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20 Jahre Deutsche Einheit

Die achtziger Jahre waren, rückwirkend betrachtet, ein Jahrzehnt voller Widersprüche und ihr Ende eine Epochenwende, die man bereits 1990 mit der Bedeutung des Wiener Kongresses von 1815 für die Neuordnung Europas verglichen hatte.

Die Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hatte sich in Etappen nach dem gescheiterten Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und dem Mauerbau von 1961 mit der Situation weitgehend abgefunden. Anpassung und/oder Resignation führten zum Glück im Privaten und zum Bekenntnis zum sozialistischen Staat DDR. Als richtig galt im Zweifelsfall, was der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nützte. Die Weltpolitik und die Teilung Europas in ein Osteuropa und ein Westeuropa ließen zudem die Wiedervereinigung völlig unrealistisch erscheinen. Mit dem neuen Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED, Erich Honecker, hatte ein Modernisierungsschub eingesetzt, aber trotz Wohnungsbau und sozialistischer Freizeitgesellschaft prägte der Ausbau des überdimensionierten Sicherheitsapparates die SED-Herrschaft.

Die Menschen in Westdeutschland hatten sich dagegen scheinbar mit der Situation der Teilung Deutschlands abgefunden. Man war sich der militärischen Bedrohung an der Nahtstelle zweier Militärblöcke im Westen durchaus bewusst und schätzte daher die Erfolge einer sich langsam abzeichnenden Entspannungspolitik umso mehr. Dazu gesellte sich allgemeine Kritik am Militär infolge der 68er-Bewegung und der Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg. Die Präambel des westdeutschen Grundgesetzes hielt zwar immer noch die Vollendung der staatlichen Einheit als nationale Aufgabe fest, im Alltag der Bundesrepublik spielte diese Frage jedoch keine so große Rolle mehr. Aktuell blieb die Frage der "menschlichen Erleichterungen", die als Ergebnis der Ostpolitik vor allem die privaten Kontakte zwischen West und Ost nicht abreißen ließ.

Nur für die DDR war ideologisch keineswegs die Entspannung eingetreten. Das Feindbild des "Imperialismus" mit der Bundesrepublik als stärkstem Verbündeten der USA in Westeuropa beherrschte die Ausbildung der Jugend in der so genannten Sozialistischen Wehrerziehung. Mit der Einführung als Pflichtfach regte sich jedoch vereinzelter Protest, der mit Unterstützung der evangelischen Kirche in die öffentliche Diskussion gebracht werden konnte. Paradoxerweise war in der DDR mit dem Verteidigungsgesetz von 1978, gerade auf dem vermeintlichen Höhepunkt der Entspannung, auch der Höhepunkt der Militarisierung erreicht worden.

Zu diesem Zeitpunkt war die DDR längst von der Wirtschaft des Westens abhängig. Der innerdeutsche Handel genoss dabei in der Europäischen Gemeinschaft einen besonderen Status. Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und vor allem fehlende Produktivität blieben jedoch systemimmanent. Die DDR hatte sich zudem mit dem 1971 beschlossenen Programm der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" selbst auf den ruinösen Weg zur "Fürsorgediktatur" begeben. Nur mit Devisen aus dem Westen konnte die marode Planwirtschaft weitergeführt werden. Dafür nahm man sogar in Kauf, inhaftierte Republikflüchtlinge und Regimekritiker von der Bundesrepublik gegen Rohstoffe "freikaufen" zu lassen.

Dieser unwürdige "Menschenhandel" war jedoch nur eine Marginalie im Vergleich zum "Grenzregime" an der innerdeutschen Grenze. Allein an der Berliner Mauer starben zwischen 1961 und 1990 insgesamt 138 Menschen, darunter auch acht Grenzsoldaten und acht Kinder unter 16 Jahren. Der letzte "Mauertote" war am 5. Februar 1989 der zwanzigjährige Chris Gueffroy, der beim Versuch die Berliner Mauer zu überwinden, durch einen Schuss ins Herz getötet wurde.

