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Der Zweck der bewaffneten Macht (I)

Zur Transformation der europäischen Streitkräfte im 21. Jahrhundert

Die alte Ordnung in Europa war für mindestens eine ganze Soldatengeneration prägend. Dem Zusammenbruch dieser Ordnung folgte nach einer Phase von Friedenseuphorie und einer relativen sicherheitspolitischen Orientierungslosigkeit während der 1990er Jahre eine neue Entwicklung. Die politischen Kräfte der ehemals verfeindeten Staaten gedenken sich jetzt als gemeinsames Ganzes zu formieren. Dieses Zusammenwachsen erfordert daher auch eine Neuausrichtung im sicherheitspolitischen Bereich, die das bislang mit Priorität praktizierte, nationalstaatliche Verteidigungsdenken des eigenen Territoriums ablöst.

Die Europäische Union (EU) ist als politische Vereinigung gegründet worden und wurde auch in ihrer weiteren Entwicklung immer als solche verstanden. Allerdings lag der Schwerpunkt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vor der Gründung der EU, während der Zeit des Kalten Krieges, im wirtschaftlichen Bereich, woraus manchmal der Eindruck entstehen konnte, es handle sich bei der EU weiterhin um eine reine Wirtschaftsgemeinschaft. Heute ist die Situation eine andere und Europa beginnt sich als Großmacht zu etablieren. In diesem Kontext steht nun die Frage der Sicherheit zentral im Raum des politischen Interesses.

Die EU strebt eine gesamteuropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik an, die dem Kontinent entsprechenden Schutz bieten soll. Zudem muss der aus dem Unionsgebilde erwachsenden Großmachtstellung entsprochen und das neue Gemeinwesen in die Lage versetzt werden, in letzter Konsequenz militärisch weltweit wirken zu können.

Im Dokument der Europäischen Union "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt/Europäische Sicherheitsstrategie" (Brüssel 2003, S. 14) wird dieser Aspekt der Sicherheitsstrategie der EU folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: "Wir leben in einer Welt mit neuen Gefahren, aber auch mit neuen Chancen. Die Europäische Union besitzt das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Bedrohungen wie auch zur Nutzung der Chancen zu leisten. Eine aktive und handlungsfähige Europäische Union könnte Einfluss im Weltmaßstab ausüben." Damit kommen die Streitkräfte als ein wesentlicher Faktor im sicherheitspolitischen Rahmen ins Kalkül. Sie bilden das Schwert im politischen Handeln und kommen in der Regel dann zum Einsatz, wenn sich die Argumente mit Worten erschöpft haben. Es ist nicht unwesentlich, über ein "Schwert" zu verfügen. Damit kann zwar den Menschen überall auf der Welt Leid angetan werden, aber und das bestimmt den zweischneidigen Charakter des Schwertes, es kann damit auch Gerechtigkeit und Menschlichkeit durchgesetzt werden. Schwerter sind auf der Welt zahlreich vorhanden, aber sie bleiben nur Instrumente, entscheidend für ihren Einsatz ist immer der Waffengänger - im sicherheitspolitischen Kontext ist das der Staat oder eben im gegenständlichen Fall die EU.

Dieses Sinnbild des Schwertes vermittelt einerseits Respekt von Aggressoren und weist andererseits jene Staaten, die sich von der EU Hilfe erwarten, darauf hin, dass sie diese Hilfe auch erhalten können. Ähnlich wie Westeuropa während des Kalten Krieges Hilfe suchend nach Amerika geblickt hatte, so wenden sich heute Staaten an Europa und erbitten Beistand. Als Beispiel ist die Republik Tschad zu nennen. Dort hat sich der Einsatz von EU-Truppen seit dem Jahr 2008 als friedensbringend und stabilitätsfördernd für die geschundene Bevölkerung erwiesen. Gemeinsame Streitkräfte als Instrument der europäischen Friedensinitiative erscheinen zudem als sinnstiftend und einigend für die EU.

