielen Staaten entstanden Büros, von denen aus die wahabitische Lehre verbreitet wurde. Oft gründeten lokale Muslime einen Verein, wurden bei einem Büro der Muslim World League vorstellig und bekamen über diese Kontakt zu einem großzügigen saudischen Spender, was wiederum wichtige Loyalitäten schuf.

1969 entstand auf Initiative Saudi-Arabiens die Islamische Konferenz, der sich alle muslimischen Länder anschlossen. Finanziert wird diese Organisation von den Erdöl exportierenden Ländern, die damit auch bei Entscheidungen tonangebend sind. Als Mittel zur direkten Einflussnahme, vor allem auf ärmere islamische Staaten, gründete die Islamische Konferenz die Islamische Entwicklungsbank.

In Saudi-Arabien befindliche Gastarbeiter (darunter viele Akademiker) nahmen häufig die dort herrschenden, konservativen Sitten an und behielten diese nach der Rückkehr in ihre Heimatländer bei. Sie fühlten sich emotional stark mit Saudi-Arabien verbunden, da sie dort zu einem Wohlstand kamen, den ihnen das eigene Land verwehrt hatte.

Iran

Bereits vor dem Ersten Golf-Krieg drohte ein Ereignis die von Saudi-Arabien angestrebte Vorherrschaft innerhalb der Umma (der islamischen Gemeinschaft) zum Scheitern zu bringen: die Iranische Revolution.

1979 stürzte der aus dem französischen Exil zurückkehrende Ayatollah Khomeini den Schah Mohammed Resa Pahlewi und rief einen nach islamischen Grundsätzen regierten Staat aus. Das ermutigte weltweit islamistische Gruppen, vehementer und offener gegen ihre jeweiligen Regierungen vorzugehen. Diese sahen sich vom Enthusiasmus der Islamisten gefährdet, präsentierten sich daher verstärkt religiös und hofierten die Ulama, um von ihnen als "islamische Herrscher" legitimiert zu werden. Vor allem Saudi-Arabien, welches versuchte, weltweit möglichst viele islamische und islamistische Gruppen an sich zu binden, reagierte nervös auf die Sympathien, die den schiitischen Revolutionären aus den Reihen der sunnitischen Islamisten entgegengebracht wurden.

Der Iran und Saudi-Arabien kämpften demnach um die Vorreiterrolle in der islamischen Welt und wendeten dabei unterschiedliche Strategien an:

Der Iran versuchte, die Vormachtstellung Saudi-Arabiens zu brechen und durch die Autorität Khomeinis zu ersetzen. Schiitische Besonderheiten wurden deshalb nicht betont, und man lud junge sunnitische Islamisten in den Iran ein.

Saudi-Arabien aktivierte hingegen die Netzwerke um die Islamische Konferenz und die Muslim World League, um den Anspruch auf die eigene Vorherrschaft zu unterstreichen. Dabei stellte man die iranische Revolution als Produkt des persischen Nationalismus dar und strich deren schiitische Eigenheiten hervor.

Die Euphorie, welche die islamische Revolution im Iran bei vielen Islamisten ausgelöst hatte, flaute bald wieder ab, und sie konnte - abgesehen von der Gründung der Hizbollah im Libanon - auch nicht erfolgreich exportiert werden.

Afghanistan und Pakistan

Im Jahr 1979, also mitten im Kalten Krieg, beunruhigte den Westen nicht nur der Sturz des USA-treuen iranischen Schahs, sondern auch der Einmarsch sowjetischer Truppen in Kabul. Zur Schwächung der Sowjets in Afghanistan unterstützten nun die USA und Saudi-Arabien afghanische Widerstandsgruppen, die ideologisch oft sehr unterschiedlich ausgerichtet waren.

Für Saudi-Arabien hatte der Umschwung in Kabul aber auch positive Seiten: Für einige Jahre wurde der Zorn der Islamisten von den USA ab- und auf die Sowjetunion umgelenkt. Damit kam Saudi-Arabien als US-Verbündeter aus der Schusslinie.