Der "Zweite Kalte Krieg"

Am Beginn des letzten Jahrzehnts der politischen Konfrontation zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO stand der sogenannte "Zweite Kalte Krieg". Nach Jahren der Entspannung mit ersten Erfolgen in Verhandlungen der USA mit der Sowjetunion bei strategischen Atomraketen (SALT) und der wegweisenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) kühlte sich das politische Klima 1979 merklich ab. Die Gefahr eines Weltkrieges schien wieder wahrscheinlich. In den neutralen europäischen Staaten Österreich, der Schweiz und Schweden versuchten die beiden Supermächte jedoch im Gespräch zu bleiben. Die Ergebnisse der sicherheitspolitischen Verhandlungen in Wien, Genf und Stockholm bildeten zusammen mit dem Erfolg der KSZE eine Basis der heutigen Sicherheitsarchitektur in Europa.

Prägend für die Zeit an der Wende zu den Achtziger Jahren wirkten jedoch die militärische Intervention der Sowjetunion in Afghanistan zur Stützung eines kommunistischen Marionettenregimes und die Auseinandersetzung in Polen zwischen dem kommunistischen Apparat und der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc. Dazu kam der politische Streit um den NATO-Doppelbeschluss von 1979. Die Sowjetunion sollte nach dem Willen der NATO die Aufstellung von SS-20-Mittelstreckenraketen rückgängig machen. Da Moskau nicht einlenkte, erfolgte mit der Stationierung von "Pershing"-2-Raketen und Marschflugkörpern ab 1983 eine im Doppelbeschluss angedrohte Gegenreaktion.

Innenpolitisch hatte der NATO-Doppelbeschluss in der Bundesrepublik jedoch die Meinungen gespalten. Gerade angesichts des Vorgehens, mit Aufrüstung und dem Zeigen von Stärke zur Abrüstung beizutragen, wurde vehement in der Öffentlichkeit gestritten. Die "unabhängige Friedensbewegung" der DDR hatte mit dem Teilzitat aus der Bibel "Schwerter zu Pflugscharen …" ein Motto, das sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR gegen Militarisierung und Rüstung genutzt wurde. Nur ein Teil des Protestes im Westen war dabei von der DDR-Staatssicherheit gesteuert worden, größtenteils speiste sich die Kritik aus der Anti-Atomkraft-Bewegung und umweltökologischen Gruppierungen, deren sichtbarste Ausprägung die Gründung einer neuen Partei "Die Grünen" war.

Mit Ronald Reagan zog 1981 ein U.S.-Präsident in das Weiße Haus ein, der als erklärter Antikommunist für eine Politik der Stärke eintrat. Seine Rüstungspläne und vor allem die visionäre Idee einer "Strategischen Verteidigungsinitiative", eines Raketenabwehrschirms im Weltraum, provozierte die Sowjetunion, die inzwischen erkennen musste, dass sie technologisch und wirtschaftlich nicht in der Lage sein würde, mit dem Westen gleich zu ziehen. Doch es sollte nicht mehr lange dauern, bis ein sowjetischer Generalsekretär der KPdSU ein völlig neues politisches Konzept als Lösung anbieten sollte. Bis dahin symbolisierten die politischen Hardliner Juri Andropow und sein Nachfolger Konstantin Tschernenko, die bereits krank und altersschwach waren, die Sowjetunion als Riesen auf tönernen Füßen, als einen durch und durch maroden Staat mit Atomwaffen. Beide sowjetischen Führer starben kurz hintereinander und dies ermöglichte dem westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am Rande der Begräbnisfeierlichkeiten in Moskau zu sprechen. Das Wort von der "Beerdigungsdiplomatie" machte die Runde. Die DDR wollte nämlich im Gegensatz zur sowjetischen Führung die Kontakte zum Westen nicht abreißen lassen.

