Westeuropäische Union (WEU)
Die WEU und der europäische Integrationsprozess.Geschichtliche Entwicklung und die Zukunftsperspektiven.
Die Gründung der Westeuropäischen Union (WEU) als kollektiver Beistandspakt erfolgte am 23. Oktober 1954. An diesem Tag unterzeichneten Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, die Niederlande und Großbritannien die sogenannten „Pariser Verträge“, welche im Mai 1955 in Kraft traten.
Die „Westunion“
Hervorgegangen war die WEU aus der „Westunion“. Im März 1948 schlossen Großbritannien, Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande den „Vertrag über Zusammenarbeit in wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten und zur kollektiven Selbstverteidigung“, den sogenannten „Brüsseler Pakt“. Die „Westunion“ war damit geboren.Der Pakt von Dünkirchen
Dieser Brüsseler Pakt hatte seinen historischen Ursprung im Pakt von Dünkirchen. Frankreich und Großbritannien schlossen diesen am 4. März 1947 („Treaty of alliance and mutual assistance“).Historische Hintergründe
Sowohl der Pakt von Dünkirchen als auch der Brüsseler Pakt waren formal gegen Deutschland gerichtet. Der Pakt von Dünkirchen sah eine Verteidigungspflicht Großbritanniens gegenüber Frankreich vor im Falle, „dass Deutschland eine Angriffspolitik einschlägt oder irgendeine Initiative ergreift, die eine solche Politik möglich macht.“ (britisch-französischer Allianzvertrag vom 4. März 1947).Der Brüsseler Pakt sah ebenso vor „alle Schritte zu unternehmen, die sich für den Fall der Erneuerung einer deutschen Aggressionspolitik als notwendig erweisen.“ Gleichzeitig richtete sich der Brüsseler Pakt jedoch implizit auch gegen die Sowjetunion, indem er eine Beistandsverpflichtung gegen jeden bewaffneten Angriff in Europa enthielt. Dies wurde von der Sowjetunion sofort erkannt: Unmittelbar nach Unterzeichnung des Brüsseler Paktes, am 20. März 1948, zog die Sowjetunion aus dem Alliierten Kontrollrat aus.
Der WEU-Vertrag
Als „Kernstück“ des WEU-Vertrages wird in der Fachliteratur die automatische militärische Beistandsverpflichtung (Artikel V) bezeichnet. Diese Beistandsverpflichtung besagt: „Sollte einer der Hohen Vertragschließenden Teile das Ziel eines bewaffneten Angriffs in Europa werden, so werden ihm die anderen Hohen Vertragschließenden Teile im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten.“Fehlende Militärstruktur der WEU
Diese WEU-Beistandsklausel des Artikel V blieb jedoch ohne realpolitische Bedeutung. Denn eine eigenständige WEU-Militärstruktur wurde deshalb nicht geschaffen, weil alle WEU-Mitgliedsstaaten zugleich auch NATO-Mitglieder waren (die Gründung der NATO erfolgte am 4. April 1949 in Washington D.C.).Der Artikel IV des WEU-Vertrages erklärte auch ausdrücklich den Aufbau einer militärischen Parallelorganisation zu den militärischen NATO-Stäben als unerwünscht.
Dieser Artikel IV des WEU-Vertrages (Zusammenarbeit mit der NATO) besagt: „Bei der Durchführung des Vertrags arbeiten die Hohen Vertragschließenden Teile und alle von ihnen im Rahmen des Vertrags geschaffenen Organe eng mit der Organisation des Nordatlantikvertrags zusammen.
Da der Aufbau einer Parallelorganisation zu den militärischen NATO-Stäben unerwünscht ist, sind der Rat und sein Amt in militärischen Angelegenheiten hinsichtlich Auskunftserteilung und Beratung auf die zuständigen militärischen NATO-Stellen angewiesen.“
Die NATO und nicht die WEU entwickelte sich als militärpolitisches „Gegenstück“ zur europäischen wirtschaftlichen und politischen Einigung im Rahmen der EG/EU.
Die WEU-Mitgliedsstaaten
Gegenwärtig umfasst die WEU zehn Mitgliedsstaaten: Zu den Gründungsmitgliedern Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Großbritannien kamen 1995 Griechenland, 1988 bis 1990 Spanien und Portugal hinzu. Beobachterstatus in der WEU haben Österreich (seit 1995), Dänemark, Finnland, Irland und Schweden.Assoziierte Mitglieder der WEU sind: Die Tschechische Republik, Ungarn, Island, Norwegen, Polen und die Türkei. Assoziierte Partner der WEU sind Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien.