Definitiv dokumentiert wurde dieser Wille zur Einigung in sicherheitspolitischen Angelegenheiten mit dem Vertrag von Maastricht 1992, worin noch die Westeuropäische Union (WEU) gleichzeitig als militärischer Arm der EU und gleichzeitig als europäischer Pfeiler der NATO betrachtet wurde. Die Weiterentwicklung erfolgte im Vertrag von Amsterdam 1997 mit der Hereinnahme der so genannten WEU-"Petersberg-Aufgaben". Damit erfuhren die Friedenseinsätze der EU, in Anlehnung an die UN-Agenda for Peace aus dem Jahre 1992, eine qualitative Änderung. Das bedeutet, dass neben dem Artikel V des WEU-Vertrages zur gemeinsamen Verteidigung Europas auch Aufgaben wie die Friedenssicherung im Rahmen humanitärer Rettungseinsätze, friedenserhaltende Operationen und auch Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung und Befriedung Teil des Spektrums der Streitkräfte Europas sein sollen. Der Europäische Rat von Köln beschloss 1999 zur Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) das Aufgehen der WEU in der EU. Im Vertrag von Helsinki wurden 1999 bereits konkrete militärische Ziele formuliert (Helsinki-Headline-Goals), denen 2004 die so genannten EU-Battle-Groups zur Umsetzung dieser Zielvorstellungen folgten.

Gemeinsame Streitkräfte für ein gemeinsames Europa

Der jüngste Vorstoß zur Entwicklung gemeinsamer europäischer Streitkräfte kam Ende 2008 aus dem Europäischen Parlament: Das dort vorgestellte Synchronized Armed Forces Europe (SAFE)-Projekt soll den Kern einer alle Teilstreitkräfte umfassenden Streitmacht für Europa bilden. Der Präsident des Europäischen Parlamentes, Hans-Gert Pöttering, brachte in seiner Rede vor dem Gremium der Siebten Berliner Sicherheitskonferenz (Thema: "Neue Entwicklungen und Ansätze für ein Europa der Verteidigung", Berlin, 10. November 2008) deutlich zum Ausdruck, dass zur Absicherung des Bürgers gegen eine Bedrohung von außen der europäische Nationalstaat zu klein und die globalen Institutionen zu schwach seien. Und Pöttering weiter: "Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, brauchen wir zwischen dem heutigen Zustand, von zwar teilweise interoperablen, aber noch rein national organisierten Streitkräften und dem Fernziel einer künftigen Europäischen Armee ein verbindendes Zwischenglied". SAFE würde jene Zwischenstufe darstellen, die es in diesem hochsensiblen Bereich nationaler Souveränität ermöglichen könnte, Fortschritte zur Verbesserung der europäischen militärischen Zusammenarbeit zu erzielen - dazu sollte das bereits beim Euro oder Schengen gewählte Verfahren zum Tragen kommen, so Pöttering. Es wäre also analog der Euro-Einführung und der Sicherung der Außengrenzen mit dem Schengen-Abkommen vorzugehen. Danach können sich jene Länder daran beteiligen, die ihr Staatswesen als reif genug für diese Teilnahme erachten. Von Seiten der EU-Gremien werden allerdings nur jene Länder zugelassen werden, die vorgegebene Auflagen erfüllen können und die auch bereit sind, festgelegte Kriterien zu erfüllen.

Der ESVP sind damit zwei Aufgaben zugedacht: Einerseits soll die Idee verwirklicht werden, europäische Interessen gegenüber dem Rest der Welt gemeinsam zu verfolgen (und nationalstaatliche Einzelinteressen hinten anzureihen!), andererseits soll eine gemeinsame Verteidigung entstehen, die imstande ist, direkte Angriffe auf die Union zielgerichtet abzuwehren.