Die "Koalition der Vernunft"

Die wirtschaftlichen Abhängigkeiten und die Erkenntnis, in einem Krieg auf dem atomaren Schlachtfeld vernichtet zu werden, führten bei Erich Honecker zu der Einsicht, den deutsch-deutschen Sonderweg der politischen Beziehungen fortzusetzen. Auch Helmut Kohl knüpfte quasi nahtlos an die Ostpolitik der sozialliberalen Regierung der BRD an. Die "Koalition der Vernunft" war geboren, und ihr kleinster gemeinsamer Nenner wurde die Feststellung, dass vom deutschen Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Dies änderte jedoch nichts an den Anstrengungen der NATO und des Warschauer Paktes, die militärische Einsatzbereitschaft zu erhöhen. Die Doktrin der "Flexiblen Antwort" der NATO ging von einem konventionellen Krieg zur Abwehr eines Angriffs des Warschauer Paktes aus, der jederzeit von der NATO zum atomaren Verteidigungskampf gemacht werden konnte. Der konventionellen Übermacht des Ostens sah man sich ohne Atomwaffen nicht gewachsen. Die Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen sollte es dabei dem Angreifer erschweren, einen möglichen Krieg "berechenbar" zu machen. Die Sowjetunion verzichtete dagegen öffentlich auf den Ersteinsatz, was ihr aus Sicht der NATO aufgrund ihrer konventionellen Überlegenheit auch leicht fallen konnte. Gleichzeitig sollte von Seiten des Warschauer Paktes bis zur Einführung der Verteidigungsdoktrin von 1987 jeder Krieg so schnell wie möglich auf das Territorium des Feindes getragen werden. Demnach wollte man in einer Woche den Rhein erreicht haben. Nach drei Tagen Konflikt rechnete man bereits mit Atomschlägen der NATO. Und danach hätte die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR vermutlich nicht mehr existiert.

Die Bundeswehr und die NVA konnten als Teil der jeweiligen Bündnisverteidigung auch in den achtziger Jahren weiter aufrüsten. Die Kostenentwicklung bei Bewaffnung und Ausrüstung sowie die demografische Entwicklung zeigten dabei bereits beiden Staaten - graduell jedoch unterschiedlich - die Grenzen einer weiteren Entwicklung auf. Der Gesprächsfaden der Bundesrepublik zur DDR war während dieser Zeit weltpolitisch unbedeutend und es ging mit der DDR-Wirtschaft stetig bergab.

Einen zunächst rettenden Milliardenkredit hatte Honecker von der Bundesrepublik nur unter Zusicherung des Abbaus der "Selbstschussanlagen" an der Grenze erhalten. Die Sowjetunion bevorzugte eher den direkten Kontakt zur Bundesregierung und untersagte dagegen lange Zeit Honecker den "Staatsbesuch" in Bonn. Erst 1987 wagte Honecker auch ohne ausdrückliche Genehmigung aus Moskau die Reise zu Kohl. Die DDR stand nun scheinbar auf einer Stufe, gleichberechtigt als souveräner Staat neben der Bundesrepublik. Diese gab jedoch den Anspruch nicht auf, für alle Deutschen zu sprechen. Und den DDR-Bürgern wurden die Hoffnungen auf weitere Erleichterungen nicht erfüllt.

"Perestroika" und neue Entspannung

Der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow wollte die Umgestaltung der bisherigen Verhältnisse in seinem Land. Seine "Perestroika"-Politik stand für eine Modernisierung des Sozialismus und vor allem für eine Gesundung der Wirtschaft. Letzteres konnte nur durch die Senkung der enormen Ausgaben für die Rüstung gelingen. Die neue Phase der Entspannungspolitik war vor allem ökonomisch ein Gebot der Stunde. Infolge der KSZE sprach Gorbatschow vom "Haus Europa" und umriss damit eine mögliche Ordnung nach der Blockkonfrontation. Das so genannte "Neue Denken" im Bereich der Sicherheitspolitik führte dabei nicht nur zur Annäherung an die USA in Fragen der Rüstungsbegrenzung, sondern auch zu einer neuen Militärdoktrin, die 1987 in Ost-Berlin auf einer Tagung des Warschauer Paktes unter deutlicher Betonung ihres Verteidigungscharakters präsentiert wurde. Nun zeigte sich in der DDR, dass der hohe Grad der Militarisierung, der vor allem der Machterhaltung der SED diente, nicht mehr zur Politik des Bündnisses passte.