Aufwertung der WEU: Der EU-Vertrag von Maastricht
Eine neue politische Dimension erhielt die WEU im EU-Vertrag von Maastricht (unterzeichnet am 7. Februar 1992). Im Vertrag von Maastricht wurde der Schritt zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU vollzogen.Art. 2 des EU-Vertrages von Maastricht sieht das Ziel der EU in der „Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene, insbesondere durch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wozu ...auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigung gehört“.
In das Anwendungsgebiet der GASP fallen „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen.“ (Art. 17, Abs.2 des EU-Vertrages.)
Europäischer Pfeiler der Atlantischen Allianz
In der als Anlage in den EU-Vertrag von Maastricht eingegangenen „Erklärung zur Westeuropäischen Union“ wird festgelegt, dass sich die WEU „stufenweise zur Verteidigungskomponente der Europäischen Union“ und zugleich zum „Mittel zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Atlantischen Allianz“ entwickeln solle. Seit dem Vertrag von Maastricht ist die WEU integraler Bestandteil der Entwicklung der EU.WEU und EU
Im Artikel J.4 des Vertrages von Maastricht wird die funktionale Hinordnung der WEU zur EU folgend bestimmt:- „Die WEU wird integraler Bestandteil des Prozesses der Entwicklung der Europäischen Union sein“.
- Die WEU soll „eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik formulieren“.
- Die WEU hat auf Ersuchen der EU Entscheidungen und Aktionen, „die verteidigungspolitische Bezüge haben, auszuarbeiten und durchzuführen“.
Im Vertrag von Amsterdam (1997) wurde die WEU noch enger an die EU gebunden: Es wird festgehalten, dass die WEU mit ihren operativen Fähigkeiten von der EU „in Anspruch“ genommen werden kann.
Ungeachtet der institutionellen Verkoppelung von WEU und EU wurde folgende Aufgabenteilung festgelegt: Die militärische Beistandsverpflichtung fällt der WEU zu, der EU sind Krisenmanagementaufgaben übertragen.
Militärische Basis der EU
Der Europäische Rat von Helsinki (Dezember 1999) hat über die militärische Basis der EU entschieden: Bis zum Jahr 2003 sollen die EU-Mitgliedsstaaten Kontingente für eine Eingreiftruppe im Umfang von bis zu 60 000 Mann, verlegbar innerhalb von 60 Tagen und befähigt ein Jahr am Einsatzort zu verbleiben, zur Verfügung stellen.In der Anlage IV zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Helsinki ist festgehalten: „Durch die Förderung und Konzertierung des militärischen und nichtmilitärischen Krisenreaktionsinstrumentariums wird die Union in die Lage versetzt, auf die gesamte Palette der Möglichkeiten, die von diplomatischen Aktivitäten, humanitärer Hilfe und wirtschaftlichen Maßnahmen bis hin zu nichtmilitärischen Polizeieinsätzen und militärischen Operationen zur Krisenbewältigung reicht, zurückzugreifen.“ Die Aufgaben der Union sind folgend beschrieben: „Stabilitätsförderung, Frühwarnung, Konfliktverhütung, Krisenbewältigung und Wiederaufbau nach Konfliktende.“
Die Petersberg-Aufgaben
Bis Ende 2003 soll die (vom Europäischen Rat in Helsinki beschlossene) EU-Eingreiftruppe in der Lage sein, die Petersberg-Aufgaben durchzuführen. 1992 wurden diese Petersberg-Aufgaben im Rahmen der WEU festgelegt:- Humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze,
- friedenserhaltende Aufgaben und
- Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen.
Konsequenzen für Österreich
Anlässlich der Ratifizierung des Vertrages über den Beitritt Österreichs zur EU wurde der Artikel 23f in die österreichische Bundesverfassung aufgenommen.Hiermit ist bestimmt, dass eine Teilnahme Österreichs an der GASP verfassungsrechtlich keine Beschränkung durch das Neutralitätsgesetz erfährt.
Das österreichische Bundesheer wird bis zum Jahr 2003 ein kampftaugliches Infanteriebataillon für Friedenserzwingung, ein Infanteriebataillon für Friedenserhaltung sowie kleinere Spezialeinheiten im Rahmen der europäischen Solidarität bereitstellen.
Dr. Brigitte Sob, MWB