Das Schwergewicht der dafür notwendigen Anstrengungen liegt nach Abschätzung und Beurteilung der Bedrohungslage derzeit auf der Verbesserung der Fähigkeiten zu Einsätzen im Umfeld der EU. Es gibt Parameter, wie z. B. die Energieversorgung, die für die hoch entwickelte Zivilisation der europäischen Staaten Anlass zur Sorge geben und nur im Rahmen einer gemeinsamen Anstrengung bewältigbar erscheinen. Darüber ist im EU-Dokument: "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt/Europäische Sicherheitsstrategie" (Brüssel 2003, S. 3.), folgendes angemerkt: "Die Energieabhängigkeit gibt Europa in besonderem Maße Anlass zur Besorgnis. Europa ist der größte Erdöl- und Erdgasimporteur der Welt. Unser derzeitiger Energieverbrauch wird zu 50 Prozent durch Einfuhren gedeckt. Im Jahr 2030 wird dieser Anteil 70 Prozent erreicht haben. Die Energieeinfuhren stammen zum größten Teil aus der Golfregion, aus Russland und aus Nordafrika." Damit ist klar, dass die EU eindeutige, vitale Eigeninteressen verfolgt und ihre Streitkräfte nicht ausschließlich für humanitäre Zwecke bereitzuhalten gedenkt. Für diese Zwecke hat die Union bereits sehr konkrete Vorgaben für ihre Mitglieder entwickelt, worin die Schwerpunkte für die Streitkräfte in Zukunft liegen werden. So heißt es dazu in der Europäischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 (EU-Dokument: "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt/Europäische Sicherheitsstrategie", Brüssel 2003, S. 7.): "Im Zeitalter der Globalisierung können ferne Bedrohungen ebenso ein Grund zur Besorgnis sein wie näher gelegene. […] Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen." Zur Abwehr dieser Bedrohungen wird allen EU-Mitgliedstaaten Solidarität abverlangt, jedoch müssen diese zunächst gefragt werden. Denn solange keine europäischen Streitkräfte aufgestellt werden können, ist die Union nur sehr begrenzt handlungsfähig. Demzufolge haben sich die einzelnen Mitgliedstaaten mit Truppenkontingenten einzubringen. Ihre bewaffnete Macht ist daher alleine schon aus Gründen der Kosteneffizienz entsprechend zu konfigurieren; ein europäisches "burden sharing" (Lastenteilung) und ein "pool building" wären gerade für jene Truppen, die für europäische Friedenseinsätze bereitgehalten werden, ein Gebot der Stunde.

Die Aufgabe der Streitkräfte, das eigene Land zu verteidigen, bleibt jedoch nach wie vor oberste Priorität und verbleibt in der Verantwortung der Nationalstaaten - es hat sich allerdings die Ausrichtung geändert: Während der Zeit des Kalten Krieges galten die Vorbereitungsmaßnahmen dem hauptsächlich auf das eigene Territorium beschränkten Verteidigungskampf, der in der Regel reaktiv geführt werden sollte, also nach einem erfolgten feindlichen Angriff. Zudem war ein jeweils klar definierter Feind vorhanden, der mehr oder weniger ebenbürtig dem anderen gegenüberstand. Diese große konventionelle Bedrohung ist derzeit nicht mehr erkennbar, dafür aber haben die subkonventionellen Bedrohungen neue Dimensionen erfahren und in ihrer Intensität zugenommen. In diesem Zusammenhang formuliert der deutsche Staat die hinkünftigen Aufgaben für seine bewaffnete Macht gemäß Bundesministerium der Verteidigung (Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Köln 2006, S. 72): "Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus sind auf absehbare Zeit ihre (der Bundeswehr, Anm.) wahrscheinlicheren Aufgaben." Der Feind ist vom grellen Sonnenlicht in den Schatten getreten und daher nicht mehr sofort sichtbar, seine Ziele sind nicht mehr so klar feststellbar. Auch die saubere Trennung von Bedrohungsszenarien in rein militärische und andere ist in ihrer klassischen Form nicht mehr möglich, da subkonventionelle Kriegsführung bzw. deren Entgegnung einer intensiven Vernetzung aller Sicherheitskräfte bedarf. "Im Gegensatz zu der massiv erkennbaren Bedrohung zur Zeit des Kalten Krieges ist keine der neuen Bedrohungen rein militärischer Natur und kann auch nicht mit rein militärischen Mitteln bewältigt werden." (EU-Dokument: "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt/Europäische Sicherheitsstrategie", Brüssel 2003, S. 7.) Vor allem in diesem Zusammenhang müssen von allen beteiligten Staaten, insbesondere aber von deren Streitkräften, Anpassungen an die neuen Gegebenheiten verlangt werden.

Demzufolge kommt es darauf an, sich auf den heutigen Gegner einzustellen und neue präventive Maßnahmen zur Kriegsverhinderung zu entwickeln. Die auf den letzten Stand der Technik gebrachte klassische Verteidigungsmaschinerie erzielt, in diesem neuen Umfeld subkonventioneller Bedrohungen, nicht mehr ihre Abschreckungswirkung. Es müssen also Instrumente geformt bzw. bereitgehalten werden, die rasch und hochmobil jegliche Bedrohung im engeren und weiteren Umfeld der Union zielgerichtet auszuschalten oder zumindest einzudämmen vermögen. Kriegsverhinderung lässt sich jedoch nicht ausschließlich durch militärische Operationen mit Kriegscharakter betreiben, sondern bedarf auch einer vorausschauenden Eindämmung krisenhafter Entwicklungen im Umfeld der Union und entsprechender Hilfsmaßnahmen nach kriegerischen Ereignissen, um die Herausbildung einer möglichen Bedrohung bereits in seiner Entstehung zu unterlaufen.