Die arabischen Staaten, die mit der Sowjetunion verbündet waren, hielten sich (offiziell) aus dem Konflikt heraus. Sie wollten weder ihr Bündnis auflösen, noch sich innenpolitische Probleme mit den Islamisten schaffen.

In Afghanistan hatten anfangs weder die Kommunisten noch die Islamisten einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Die von ersteren initiierten sozialistischen Reformen stießen allerdings auf großen Widerwillen, und diese Ablehnung und Unzufriedenheit nutzten die Islamisten für sich.

Das in Westpakistan gelegene Peschawar wurde im Zuge der Auseinandersetzung in Afghanistan zum Zentrum der islamistischen Ausbildungslager und damit zum Sammelbecken von Islamisten aus Afghanistan, den arabischen Ländern, Asien und Europa. Diese Lager erhielten US-amerikanische und saudische Geld- und Waffenlieferungen; auch gab es Einkünfte aus dem Heroinhandel.

Der ideologische Hintergrund der Mujaheddin (jemand der Djihad betreibt - nicht immer jedoch mit gewaltsamen Mitteln) in Peschawar war unterschiedlich; so waren u. a. Muslimbrüder oder Mitglieder von Sufi-Bruderschaften vor Ort. Auch die sozialen Unterschiede waren enorm (Studenten aus Städten neben traditionell orientierten Gruppen aus ländlichen oder Stammesgebieten). Nach der Machtergreifung der Sowjets mussten viele Afghanen das Land verlassen; ein erheblicher Teil von ihnen lebte fortan in pakistanischen Flüchtlingslagern. Die Vertreibung und die schlechten Lebensumstände in den Lagern halfen islamistischen Gruppen, dort Fuß zu fassen. Vor allem die Deobandi-Schulen wurden von vielen Jugendlichen aus den Lagern besucht. Die Absolventen dieser Schulen bildeten später einen wichtigen Teil der Taliban (Koranschüler).

Einer der Chefideologen des afghanischen Djihad war der Muslimbruder Abdullah Azzam, ein gebürtiger Palästinenser, der ursprünglich als Universitätsprofessor für islamisches Recht in Saudi-Arabien tätig war. Sein prominentester Schüler ist Osama bin Laden. Azzam versorgte auch verschiedene Gruppen vor Ort mit Geld, das vermutlich über den kuwaitischen und saudischen Roten Halbmond (entspricht in der Region dem Roten Kreuz) ins Land floss. Er rief nicht nur zum bewaffneten Kampf in Afghanistan auf, sondern sogar zur Rückeroberung des Libanons und Andalusiens. Auch die Palästina-Frage spielt in Azzams Argumentation eine große Rolle, sie wurde von ihm gleichsam islamisiert.

Osama bin Laden vermittelte ursprünglich ebenfalls zwischen saudischen Spendern und Djihad-Gruppen vor Ort. Seine in den achtziger Jahren gegründete Al Qaida (Al Kaida) sollte eine "Basis" bilden, mit der Aufgabe, die einzelnen Organisationen zu vernetzen und zu koordinieren. Sie wurde von den großen Gruppen (Gamaat Islamiyya, ägyptischer Djihad) anfangs nicht unterstützt.

Viele junge Araber kamen freiwillig nach Peschawar, um sich dort ausbilden zu lassen. Doch nur wenige dieser Rekruten nahmen tatsächlich an Kämpfen teil. Die Lager dienten eher der Radikalisierung und Sozialisierung ihrer Teilnehmer in einem islamischen Milieu. Das Wissen der Rekruten über den Islam war sehr unterschiedlich. Deshalb wurde neben anderen Themen auch islamisches Recht gelehrt. Viele Menschen aus nordafrikanischen Staaten, aber z. B. auch aus Frankreich wurden hier ausgebildet, um dann daheim den Djihad zu führen.

Die Gruppen erhielten leichte Waffen aus Amerika, verteilt wurden diese durch offizielle pakistanische Stellen. Nicht selten verkauften korrupte Beamte diese Waffen an kriminelle Organisationen, die diese mit Opium bezahlten. Bald entstanden so hochgerüstete kriminelle Gruppen, die sich den Islam auf ihre Fahnen schrieben und sich der Kontrolle der USA und Pakistans entzogen (vgl. Kepel, Gilles, Das Schwarzbuch des Djihad, München 2002).