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 führte damals in vielerlei Hinsicht zu einem Wendepunkt. Dies galt nicht nur für die Folgen eines möglichen Atomkrieges und die Risiken aus der friedlichen Nutzung von Kernkraft. In der Not konnte man auch die Bedeutung der "europäischen Schicksalsgemeinschaft" erkennen. Im Ostblock zeigten die verfehlte Informationspolitik und das mangelhafte Krisenmanagement die Unfähigkeit der kommunistischen Parteien in zentralen Fragen staatlichen Handelns. Besonders wurde dies in der DDR offenbar, wo die Bürger allabendlich die Fernsehnachrichten der Bundesrepublik und der DDR vergleichen konnten.

Gleichzeitig war die SED-Führung offen vom Kurs der Sowjetunion abgerückt, indem sie zum Beispiel die sowjetische Zeitschrift "Sputnik" von der Postverteilungsliste strich, was einem Verbot gleichkam. Stalinismuskritik und Aufarbeitung der Geschichte, wie sie in Gorbatschows Sowjetunion Einzug hielt, wollte die in die Jahre gekommene Parteiführung in Ost-Berlin nicht dulden. Der Eklat im eigenen Lager war nachrangig im Vergleich mit der Angst vor dem eigenen Machtverlust.

Längst hatten sich jedoch in der DDR oppositionelle Gruppen etabliert, die als kirchliche Bewegungen oder als Teil der Umweltbewegung offen Kritik an den Zuständen in der DDR übten. Dass das SED-Regime immer noch gewaltbereit war, zeigte sich regelmäßig in Razzien und Verhaftungen. Die Praxis der Verhaftung von Regimekritikern unter fadenscheinigen Begründungen mit den "Gummiparagrafen" der DDR-(Unrechts)Justiz und der pragmatische Verkauf von Häftlingen in den Westen, ließ sich angesichts der anwachsenden Proteste nicht mehr durchhalten. Die steigende Zahl der Ausreiseanträge zeigte eine andere Seite der Unzufriedenheit mit den Zuständen in der DDR. Die Undurchlässigkeit der "Mauer" nach Westen schien jedoch den SED-Staat immer noch zu garantieren. Im November 1988 konnten oppositionelle Gruppen in der DDR durch Mahnwachen die Freilassung von politischen Häftlingen erreichen. Selbst innerhalb der SED stieg die Zahl der Unzufriedenen, die nicht unbedingt demokratische Reformen, aber Zukunftsperspektiven vom Politbüro verlangten.

Die Bundeswehr hatte 1988 die wohl größten und erfolgreichsten Manöver ihrer Geschichte hinter sich gebracht. Die unter Bundeskanzler Kohl 1986 gesetzlich beschlossene Verlängerung der Wehrpflicht von 15 Monate auf 18 Monate wurde in der Praxis nicht umgesetzt und die Wehrpflichtigen verließen bereits nach 12 Monaten wieder die Bundewehr. 1989 ging man immer noch von einer einsatzbereiten NVA aus, die anstatt dem westlichen Beispiel der freitäglichen "NATO-Rallye" zu folgen, nicht ihre Kasernen am Wochenende leerte, sondern gefechtsbereit blieb und auf einen Angriff aus dem Westen wartete. Dabei gärte es in der NVA seit längerem. Wie in der übrigen DDR war auch innerhalb der Kasernen die Infrastruktur substanziell gefährdet. Die "Dienst-, Arbeits- und Lebensbedingungen" konnten nicht verbessert werden. Der oft beschworene "Sinn des Soldatseins im Sozialismus" war angesichts der offensichtlichen Dissonanzen im Ostblock auch schwer zu vermitteln. Das strenge System der Gefechtsbereitschaft schien nicht mehr zur politischen Lage zu passen. Die Freiheitsbewegung in Polen, in der Tschechoslowakei und in Ungarn wurden so gut es ging, auch hinter den Kasernenmauern aufmerksam verfolgt.

Die ideologischen Bedrohungsszenarien und die Praxis des Dienstes widersprachen sich zudem in Fragen des Einsatzes in der Wirtschaft. Die Anfang 1989 von Erich Honecker verkündeten Abrüstungsschritte in den Land- und Luftstreitkräften waren mit einer Ausdehnung des Einsatzes von Soldaten in der Volkswirtschaft verbunden worden. So wollte man die NVA um 10 000 Soldaten "abrüsten" - gleichzeitig arbeiteten zu Beginn des Jahres 1989 etwa 10 000 Soldaten ständig in 64 Betrieben der Volkswirtschaft.