Schwert und Schild

Für diese Zwecke sind Truppen notwendig, die innerhalb kürzester Zeit in Krisengebiete verlegbar sind. Diese Truppen zählen zu den stehenden Streitkräften und müssen auf die jeweils zu erwartenden Einsatzfälle ausgerichtet sein.

"Deutschland benötigt dafür Streitkräfte, die im gesamten Aufgabenspektrum verwendbar sind. Sie müssen für die wahrscheinlicheren Einsätze rasch verfügbar und auf Einsätze höchster Intensität vorbereitet sein." (Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Köln 2006, S. 112.) Dabei stehen, wie bereits erwähnt, die Einsätze außerhalb des Unionsgebietes im Vordergrund, und daher bedarf es auch einer entsprechenden Ausrüstung dieser Truppen mit geeignetem Fluggerät und Schiffsmaterial (strategische Verlegekapazität). Zudem muss die Situation im Einsatzgebiet vorab aufgeklärt sein, um die Truppe vor Überraschungen zu schützen (Bedarf an strategischer Aufklärungskapazität). Die Verbände müssen, unter einem Kommando eingespielt, agieren können. Dafür benötigt man entsprechende Vorbereitungszeiten. Dies sind die großen Herausforderungen, die den europäischen Streitkräften bevorstehen und auf die sie sich nationalstaatlich abzustimmen haben, bis sie sich dazu entschließen, diese bewaffneten Teile auf die supranationale Ebene der EU zu verlagern, und damit ein effizientes System bewaffneter Macht im EU-Rahmen ermöglichen.

Diese Truppen, die für den unmittelbaren Einsatzfall bereitgehalten werden, bilden gewissermaßen das "Schwert", das die bewaffnete Macht der Politik anbietet. Es ermöglicht eine rasche Reaktionsfähigkeit auf unmittelbare Eventualitäten, die des Einsatzes militärischer Kapazitäten bedürfen. Denn, und das sollte nicht vergessen werden, diese Truppen sind das erste Bollwerk, das einem Feind beim Angriff gegen EU-Territorium entgegengestellt werden kann. Auch wenn diese Bedrohung heute in den Hintergrund getreten ist, darf dieser Aspekt nicht verloren gehen, denn die sicherheitspolitische Situation kann sich sehr rasch ändern, wie dies beispielsweise das Aufwachsen der militärischen Macht Deutschlands nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 gezeigt hat. Damals hatten die europäischen Staaten viel zu spät reagiert und wurden trotz Bündnissen und teilweise guter Bewaffnung geschlagen - ein Fehler, der künftig vermieden werden sollte. (Vergleiche Etschmann, in: Österreichische Militärische Zeitschrift 4/2008, S. 426 bis 429).

Die nun im Rahmen von Helsinki-Headline Goal und EU-Battle-Group aufgestellten Kräfte, die in Hinkunft die stehenden Streitkräfte, also die Bereitschaftstruppe, auf europäischer Ebene bilden könnten und die in den einzelnen Nationalstaaten derzeit noch - in Hinkunft möglicherweise zahlenmäßig stark verringert - bereitgehaltenen stehenden Verbände sind jedoch insgesamt klein an der Zahl und einem konventionellen Gegner, der es wagt, europäisches Territorium anzugreifen, unterlegen. Nicht nur die Zahl ist hier ausschlaggebend, sondern auch das Material, da diese Bereit-schaftstruppen in der Regel nicht über schweres Verteidigungsgerät verfügen, wie beispielsweise weit reichende Fliegerabwehr, große Panzerverbände und Sperrtruppen. Sie können, wie bereits erwähnt, nur das erste Bollwerk bilden, um den Reserven Zeit zu verschaffen, im Rahmen der Mobilmachung aufzuwachsen. Die Streitkräftereserven bilden im Rahmen der Verteidigung gewissermaßen den "Schild". Sie sind jenes Rückgrad der Landesverteidigung, das auch die entsprechende Abschreckungswirkung für einen konventionellen Gegner erzielen kann. Ihre Aufgabe ist es, sich in Friedenszeiten durch militärische Übungen auf einen möglichen Einsatzfall vorzubereiten. Dieser kann eintreten, wenn die stehenden Streitkräfte im Rahmen ihres Engagements im Ausland Unterstützung benötigen, innerhalb der EU eine Bedrohung auftritt, die mit Polizeikräften nicht mehr bewerkstelligbar ist, Katastrophen den Einsatz von Streitkräften zu Hilfeleistung erzwingen oder für Europa der Verteidigungsfall eintritt.