Nachdem die Sowjets in Afghanistan besiegt worden waren, reduzierten Spender in Saudi-Arabien, vor allem aber die USA ihre Zahlungen an die Djihad-Gruppen und stellten auch sonstige Hilfen ein. Die Gruppen fühlten sich im Stich gelassen, kündigten ihre Loyalität auf und waren folglich nicht mehr kontrollierbar. Nachdem der gemeinsame Feind - die sowjetischen Besatzer - geschlagen war, bekämpften sich die Gruppen gegenseitig. Afghanistan zerfiel in zahlreiche Einflussbereiche lokaler Machthaber, und es gelang nicht, eine pro-saudisch bzw. pro-pakistanische Regierung zu installieren.

Viele arabische Freiwillige, die gegen die Sowjets gekämpft hatten und nun zurück in ihre Herkunftsländer wollten, wurden dort als potenzielle Störenfriede abgewiesen. Trotzdem gelang es vielen, über den Jemen oder den Sudan heimzukehren und sich neu zu organisieren. Diese Afghanistan-Veteranen (auch "Arabische Afghanen" genannt), spielten in den neunziger Jahren eine große Rolle bei der Eskalation der Gewalt in Ägypten und Algerien.

Saddam Husseins Einmarsch in Kuwait (1990) wurde von den meisten islamistischen Gruppen verurteilt. Als sich jedoch die USA und Israel in die Sache einmischten und sich Saudi-Arabien auf die Seite der USA stellte, wandten sich viele ehemalige Verbündete in Afghanistan und Pakistan gegen ihre vormaligen Sponsoren. Der zur Befreiung Kuwaits geführte Zweite Golf-Krieg wurde so zum Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den USA und ihren islamistischen Verbündeten.

Auf einen Blick

Der Islamismus hat also, wie oben dargestellt, wichtige Wurzeln in der arabisch-antikolonialistischen Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Nach der (formalen) Unabhängigkeit der arabischen Staaten in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts konnten sich in diesen Staaten meist nationalistisch oder sozialistisch orientierte Regierungen erfolgreich etablieren. Heute werden diese Regierungen von der jeweiligen Bevölkerung für die zahlreichen ökonomischen und sozialen Probleme der Länder verantwortlich gemacht, und der Arabische Sozialismus gilt für viele als gescheitert. Dieses weltanschauliche Vakuum, das letzterer hinterlassen hat, wurde zu einem großen Teil von religiös gefärbten Ideologien gefüllt.

Das weltweite Erstarken des Islamismus liegt aber nicht nur in einer weltanschaulichen Krise begründet, sondern ist vielfach auch auf soziale und ökonomische Probleme zurückzuführen. So herrscht in vielen Ländern eine extrem hohe Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig niedrigem Wirtschaftswachstum und hoher Geburtenrate. In den meisten Staaten wird die Mittelschicht immer dünner, und die Menschen haben Angst vor dem ökonomischen und sozialen Abstieg. Junge Männer, die oft über eine Berufsausbildung oder einen Universitätsabschluss verfügen, bekommen keine Anstellung. Sie können es sich nicht leisten, zu heiraten und eine Familie zu gründen, und müssen weiterhin in der oft viel zu engen Wohnung der Eltern leben.

Die Schuld für diese Situation schieben Teile der Bevölkerung dann gerne auf die eigene Regierung und - nach außen - auf jene Staaten, die sie für die Unterstützung dieser Regierungen verantwortlich machen.

Wie aber kann man dem religiösen Radikalismus Einhalt gebieten? Der bloße Ruf nach Demokratie und Reformen für den Mittleren Osten wird wenig ändern. Politische Reformen müssen behutsam durchgesetzt werden und können nicht von heute auf morgen geschehen. Ohne die gleichzeitige Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme der jeweiligen Bevölkerungen werden aber auch politische Reformen nicht den erwünschten Effekt haben.

Autor: -RN-

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