Bürgergruppen konnten die SED am 7. Mai 1989 bei den Kommunalwahlen der Wahlfälschung überführen. Die SED geriet zunehmend in die politische Defensive. Die wenig später erfolgte offizielle Unterstützung Chinas durch die DDR-Führung anlässlich des Massakers auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" wurde von der DDR-Bevölkerung als Drohung der SED-Führung gegen die Oppositionsbewegung verstanden. Die Öffnung des "Eisernen Vorhangs" in Ungarn im Sommer 1989 zeigte aber bald den Kontrollverlust der SED. Plötzlich konnte die "Mauer" mit einem Umweg überwunden werden. Von Mitte September bis Ende November gelangten auf diese Art 51 900 DDR-Bürger über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik.

Trotzdem wurde die historische Bedeutung dieser Öffnung zunächst noch gar nicht allgemein erkannt. Für die Soldaten der NVA deutete allerdings ein ministerielles Reiseverbot für Ungarn im September auf die weitere Schwächung des Militärbündnisses hin. In der DDR bildeten sich nun politische Organisationen als Vorläufer von Parteien. Und in den Botschaften der Bundesrepublik, allen voran in Prag, sammelten sich Massen von ausreisewilligen DDR-Bürgern, die auf eine Ausreise in den Westen drängten. Um den Nationalfeiertag der DDR am 7. Oktober 1989 nicht völlig zur Farce verkommen zu lassen, erlaubte man die Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge über die DDR nach Westen. Bei einer der Zugdurchfahrten kam es in Dresden zu Protesten der Bevölkerung, bei denen zum ersten Mal die NVA in "Hundertschaften" mit der Volkspolizei gegen das Volk eingesetzt wurde. Die Angst vor einer gewaltsamen Niederschlagung der Bürgerproteste ("chinesische Lösung") wuchs. Während des Nationalfeiertags der DDR waren über 1 000 Menschen verhaftet worden. Mit dem Verlauf der Großdemonstration in Leipzig am 9. Oktober zeigte sich jedoch, dass die SED angesichts der Massenproteste resigniert hatte. Zudem blieben die sowjetischen "Freunde" in ihren Kasernen und halfen nicht wie 1953. Auf Druck des Politbüros musste Honecker abtreten. Mit den Redebeiträgen während der Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz vom 4. November eroberte sich quasi das "freie Wort" die Straße. Die "Selbstermächtigung" des Volkes hatte eingesetzt. Nun galt es in der "friedlichen Revolution", die Bastille der SED zu stürmen: die "Mauer".

Der 9. November 1989

Am 9. November 1989 waren zu Dienstbeginn an der innerdeutschen Grenze - wie jeden Tag - die Grenztruppen "vergattert" worden. Ihr Auftrag war es, wie der diensthabende Offizier der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße, Major Manfred Sens, rückblickend betonte, "Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, die Ruhe und Ordnung im Grenzgebiet aufrechtzuerhalten, die Ausdehnung von Provokationen auf das Hoheitsgebiet der DDR zu unterbinden, Grenzverletzer festzunehmen bzw. zu vernichten". Das Zentralkomitee der SED tagte unter seinem neuen Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz auch zur Frage der Ausreise. Vielleicht - glaubten einige der SED-Funktionäre - würde dies ja den spürbaren "Druck" aus der politischen Auseinandersetzung mit der Oppositionsbewegung und den Massen der unzufriedenen Bürger auf der Straße nehmen.