Für eine effiziente Verteidigung des Gemeinwesens sind beide Komponenten - Schwert und Schild - unverzichtbar. Ein kleines stehendes Streitkräfteäquivalent ist den umfangreichen Aufgaben im Rahmen des Spektrums der sicherheitspolitischen Herausforderungen zahlenmäßig nicht gewachsen, auch wenn im Rahmen von Auslandseinsätzen und auch zur Bewältigung von Inlandsaufgaben eine enge Ver-netzung mit anderen staatlichen oder nicht-staatlichen Sicherheitsstellen und Hilfsdiensten angestrengt wird, wie dies für die zukünftige Ausrichtung z. B. der Deutschen Bundeswehr gilt: "Die künftige Rolle von Streitkräften wird maßgeblich davon geprägt, dass mit Blick auf das veränderte internationale Umfeld ein wirksamer Schutz des Landes und seiner Menschen nur mit einer gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge durch eine vernetzte Sicherheitspolitik gewährleistet werden kann." (Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Köln 2006, S. 169).

Diese für solche Zwecke bereitgehaltenen Verbände dienen als Krisenfeuerwehr und sind immer klein an der Zahl, denn kein Gemeinwesen kann es sich leisten, in Friedenszeiten ein stehendes Heer großen Umfanges über einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Zur Verstärkung dienen die Reserven. Nur sie ermöglichen bei allen Einsätzen Durchhaltefähigkeit. Das gilt sowohl für eine Großmacht wie die USA, als auch für kleine Länder wie Österreich, das seine Auslands- und Inlandsaufgaben ohne entsprechend hohen Milizanteil nicht bewerkstelligen könnte. Im Jahr 2007 beispielsweise lag der Milizanteil im Durchschnitt für alle ins Ausland entsendeten österreichischen Kontingente bei 57 Prozent.

Demzufolge muss dasselbe auch für das Gemeinwesen der EU Gültigkeit haben, wobei hier das Schwert im Idealfall auf EU-Ebene zu organisieren wäre und der Schild in nationalstaatlicher oder regionaler Hand verbleiben sollte. Gerade für die EU als Konglomerat verschiedener Völker, die alle eigenständig aufgewachsen sind, ist diese Art der föderalen Heimatverteidigung in den Grundzügen bereits seit ihrem Bestehen angelegt und ein Zusammenwirken leichter steuerbar, als die zentrale Koordinierung des gesamten EU-Raumes.

Der Aufbau dieser Reserven kann grundsätzlich auf unterschiedliche Weise erfolgen und zwar durch eine:

Freiwilligenmiliz:

Die USA gehen in diesem Zusammenhang nach dem Freiwilligkeitsprinzip vor und bauen ihre, in den jeweiligen Bundesstaaten organisierte Nationalgarde ausschließlich aus Freiwilligen auf. Um diese Freiwilligen allerdings zu bekommen, sind enorme finanzielle Aufwendungen und andere Bonitäten notwendig; sie bilden daher die Zwischenstufe der Streitkräfteaufbietung, mit der sich die meisten Einsatzfälle abdecken lassen. Sollte es zu einer Gesamtverteidigung unter Aufbietung aller möglichen Kräfte kommen, bildet die Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht die dritte Stufe des Aufwachsens - die Allgemeine Wehrpflicht ist in den USA nur ausgesetzt und nicht abgeschafft und kann daher jederzeit wieder ausgerufen werden.

Selektive Wehrpflicht:

Eine weitere Möglichkeit bietet das System der selektiven Wehrpflicht, das als Zwischenstufe eingezogen werden kann. Das bedeutet, dass jede Region oder jedes Land eine bestimmte Anzahl an Reserveverbänden aufzustellen hat. Die Truppen hiefür werden im jeweiligen Raum ausgehoben. So könnte beispielsweise verfügt werden, dass jede Gemeinde ab einer bestimmten Einwohnerzahl eine Kompanie oder ein Bataillon aufzustellen hat. Eine derartige Struktur gab es beispielsweise in der Tiroler Landesverteidigung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Eine andere Möglichkeit wäre jeweils ein Familienmitglied zum Militärdienst zu verpflichten, wie dies beispielsweise in der Römischen Republik vor Cäsar üblich gewesen ist. Der Vorteil dieser Methode liegt in der exakten Bedarfsorientiertheit, die bis hin zur Gesamtaufbietung beliebig erweiterbar ist. Beide Varianten können mit einer Grundausbildung und anschließenden Wehrübungen als ein effizientes System angesehen werden.

Allgemeine Wehrpflicht:

Die flächendeckende Variante der allgemeinen Wehrpflicht überspringt diese Zwischenstufe und schafft a priori genügend Reserven, um für einen Verteidigungsfall aufwuchsfähig zu sein. Es stellt sich hier allerdings ebenfalls die Frage, ob der Wehrdienst auf einmal oder mit nachfolgenden militärischen Übungen im Sinne eines Milizsystems abgeleistet werden soll. Ersteres bedingt die Notwendigkeit zur Schulung der mobilgemachten Reserven für einen Einsatz, da der Wehrdienst in der Regel geraume Zeit zurückliegt und die Verbände für ihre Einsatzaufgaben nicht eingespielt sind. Dies wird durch das Milizsystem vorausschauend unterlaufen, da die regelmäßigen Wehrübungen die Abstimmung der Reserveverbände auf bestimmte Einsatzszenarien ermöglichen.

Für das Herrschaftssystem der Demokratie kommt allerdings noch ein Faktor hinzu, der gerade die europäischen Staaten dazu veranlassen sollte, das System der Allgemeinen Wehrpflicht niemals aufzugeben. In der Demokratie ist der Bürger, also jeder einzelne, gefordert, Politik zu machen bzw. diese mitzubestimmen. Er nimmt diese Verpflichtung in der Regel über das Wahlrecht wahr und gestaltet so sein Gemeinwesen mit. Zudem ist er aber auch für "seine" Politik verantwortlich und muss die Möglichkeit haben, sie verteidigen zu können, im Normalfall über Institutionen, im äußersten Fall mit der Waffe in der Hand. Dies kommt vor allem dann zum Tragen, wenn sein Gemeinwesen gefährdet zu sein scheint - und dafür sollte der Bürger gerüstet sein. In der Demokratie hat der Bürger also das Recht, im Militärhandwerk ausgebildet zu werden, um seine Politik verteidigen zu können - Wehren ist daher ein Bürgerrecht! Im Rahmen der Allgemeinen Wehrpflicht, die übrigens auch für Frauen gelten sollte, wie dies in Israel richtigerweise praktiziert wird, wird jedem Bürger dieses Recht zugestanden. Das Aufgeben der Wehrpflicht ist daher demokratiepolitisch zumindest bedenklich.

Fazit: Die Notwendigkeit zur Anpassung an die neuen sicherheitspolitischen Gegebenheiten bleibt auch mit der Beibehaltung des Systems der Allgemeinen Wehrpflicht nicht erspart.

(wird fortgesetzt)


Autor: Oberst des Generalstabsdienstes MMag. Dr. Andreas W. Stupka, Jahrgang 1963, ausgemustert 1987 Waffengattung Fliegerabwehr ,, Studium der militärischen Wissenschaften an der Landesverteidigungsakadmie und an der Universität Wien (Ausbildung zum Generalstabsoffizier), ausgemustert 1997. Zahlreiche Kurse und Lehrgänge auf taktischer und operativer Ebene im Rahmen der NATO-PfP, UN-Force-Commanders-Course (strat. Ebene) im April 2005 in Abuja, Nigeria. Seminar Internationale Höhere Führung (strat. Ebene) im September, Oktober 2007 an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, Deutschland. Studium der Politikwissenschaften und Philosophie, Doktoratsstudium (nebenberuflich) an der Universität Wien, Promotion zum Doktor der Philosophie 2002. Journalistenausbildung an der Medienakademie in Salzburg.

Militärische Verwendungen: Zugs-, Kompanie- und Stabskompaniekommandant; Lehrer für Taktik und Sicherheitspolitik an der Landesverteidigungsakademie, Kommandant von Stabs- und Führungslehrgängen; Sekretär im Rahmen der Expertenkommission des BMLV zur Überprüfung der Einführung eines Freiwilligensystems im Bundesheer; Chefredakteur der Österreichischen Militärischen Zeitschrift; Kommandant des Panzerartilleriebataillons 9 (einjährige Truppenverwendung); Chef des Stabes der United Nations Disengagement Obeserver Force/UNDOF in Syrien/Israel (einjähriger Auslandseinsatz); derzeit Leiter des Instituts für Human- und Sozialwissenschaften an der Landesverteidigungsakademie Wien.

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