Der nur einen Tag vorher zum Sekretär des Zentralkomitees der SED für Informationswesen und Medienpolitik gekürte Günter Schabowski verkündete die neue Regelung für "Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR". Durch dieses legendäre "Versehen" Schabowskis in der abendlichen Pressekonferenz wurde er zum vermeintlichen "Maueröffner". Das Blatt mit dem Beschluss hatte er von Egon Krenz erhalten. Die Ausreise sollte nicht einfach gestattet werden, sondern war erst nach Genehmigung eines Antrags und der Ausstellung eines Visums und eines Reisepasses vorgesehen. Dies hätte aus Sicht des federführenden Innenministeriums und des Ministeriums für Staatssicherheit genug Möglichkeiten geboten, Ausreisen auch zukünftig zu verhindern. Aber die Nachfrage eines Journalisten, ab wann denn die neue Regelung gelten sollte, erwischte Schabowski augenscheinlich auf dem falschen Fuß, und er verkündete wider besseren Wissens und sehr improvisiert: "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich." Nun hätte diese Information sicher keine weiteren Folgen gehabt, und die Regelung wäre offiziell am nächsten Tag um vier Uhr früh in Kraft getreten, wenn nicht die Medienberichterstattung den Startschuss zur glücklichsten Nacht in der neueren deutschen Geschichte gegeben hätte. Die DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" berichtete um 1930 Uhr bereits sehr ungenau, dass "Privatreisen nach dem Ausland [...] ab sofort ohne besondere Anlässe beantragt werden" könnten. Die westdeutsche Nachrichtensendung "Tagesschau", längst Abendritual für DDR-Bürger, begann ihre 20-Uhr-Sendung am 9. November wiederum mit der Sensationsmeldung "DDR öffnet Grenze". Zu diesem Zeitpunkt zogen bereits die ersten Ost-Berliner zu den Grenzübergangsstellen Sonnenallee, Invalidenstrasse und Bornholmer Strasse.

Die "erste Linie" der Berliner Mauer fiel bereits gegen 2100 Uhr. Denn da beschloss der Chef des Stabes der Deutschen Volkspolizei, Generaloberst Karl-Heinz Wagner, dass Bürger, die an den der Mauer vorgelagerten Kontrollpunkten der Volkspolizei auftauchten, einfach durchgelassen werden sollten. Das Problem sollten die von den Grenztruppen geführten Grenzübergangsstellen lösen und die dortigen Passkontrolleinheiten der Staatssicherheit. An der Bornholmer Strasse sahen sich der Major der Grenztruppen Sens und der stellvertretende Leiter der Passkontrolleinheit Oberstleutnant Harald Jäger, einer immer größer werdenden Menschenmenge gegenüber. Später beschrieben sie ihre Stimmung am Abend des 9. Novembers mit der Angst, dass sie allein auf sich gestellt, keine Chance hatten, mit dem vorhandenen Personal und deren Waffen die Grenze geschlossen zu halten. Sie wussten auch von der Presseerklärung Schabowskis.

Die Menge forderte die Öffnung des Schlagbaums, und die Massen stauten sich auf den Straßen immer weiter nach Ost-Berlin hinein. In Bonn tagte der Bundestag zum Thema Vereinsgesetze. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und die Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten Hans-Jochen Vogel und Wolfgang Mischnick, nahmen zu den Ereignissen in Berlin Stellung.

Der emotionale Schluss der Versammlung gegen 2100 Uhr, als die Mehrheit der Abgeordneten das Deutschlandlied anstimmte, machte deutlich, dass nun die Zeit für "Einigkeit und Recht und Freiheit" angebrochen schien. Zu diesem Zeitpunkt war die "Mauer" aber noch geschlossen. Die Staatssicherheit wollte gegen 2120 Uhr mit einer "Ventillösung" einzelne "Provokateure" ausreisen lassen, mit der Absicht diese Personen durch eine Stempelung des Ausweisfotos quasi "heimlich auszubürgern". Damit war jedoch ein nicht mehr aufzuhaltender Strom in Gang gesetzt worden. Mehrmals versuchten die DDR-Medien mit Programmunterbrechungen und Nachrichten die Bevölkerung über die notwendige Beantragung der Ausreisen zu belehren.

Dem Moderator der westdeutschen Spätnachrichtensendung "Tagesthemen" Hanns Joachim Friedrichs, glaubte sein gesamtdeutsches Publikum dagegen eher, als er erklärte: "Die Tore in der Mauer stehen weit offen." Tatsächlich konnte zu diesem Zeitpunkt von weit offenen Toren noch keine Rede sein, aber gegen 2330 Uhr meldete Oberstleutnant Jäger dem Ministerium für Staatssicherheit, dass der Übergang nicht mehr zu halten war. Dem Major der Grenztruppen Sens wurde Folgendes mitgeteilt, was nun den völligen Kontrollverlust an der Grenze bedeutete: "Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!" Schätzungen besagten, dass allein in den ersten 45 Minuten nach dieser Öffnung in der Bornholmer Straße 20 000 Menschen in den Westteil Berlins strömten. Ähnliches spielte sich zeitversetzt auch an anderen Grenzübergangsstellen ab, und bereits zwei Minuten nach Mitternacht waren alle Übergangsstellen zwischen Ost- und West-Berlin geöffnet. Und viele DDR-Bürger kehrten nach einem Bummel im Westen wieder zurück zu ihren Familien oder zur Arbeit. Denn jetzt schien sich ja in der DDR etwas nachhaltig zum Besseren zu wenden.

Mit dem Mauerfall in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 war die Macht der SED endgültig zerbrochen. Doch dass die Gefahr eines Bürgerkriegs noch andauerte, realisierten im Taumel der Gefühle nur wenige. Während in Berlin die Übergangsstellen geöffnet wurden, tagten im Verteidigungsministerium im ländlichen Strausberg, mit dem Kollegium die Spitze der Armee. Anstatt einzugreifen, beschäftigte Verteidigungsminister Heinz Keßler die Spitze der Armee mit langatmigen Ausführungen über die Ergebnisse der ZK-Sitzung vom Tage. Erst am Morgen des 10. November realisierte die Armeeführung, was passiert war und Keßler versuchte Verbände der Landstreitkräfte mit Infanterie und Panzern zum Marsch auf Berlin zu organisieren. Den Anlass gab die angebliche "Besetzung" der "Staatsgrenze" am Brandenburger Tor. Jedoch nicht einmal in seinem Ministerium hatte der SED-Hardliner Keßler noch genügend Rückendeckung. Einzelne Generale hatten bereits in den Tagen zuvor deutliche Veränderungen der SED-Politik angemahnt. Schließlich kam es nicht zur "Nagelprobe" der Treue, denn in einer spontanen und pragmatischen Vereinbarung der Grenztruppen mit der West-Berliner Polizei wurden die vermeintlichen "Grenzprovokationen" im Berliner Zentrum beseitigt.

Die "Orgie der Exekutive"

Nach der "Maueröffnung" versuchte die SED mit der Mehrheit in der Volkskammer ihre Macht zu erhalten. Die neue Regierung unter dem ehemaligen Dresdner Ersten Sekretär der SED, Hans Modrow, stand für eine Fortsetzung der DDR mit sozialistischen Reformen und suchte dabei nach Verbündeten in Frankreich und Österreich, was zu deutlichen Verstimmungen mit Helmut Kohl führte.

Die Beziehungen zur Bundesrepublik wollte Modrow wie die Beziehungen zu Österreich gestalten. Der österreichische Botschafter in Bonn, Friedrich Bauer, erklärte dazu rückblickend: "Wir haben weder gegen die Wiedervereinigung agitiert, noch haben wir sie in einem gewissen Zeitpunkt besonders begrüßt." Die tatsächliche Macht in Ost-Berlin ging im Winter 1989 auf den "Runden Tisch" über, der nach dem polnischen Beispiel Parteien und Oppositionsbewegungen zu einem gemeinsamen Handeln befähigen sollte. Wollten Teile des DDR-Parteienspektrums durchaus noch die DDR als Staat weiterführen, hatte Helmut Kohl bereits am 28. November 1989 für die Bundesrepublik mit dem "Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas" deutlich gemacht, dass der Weg zur nationalen Einheit frei war.

Mit dem "Modrow-Gorbatschow-Plan für die Neutralität eines vereinigten Deutschlands" wurde Anfang 1990 ein Konkurrenzvorschlag für eine deutsche blockfreie, demilitarisierte Konföderation ins Gespräch gebracht. Österreich, das als Vorbild eines solchen neutralen Staates genannt wurde, erklärte sich durch Außenministers Alois Mock entschieden zum Befürworter der Einheit ohne Bedingungen.

Auch international wich die Angst vor einem neuen Deutschland. Aber erst der Wahlsieg der von der Ost-CDU geführten "Allianz für Deutschland" am 18. März 1990 sorgte für die notwendigen Mehrheiten in der Volkskammer der DDR, um den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu beschließen. Die Verhandlungen zur deutschen Einheit wurden von Zeitzeugen als eine "Orgie der Exekutive" beschrieben. Dies bezog sich darauf, dass für die vielen rechtlichen Änderungen eine langwierige Prüfung durch die Parlamente in der Bundesrepublik und der DDR kaum möglich gewesen war.

Insofern war der "Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" mit viel Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik verbunden, die man ja zumindest aus den Medien zu kennen glaubte. Parallel dazu hatten die ostdeutschen Länder durch den deutschen Föderalismus durchaus einen eigenen Spielraum mit eigenen Landesverfassungen und bundesstaatlichen Strukturen erhalten.

Die Zukunft der NVA war bis zum Sommer 1990 unklar. Lange Zeit sah es so aus, als würden auf dem Boden der Bundesrepublik zwei Armeen - die Bundeswehr und die NVA - parallel existieren können. Das Juli-Treffen von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Kaukasus brachte die Entscheidung. Ein vereinigtes Deutschland konnte so Mitglied der NATO bleiben. Für eine Weiterexistenz der NVA, um sowjetischen Sicherheitserwägungen zu genügen, bestand kein Bedarf. Die NVA führte am 20. Juli 1990, dem Jahrestag des "Aufstands des Gewissens" von 1944, als Zeichen der mittlerweile vollzogenen Reformen einen neuen Eid ein und bekannte sich so auch zu rechtsstaatlichen Traditionen.

Aus der Parteiarmee war die Armee eines demokratischen Staates geworden. Parallel bereiteten sich Soldaten aus beiden deutschen Armeen auf die Einheit vor. Anders als im Auswärtigen Amt war jedoch klar, dass in der Bundeswehr der Zukunft, Soldaten aus beiden Teilen Deutschlands vertreten sein sollten. Es galt die "innere Einheit" zu vollenden. Aber auch für die Bundeswehr stellten sich neue Fragen. Wie sollte die Sicherheitspolitik nach dem Ende der Blockkonfrontation aussehen? Man hatte zwar kein Feindbild gepflegt, aber ein veritabler Gegner war abhanden gekommen. Es galt zunächst den gewaltigen Umbruch in Osteuropa politisch zu bewältigen. Deutschland musste zudem zeigen, dass es auch in seiner neuen Gestalt ein verlässlicher europäischer Partner in der NATO war. Westbindung, Berechenbarkeit, Beständigkeit und das Interesse an Abrüstung und Stärkung internationaler Organisationen sollten die Kennzeichen deutscher Politik auf dem Weg in die westeuropäische "Normalisierung" sein. Der politische Zerfall auf dem Balkan und die Probleme in Afrika sollten später zu den ersten Herausforderungen des souveränen Deutschlands werden.

Am 2. Oktober 1990, 2400 Uhr, hörte die NVA auf zu existieren. Am 3. Oktober um 0000 Uhr begann die Geschichte der "Armee der Einheit" - eines gesamtdeutschen Abenteuers, das seinen eigenen Platz in der Geschichte der Bundeswehr hat.


Autor: Heiner Bröckermann, M.A., Major, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr in Potsdam, Forschungsbereich Militärgeschichte der DDR. Diensteintritt 1986, Unteroffizier und Offizier der Fernmeldetruppe für Elektronische Kampfführung. Studium der Geschichte, Sozialwissenschaften und evangelischen Sozialethik an der Universität der Bundeswehr Hamburg und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nach dem Studium in verschiedenen Verwendungen der Fernmeldetruppe des Heeres. 1996/97 Auslandseinsatz SFOR in Bosnien und Herzegowina. Kompaniechef in Sigmaringen und Potsdam. Dozent für Militärgeschichte an der Offizierschule des Heeres in Dresden.

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